RUDOLF STEINER GES AMTAUSG ABE
SCHRIFTEN
RUDOLF STEINER
DIE RATSEL
DER PHILOSOPHIE
IN IHRER GESCHICHTE ALS UMRISS D ARGESTELLT
1985
RUDOLF STEINER VERLAG
DORNACH/SCHWEI2
Herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung
Dornach/Schweiz
1. Auflage, Berlin o.J. (1914)
9. Auflage, Gesamtausgabe Dornach 1985
Detaillierter bibliographischer Nachweis
aller Veroffentlichungen auf Seite 628
Bibliographie-Nr. 18
Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung,
Dornach/Schweiz
© 1968 by Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/Schweiz
Printed in Germany by Konkordia Druck GmbH, Buhl/Baden
ISBN 3-7274-01 80-X
INHALT DES ERSTEN BANDES
Vorrede zur Neuauflage 1924 7
Vorrede zur Neuauflage 1918 12
Vorrede 1914 17
Zur Orientierung iiber die Leitlinien der Darstellung 23
Die Weltanschauung der griechischen Denker .... 35
Das Gedankenleben vom Beginn der christlichen
Zeitrechnung bis zu Johannes Scotus oder Erigena 85
Die Weltanschauungen im Mittelalter 91
Die Weltanschauungen des jiingsten Zeitalters der
Gedankenentwickelung 101
Das Zeitalter Kants und Goethes 137
Die Klassiker der Welt- und Lebensanschauung . . . 212
Reaktionare Weltanschauungen 256
Die radikalen Weltanschauungen 286
INHALT DES ZWEITEN BANDES
Einleitende Bemerkungen zur Neuauflage 1914 ... 321
Der Kampf um den Geist 327
Darwinismus und Weltanschauung 382
Die Welt als Illusion 422
Nachklange der Kantschen Vorstellungsart 472
Weltanschauungen der wissenschaftlichen
Tatsachlichkeit 483
Moderne idealistische Weltanschauungen 503
Der moderne Mensch und seine Weltanschauung . . 536
Skizzenhaft dargestellter Ausblick auf eine
Anthroposophie 594
Korrekturhinweis und Bibliographischer Nachweis 628
Nachweis der Zitate fur Band I und II 629
Namen-Register fur Band I und II 687
Ubersicht iiber die Rudolf Steiner Gesamtausgabe . . 695
VORREDE 2UR NEUAUFLAGE 1924
Als ich 19 14 mein Budi «Welt- und Lebensanschauun-
gen im neunzehnten Jahrhundert» beim Erscheinen der
zweiten Auflage zu dem hier vorliegenden «Die Ratsel der
Philosophic » erweiterte, wollte idi zeigen, was von den
geschiditlich aufgetretenen Weltanschauungen sich fiir den
heutigen Beobachter so darstellt, dafi dessen eigenes Emp-
finden beim Auftauchen der philosophischen Ratsel im
Bewufitsein sidh. vertiefen kann an dem Empfinden, das
die in der Zeitenfolge auftauchenden Denker iiber diese
Ratsel gehabt haben. Eine solche Vertiefung hat fiir den
philosophisch Ringenden etwas Befriedigendes. Was seine
eigene Seele erstrebt, gewinnt an Kraft dadurch, dafi er
sieht, wie sich in Menschen, denen das Leben Gesichts-
punkte angewiesen hat, die dem seinigen nahe oder fern
liegen, dieses Streben gestaltet hat. In soldier Art wollte
idi mit dem Buche denen dienen, die eine Darstellung des
Werdens der Philosophic brauchen als Erganzung der
eigenen Gedankenwege.
Nach einer solchen Erganzung wird derjenige verlan-
gen, der sich auf dem eigenen Gedankenwege eins fiihlen
mochte mit der Geistesarbeit der Menschheit. Der sehen
mochte, da£ seine Gedankenarbeit ihre Wurzel in einem
ganz allgemeinen menschlichen Seelenbediirfnis hat. Er
kann das sehen, wenn das Wesentliche der geschichtlichen
Weltanschauungen vor seinem Blicke aufsteigt.
Doch hat fiir viele Betrachter ein solches Aufsteigen et-
was Beklemmendes. Es drangt ihnen Zweifel in die Seele.
Sie sehen, wie die aufeinander folgenden Denker im Wi-
dersp ruche mit vorangehenden oder nachfolgenden stehen.
Idi wollte so darsteWen, dafi dieses Beklemmende durch
ein anderes ausgeloscht wird. Man betrachtet zwei Den-
ker. Fiir den ersten Blick fallt der Widerspruch, in dem
sie stehen, peinlich auf. Man tritt ihren Gedanken naher.
Man findet, dafi der eine die Aufmerksamkeit auf ein ganz
anderes Gebiet der Welt lenkt als der andere. Angenom-
men, der eine habe in sich die Seelenstimmung ausgebildet,
die die Aufmerksamkeit auf die Art lenkt, wie Gedanken
im inneren Weben der Seele sich entfalten. Fiir ihn wird
es zum Ratsel, daft dieses innere Seelengeschehen im Er-
kennen entscheidend iiber das Wesen der Aufienwelt wer-
den soil. Dieser Ausgangspunkt gibt semem ganzen Den-
ken die Farbung. Er wird in kraftvoller Art von dem
schopferischen Gedankenwesen sprechen. Das wird alles,
was er sagt, in idealistischer Art farben. Ein anderer lenkt
den Blick auf das aufiere sinnenfallige Geschehen. Die Ge-
danken, durch die er dieses Geschehen erkennend erfafit,
treten gar nicht in ihrer selbstandigen Kraft in sein Be-
wufitsein. Er wird den Weltenratseln eine Wendung ge-
ben, die sie in den Bereich fiihrt, in dem die Weltgrund-
lage selbst ein an die Sinneswelt erinnerndes Aussehen hat.
Man kann, wenn man mit Voraussetzungen an das ge-
schichtliche Werden der Weltanschauungen herangeht, die
sich aus einer solchen Gedankenorientierung ergeben, iiber
das Vernichtende, das diese Weltanschauungen fiireinan-
der zeigen, sich erheben und ein sich gegenseitig Tragen-
des in ihnen erblicken.
Hegel und Haeckel, nebeneinander betrachtet, stellen
zunachst den vollkommensten Widerspruch dar. Vertieft
man sich in Hegel, so kann man mit ihm den Weg gehen,
der einem ganz in Gedanken lebenden Menschen vorge-
zeichnet ist. Er fuhlt den Gedanken wie etwas, das ihm
das eigene Wesen zu einem wirklicheh macht. Sieht er sich
der Natur gegeniiber, so fragt er sich, welches Verhaltnis
hat sie zur Gedankenwelt? Man wird mitgehen konnen,
wenn man das relativ Berechtigte und Fruchtbare einer
solchen Seelenstimmung empfindet. Vertieft man sich in
Haeckel, so kann man wieder ein Stuck des Weges mit ihm
gehen. Er kann nur sehen, wie das Sinnenfallige ist und
sich wandelt. In diesem Sein und Sich-Wandeln fiihlt er,
was ihm Wirklichkeit sein kann. Er ist nur befriedigt,
wenn er den ganzen Menschen bis herauf zur Denktatig-
keit in dieses Sein und Sich-Wandeln einreihen kann. Mag
nun Haeckel in Hegel einen Menschen sehen, der luftig-
wesenlose BegrifFe ohne Riicksicht auf die WirkKchkeit
spinnt; mochte Hegel, wenn er Haeckel erlebt hatte, in
ihm eine Personlichkeit gesehen haben, die gegeniiber dem
wahren Sein mit Blindheit geschlagen ist: wer sich in bei-
der Denkungsart vertiefen kann, wird bei Hegel die Mog-
lichkeit flnden, die Kraft des eigentatigen Denkens zu star-
ken, bei Haeckel die andere, zwischen entfernten Bildun-
gen der Natur Beziehungen gewahr zu werden, die bedeu-
tungsvolle Fragen an das menschliche Denken stellen. So
nebeneinander gestellt konnen Hegel und Haeckel, anein-
ander gemessen, nicht in beklemmende Zweifel fiihren,
sondern erkennen lassen, aus wie verschiedenen Ecken her
das Leben sprielk und sprofit.
Aus solchen Untergriinden heraus ist die Haltung mei-
ner Darstellung geworden. Ich wollte die Widerspruche
in der Entwickelungsgeschichte derWeltanschauungen nicht
verdunkeln; aber ich wollte audi in dem Widersprechen-
den das Geltende aufzeigen.
Dafi ich Hegel und Haeckel in diesem Buche so behandle,
daB bei beiden das hervortritt, was positiv und nicht negativ
wirkt, kann mir - nach meiner Ansicht - nur derjenige als
eine Verirrung vorwerfen, der die Fruditbarkeit einer sol-
chen Behandlung des Positiven nicht einzusehen vermag.
Nun nur noch einige Worte iiber etwas, das sich zwar
nicht auf das in dem Buche Dargestellte bezieht, das aber
dodi mit ihm zusammenhangt. Es ist dies Buch eine der-
jenigen meiner Arbeiten, die von Personlichkeiten, welche
in dem Fortgang meiner eigenen Weltanschauungsent-
wickelung Widerspriiche finden wollen, als Beispiel ange-
fiihrt wird. Obwohl ich weift, daft diesen Vorwiirfen zu-
meist etwas ganz anderes zugrunde liegt als das Suchen
nach Wahrheit, so will ich doch weniges iiber sie sagen.
Es wird behauptet, es sehe das Kapitel iiber Haeckel in
diesem Buche so aus, als ob es ein orthodoxer Haeckelianer
geschrieben hatte. Nun, wer das in demselben Buche iiber
Hegel Gesagte liest, wird es zwar schwer haben, seine Be-
hauptung aufrechtzuhalten. Aberes sieht, obenhin betrach-
tet, so aus, als ob ein Mensch, der so iiber Haeckel geschrie-
ben hat wie ich in diesem Buche, spater eine vollige Geistes-
wandlung durchgemacht haben miiftte, wenn er dann Bii-
cher verofiFentlicht wie «Wie erlangt man Erkenntnisse der
hoheren "Welten», «Geheimwissenschaft» usw.
Diese Sadie wird aber nur richtig angesehen, wenn man
bedenkt, daft die scheinbar den friiheren widersprechenden
spateren Werke aus einer geistigen Anschauung der geisti-
gen "Welt hervorgegangen sind. Wer eine solche Anschau-
ung haben oder sich bewahren will, der muft die Fahigkeit
entwickeln, sich in alles Betrachtete ganz objektiv, mit
Unterdriickung der eigenen Sympathien und Antipathien,
versetzen zu konnen. Er muft wirklich, wenn er die Haek-
kelsche Denkungsart darstellt, in dieser aufgehen konnen.
Gerade aus diesem Aufgehen in anderes schopft er die
Fahigkeit der geistigen Anschauung. Die Art meiner Dar-
stellung der einzelnen Weltanschauungen hat ihre Ur-
sachen in meiner Orientierung nadi einer geistigen An-
schauung hin. Wer iiber den Geist nur theoretisieren will,
der braudit nie in die materialistisdie Denkungsart sich
versetzt zu haben. Er kann sidi damit begniigen, alle be-
rechtigten Griinde gegen den Materialismus vorzubringen
und seine Darstellung dieser Denkungsart so zu halten,
dafi diese ihre unberechtigten Seiten enthiillt. - Wer gei-
stige Anschauung betatigen will, kann das nicht. Er mufi
mit dem Idealisten idealistisdi, mit dem Materialisten ma-
terialistisdi denken konnen. Denn nur dadurdi wird in
ihm die Seelenfahigkeit rege, die sidi in der geistigen An-
schauung betatigen kann.
Nun konnte man noch sagen: durch eine solche Behand-
lungsart verliere der Inhalt eines Buches seine Einheit-
Hchkeit. Es ist dies nicht meine Ansicht. Man stellt histo-
risch urn so treuer dar, je mehr man die Erscheinungen
selbst sprechen lafit. Den Materialismus bekampfen oder
zum Zerrbild machen, kann nicht die Aufgabe einer ge-
schichtlichen Darstellung sein. Denn er hat seine einge-
sdirankte Berechtigung. Man ist nicht auf falscher Fahrte,
wenn man die materiell bedingten Vorgange der Welt
materialistisch darstellt; man gelangt erst dahin, wenn
man nicht zur Einsicht gelangt, dafi die Verfolgung der
materiellen Zusammenhange zuletzt zur Anschauung des
Geistes fuhrt. Behaupten, das Gehirn sei nicht Bedingung
des auf Sinnenfalliges sich beziehenden Denkens, ist eine
Verirrung; eine weitere Verirrung ist, dafi der Geist nicht
der Sdiopfer des Gehirns sei, durch das er in der physi-
schen Welt sich in Gedankenbildung offenbart.
Goetheanum in Dornach bei Basel
NoYember 1923 Rudolf Steiner
VORREDE 2UR NEUAUFLAGE 1918
Die Gedanken, aus denen die Darstellung dieses Buches
entsprungen und von denen sie getragen ist, habe idi in
der hier folgenden «Vorrede» angedeutet. Ich mochte dem
damals Gesagten einiges hinzufugen, das mit einer Frage
zusammenhangt, die bei demjenigen mehr oder weniger
bewuftt in der Seele lebt, der zu einem Buche uber «Die
Ratsel der Philosophie» greift. Es ist diejenige der Bezie-
hung philosophischer Betrachtung zu dem unmittelbaren
Leben. Jeder philosophische Gedanke, der nicht von die-
sem Leben selbst gefordert wird, ist zur Unfruchtbarkeit
verurteilt, audi wenn er diesen oder jenen Menschen, der
eine Neigung zum Nachsinnen hat, eine Weile anzieht.
Ein fruditbarer Gedanke mujS seine "Wurzel in den Ent-
wickelungsvorgangen haben, die von der Menschheit im
Verlaufe ihres geschichtlichen Werdens durchzumachen
sind. Und wer die Geschichte der philosophischen Gedan-
kenentwickelung von irgendeinem Gesichtspunkte aus dar-
5tellen will, der kann sich nur an solche vom Leben gefor-
derte Gedanken halten. Es miissen das Gedanken sein, die
iibergefuhrt in die Lebenshaltung den Menschen so durch-
dringen, dafi er an ihnen Krafte hat, die seine Erkenntnis
leiten, und die ihm bei den Aufgaben seines Daseins Be-
rater und Heifer sein konnen. Weil die Menschheit solche
Gedanken braucht, sind philosophische Weltanschauungen
entstanden. Konnte man das Leben meistern ohne solche
Gedanken, so hatte nie ein Mensch eine wahrhaft innere
Berechtigung gehabt, an die « Ratsel der Philosophic » zu
denken. Ein Zeitalter, das solchem Denken abgeneigt ist,
zeigt dadurch nur, dafi es kein Bediirfnis empfindet, das
Menschenleben so zu gestalten, dafi dieses wirklich nach
alien Seiten seinen Aufgaben gemafi zur Erscheinung
kommt. Aber diese Abneigung racht sich. im Laufe der
mensdilidien Entwickelung. Das Leben bleibt verkiimmert
in solchen Zeitaltern. Und die Menschen bemerken die
Verkummerung nicht, weil sie von den Forderungen nichts
wissen wollen, die in den Tiefen des Menschenwesens doch
vorhanden bleiben und die sie nur nicht erfiillen. Ein fol-
gendes Zeitalter bringt die Nichterfiillung zum Vorschein.
Die Enkel finden in der Gestaltung des verkummerten Le-
bens etwas vor, das ihnen die Unterlassung der Grofivater
angerichtet hat. Diese Unterlassung der vorhergehenden
Zeit ist zum unvollkommenen Leben der Folgezeit ge-
worden, in das sich diese Enkel hineingestellt finden. Im
Lebensganzen mufi Philosophic walten; man kann gegen
die Forderung siindigen; aber die Siinde mufi ihre Wir-
kungen hervorbringen.
Den Gang der philosophischen Gedankenentwickelung,
das Vorhandensein der «Ratsel der Philosophie» versteht
man nur, wenn man die Aufgabe empfindet, welche die
philosophische Weltbetrachtung fur ein ganzes, voiles
Menschendasein hat. Und aus einer solchen Empfindung
heraus habe ich iiber die Entwickelung der «Ratsel der
Philosophie» geschrieben. Ich habe durch die Darstellung
dieser Entwickelung versucht, anschaulich zu machen, daft
diese Empfindung eine innerlich berechtigte ist.
Von vornherein wird sich bei manchem gegen diese Emp-
findung etwas hemmend auf drangen, das den Schein einer
Tatsache an sich tragt. Die philosophische Betrachtung soli
eine Lebensnotwendigkeit sein: und doch gibt das mensch-
liche Denken im Laufe seiner Entwickelung nicht eindeu-
tige, sondern vieldeutige, scheinbar sich ganz widerspre-
chende Losungen der «Ratsel der Philosophie». Geschicht-
liche Betrachtungen, weldie die sich auf drangenden Wider-
spriiche durch eine aufierliche Entwickelungsvorstellung
begreiflich madien mochten, gibt es viele. Sie iiberzeugen
nidit. Man mufi die Entwickelung selbst viel ernster neh-
men, als dies gewohnlich der Fall ist, wenn man sidi auf
diesem Felde zurechtfinden will. Man mufi zu der Einsicht
kommen, dafi es keinen Gedanken geben kann, der all-
umfassend die Weltenratsel ein fiir allemal zu losen im-
stande ist. Im menschlichen Denken ist es vielmehr so, daft
eine gefundene Idee bald wieder zu einem neuen Ratsel
wird. Und je bedeutungsvoller die Idee ist, je mehr sieLicht
wirft fiir ein bestimmtes Zeitalter, desto ratselhafter,
desto fragwiirdiger wird sie in einem folgenden Zeitalter.
Wer die Gesdbidite der menschlichen Gedankenentwicke-
lung von einem wahrhaf ten Gesichtspunkte aus betrachten
will, der mufi die Gro£e der Idee ernes Zeitalters bewun-
dern konnen und imstande sein, die gleiche Begeisterung
dafiir aufzubringen, diese Idee in ihrer Unvollkommen-
heit in einem folgenden Zeitalter sich offenbaren zu sehen.
Er mufi auch imstande sein, von der Vorstellungsart, zu
der er sich selbst bekennt, zu denken, daft sie in der Zu-
kunft durch eine ganz andere abgelost wer den wird. Und
dieser Gedanke darf ihn nicht beirren, die «Richtigkeit»
der von ihm errungenen Anschauung voll anzuerkennen.
Die Gesinnung, welche vorangegangene Gedanken als un-
vollkommene durch die in der Gegenwart zutage treten-
den «vollkommenen» abgetan wahnt, taugt nicht zumVer-
stehen der philosophischen Entwickelung der Menschheit.
Ich habe versucht, durch das Erfassen des Sinnes, den es
hat, dafi ein folgendes Zeitalter philosophisch das voran-
gehende widerlegt, den Gang der menschlichen Gedanken-
entwickelung zu begreifen. Welche Ideen ein solches Er-
fassen zeitigt, habe ich in den einleitenden Ausfiihrungen
«2ur Orientierung uber die Leitlinien der Darstellung»
ausgesprochen. Diese Ideen sind soldie, die naturgemafi
auf mannigfaltigen Widerstand stolen miissen. Sie wer-
den bei einer ersten Betrachtung so erscheinen, als ob idi
sie als «Einfall» erlebt hatte und durch sie die ganze Dar-
stellung der Philosophiegeschichte in phantastiscber Art
vergewaltigen wollte. Ich kann nur hoffen, dafi man doch
finden werde, diese Ideen seien nicht vorher ausgedacht
und dann der Betrachtung des philosophischen Werde-
gangs aufgedrangt, sondern sie seien so gewonnen, wie der
Naturforscher seine Gesetze findet. Sie sind aus der Be-
obachtung der philosophischen Gedankenentwickelung her-
ausgeflossen. Und man hat nicht das Recht, die Ergebnisse
einer Beobachtung zuriickzuweisen, weil sie Vorstellungen
widersprechen, die man aus irgendwelchen Gedankennei-
gungen ohne Beobachtung fur richtig halt. Der Aberglaube
- denn als soldier zeigen sich solche Vorstellungen dafi
es im geschichtlichen Werden der Menschheit Krafte nicht
geben konne, die sich in zu begrenzenden Zeitaltern auf
eine eigentumliche Art offenbaren und die in sinn- und
gesetzgemafier Weise das Werden der menschlichen Ge-
danken lebensvoll beherrschen, er wird meiner Darstel-
lung entgegenstehen. Denn diese war mir aufgezwungen,
weil mir die Beobachtung dieses "Werdens das Vorhanden-
sein soldier Krafte bewiesen hat. Und weil diese Beobach-
tung mir gezeigt hat, dafi Philosophiegeschichte erst dann
eine Wissenschaft wird, wenn sie vor der Anerkennung
soldier Krafte nicht zuriickschreckt.
Mir scheint, da£ nur moglich 1st, in der Gegenwart eine
Stellung zu den «Ratseln der Philosophie» zu gewinnen,
die fur das Leben fruchtbar ist, wenn man diese die ver-
gangenen Zeitaker beherrschenden Krafte kennt. Und
mehr als bei einem anderen Zweige geschichtlicher Betrach-
tung ist es bei einer Geschichte der Gedanken das einzig
Mogliche, die Gegenwart aus der Vergangenheit hervor-
wachsen zu lassen. Denn in dem Ergreifen derjenigen
Ideen, die den Anforderungen der Gegenwart entsprechen,
liegt die Grundlage fur diejenige Einsicht, die iiber das
Vergangene das rechte Licht ausbreitet. Wer nidit vermag,
einen den Triebkraften seines eigenen Zeitalters wahrhaft
angemessenen Weltanschauungsgesichtspunkt zu gewin-
nen, dem mull audi der Sinn des vergangenen Geisteslebens
verborgen bleiben. Ich will hier nicht entscheiden, ob auf
einem anderen Gebiete geschichtlicher Betrachtung eine
Darstellung fruchtbar sein kann, der nicht wenigstens eine
Ansicht iiber die Verhaltnisse der Gegenwart auf dem ent-
sprechenden Gebiete zugrunde liegt. Auf dem Felde der
Gedankengeschichte kann aber eine solche Darstellung nur
unfruchtbar sein. Denn hier mufi das Betrachtete unbe-
dingt mit dem unmittelbaren Leben zusammenhangen.
Und dieses Leben, in dem der Gedanke Lebenspraxis
wird, kann nur dasjenige der Gegenwart sein.
Damit mochte ich die Empfindungen gekennzeichnet
haben, aus denen heraus diese Darstellung der «Ratsel der
Philosophie» erwachsen ist. An dem Inhalte des Buches
etwas zu andern oder ihm etwas hinzuzufiigen, dazu gibt
der kurze Zeitraum seit dem Erscheinen der letzten Auf-
lage keine Veranlassung.
Mai 19 1 8
Rudolf Steiner
VORREDE 1914
Es war nicht meine Empfmdung, ein «Gelegenheitsbudi»
zum Anfange des Jahrhunderts zu schreiben, als ich an
die Darstellung der «WeIt- und Lebensanschauungen im
neunzehnten Jahrhundert» ging, die 190 1 erschienen ist.
Die Einladung, diesen Beitrag zu einem Sammelwerke zu
liefern, bildete fiir midi nur den aufieren Anstofi, Ergeb-
nisse iiber die philosophische Entwickelung seit Kants Zeit-
alter zusammenzufassen, die ich seit lange fiir mich ge-
wonnen hatte und deren Veroffentlichung ich anstrebte.
Als eine Neuauflage des Buches notwendig geworden war,
und ich mir seinen Inhalt wieder vor die Seele treten liefi,
drangte sich mir die Erkenntnis auf, daft durch eine we-
sentliche Erweiterung der damals gegebenen Darstellung
erst vollig anschaulich werden kann, was durch sie hatte
angestrebt werden sollen. Ich beschrankte mich damals auf
die Charakteristik der letzten hundertdreifiig Jahre philo-
sophischer Entwickelung. Eine solche Beschrankung ist ge-
rechtfertigt, weil diese Entwickelung wirklich ein in sich
geschlossenes Ganzes darstellt und gezeichnet werden
konnte, auch wenn man nicht ein «Jahrhundert-Buch»
schreibt. In meiner Seele aber lebten die philosophischen
Anschauungen dieses letzten Zeitalters so, daiR mir iiber-
all wie Untertone bei Darstellung der philosophischen
Fragen die Losungsversuche der Weltansichtsentwicke-
lung -seit deren Beginn mitklangen. Diese Empfmdung
stellte sich in einem erhohten Mafie ein, als ich an die Be-
arbeitung einer neuen Auflage herantrat. Und damit 1st
der Grund angedeutet, warum nicht eigentlich eine neue
Auflage des alten, sondern ein neues Buch entstanden ist.
Zwar ist der Inhalt des alten Buches im wesentlichen wort-
lidi beibehalten worden; doch ist ihm vorangestellt wor-
den eine kurze Darstellung der philosophischen Entwicke-
lung seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert, und im
zweiten Bande wird die Charakteristik der Philosophien
bis zur Gegenwart fortgefiihrt werden. Aufierdem wer-
den die kurzen Bemerkungen am Sdilusse des zweiten
Bandes, die fruher mit dem Worte «Ausblick» iiberschrie-
ben waren, zu einer ausfiihrlichen Darstellung der Aus-
siditen der philosophischen Erkenntnis in der Gegenwart
umgestaltet. Man wird gegen die Komposition des Buches
manches einwenden konnen, weil der Umfang der friihe-
ren Ausfuhrungen nicht verkurzt worden, dagegen die
Charakteristik der Philosophien vom sechsten vorchrist-
lichen bis zum neunzehnten nachchristlichen Jahrhundert
nur im kiirzesten Umrifi dargestellt worden ist. Da jedoch
mein Ziel nicht nur das ist, einen kurzen Abrifi der Ge-
schichte der philosophischen Fragen zu geben, sondern uber
diese Fragen und ihre Losungsversuche selbst durch ihre
geschichtliche Betrachtung zu sprechen, so hielt ich es fiir
richtig, die grofiere Ausfiihrlichkeit fiir das letzte Zeit-
alter beizubehalten. So wie diese Fragen von den Philo-
sophen des neunzehnten Jahrhunderts angesehen und dar-
gestellt worden sind, Hegt den gewohnten Denkrichtungen
und den philosophischen Bediirfnissen der Gegenwart noch
nahe. Was vorangegangen ist, bedeutet dem gegenwarti-
gen Seelenleben nur insofern ein gleiches, als es Licht ver-
breitet iiber die letzte Zeitspanne. - Demselben Bestreben,
an der Geschichte der Philosophien die Philosophic selber
zu entwickeln, entsprangen die «Ausblicke» am Ende des
zweiten Bandes.
Man wird in diesem Buche manches vermissen, was man
vielleicht in einer « Geschichte der Philosophic » suchen
konnte, zum Beispiel die Ansichten Hobbes und vieler an-
derer. Mir kam es aber nicht an auf eine Anfuhrung aller
philosophischen Memungen, sondern auf die Darstellung
des Entwickelungsganges der philosophischen Fragen. Bei
einer solchen Darstellung ist es unangebracht, eine ge-
schichtlich auftretende philosophische Meinung zu ver-
zeichnen, wenn das Wesentliche dieser Meinung in einem
anderen Zusammenhange charakterisiert wird.
Wer auch in diesem Buche einen neuen Beweis wird er-
kennen wollen, dafi ich meine eigenen Anschauungen im
Laufe der Jahre «geandert» habe, den werde ich wohl
von einer solchen «Meinung» auch nicht durch den Hin-
weis abbringen konnen, dafi die Darstellung der philo-
sophischen Ansichten, welche ich in der ersten Auflage der
«Welt- und Lebensanschauungen» gegeben habe, zwar im
einzelnen viel erweitert und erganzt, dafi aber der Inhalt
des alten Buches in das neue im wesentlichen wortlich un-
verandert iibergegangen ist. Die geringfugigen Anderun-
gen, die an einzelnen Stellen vorkommen, schienen mir
notwendig, nicht weil ich das Bediirfnis hatte, das eine
oder das andere nach fiinfzehn Jahren anders darzustel-
len als fruher, sondern weil ich fand, dafi eine geanderte
Ausdrucksweise durch den grofieren Zusammenhang ge-
fordert wird, in dem dieser oder jener Gedanke in dem
neuen Buche erscheint, wahrend im alten Buche von einem
solchen Zusammenhange nicht die Rede war. - Es wird
aber sicherlich immer Menschen geben, die in den aufein-
anderfolgenden Schriften einer Personlichkeit gerne Wi-
derspriiche konstruieren mochten, weil sie die gewi£ nicht
unzulassige Erweiterung des Erkenntnisstrebens einer sol-
chen Personlichkeit nicht richtig ins Auge fassen konnen
oder wollen. Dafi man bei soldier Erweiterung in spate-
z*
ren Jahren manches anders als in friiheren sagt, bedeutet
sicher keinen Widerspruch, wenn man die Ubereinstim-
mung des einen mit dem anderen nicht im Sinne des Ab-
schreibens des Spateren vom Fruheren, sondern im Sinne
der lebendigen Entwickelung einer Personlichkeit meint.
Um bei Menschen, die dies aufter acht lassen konnen, nicht
der Anderung seiner Ansichten geziehen zu werden, miifi-
te man eigentlich, wenn Gedanken in Betracht kommen,
immer das gleiche wiederholen.
April 19 14
Rudolf Steiner
ERSTER BAND
ZUR ORIENTIERUNG
OBER DIE LEITLINIEN DER DARSTELLUNG
Verfolgt man, was von Menschen an Geistesarbeit ge-
leistet worden 1st, um die Losung der Weltratsel und Le-
bensfragen zu versuchen, so drangen sidi der betrachten-
den Seele immer wieder die Worte auf, die im Tempel
Apollons wie ein Wahrspruch aufgezeichnet waren: «Er-
kenne dicb selbst». - Daft die menschlidie Seele beim Vor-
stellen dieser Worte eine gewisse Wirkung empfinden
kann, darauf beruht das Verstandnis fiir eine Weltanschau-
ung. Das Wesen eines lebendigen Organismus fiihrt die
Notwendigkeit mit sich, Hunger zu empfinden; das We-
sen der Menschenseele auf einer gewissen Stufe ihrer Ent-
wickelung erzeugt eine abnlidie Notwendigkeit. Diese
driickt sidi in dem Bedurfnisse aus, dem Leben ein geisti-
ges Gut abzugewinnen, das wie die Nahrung dem Hunger,
so der inneren Gemiitsforderung entspricbt: «Erkenne didi
selbst». Diese Empfindung kann die Seele so machtig er-
greifen, dafi diese denken muS: Idi bin in wahrem Sinne
des Wortes erst dann ganz Mensch, wenn ich in mir ein
Verhaltnis zur Welt ausbilde, das in dem «Erkenne dich
selbst» seinen Grunddiarakter hat. Die Seele kann so weit
kommen, diese Empfindung wie ein Aufwachen aus dem
Lebenstraume anzuseben, den sie vor dem Erlebnis ge-
traumt hat, das sie mit dieser Empfindung durchmacht.
Der Mensch entwickelt sich in der ersten Zeit seines Le-
bens so, daft in ihm die Kraft des Gedachtnisses erstarkt,
durch die er im spateren Leben sich zuriickerinnert an
seine Erfahrungen bis zu einem gewissen Zeitpunkte der
Kindheit. Was vor diesem Zeitpunkte liegt, empfindet er
als Lebenstraum, aus dem er erwacht ist. Die Menschen-
seele ware nicht, was sie sein soil, wenn aus dem dumpfen
Kindeserleben nicht diese Ermnerungskraft herauswiichse.
In ahnlicher Art kann die Menschenseele auf einer weite-
ren Daseinsstufe von dem Erlebnisse mit dem «Erkenne
dich selbst» denken. Sie kann empfmden, dafi alles Seelen-
leben nicht seinen Anlagen entspricht, das nicht durch die-
ses Erlebnis aus dem Lebenstraum erwacht.
Philosophen haben oft betont, dafi sie in Verlegenheit
kommen, wenn sie sagen sollen, was Philosophic im wah-
ren Sinne des Wortes ist. Gewifi aber ist, dafi man in ihr
eine besondere Form sehen mu6, demjenigen menschlichen
Seelenbediirfnisse Befriedigung zu geben, das in dem «Er-
kenne dich selbst» seine Forderung stellt. Und von dieser
Forderung kann man wissen, wie man weifi, was Hunger
ist, trotzdem man vielleicht in Verlegenheit kame, wenn
man eine jedermann befriedigende Erklarung des Hun-
gers geben sollte.
Ein Gedanke dieser Art lebte wohl in J. G. Fichtes
Seele, als er aussprach, dafi die Art der Philosophic, die
man wahle, davon abhange, was man fiir ein Mensdi sei.
Man kann, belebt von diesem Gedanken, an die Betrach-
tung der Versuche herantreten, welche im Verlaufe der
Geschichte gemacht worden sind, den Katseln der Philo-
sophic Losungen zu finden. Man wird in diesen Versuchen
dann OfFenbarungen der menschlichen Wesenheit selbst
finden. Denn, obgleich der Mensch seine personlichen In-
teressen vollig zum Schweigen zu bringen sucht, wenn er
als Philosoph sprechen will, so erscheint doch in einer Phi-
losophic ganz unmittelbar dasjenige, was die menschliche
Personlickkeit durch Entfaltung ihrer ureigensten Krafte
aus sich machen kann.
Von diesem Gesichtspunkte aus kann die Betrachtung
der philosophischen Leistungen iiber die Weltratsel ge-
wisse Erwartungen erregen. Man kann hoffen, daiR sich
aus dieser Betrachtung Ergebnisse gewinnen lassen iiber
den Charakter der menschlichen Seelenentwickelung. Und
der Schreiber dieses Buches glaubt, daft sich ilim beim
Durchwandern der philosophischen Anschauungen des
Abendlandes solche Ergebnisse dargeboten haben. Vier
deutlich zu unterscheidende Epochen in der Entwickelung
des philosophischen Menschheitsstrebens stellten sich ihm
dar. Er muftte die Unterschiede dieser Epochen so charak-
teristisch ausgedriickt finden, wie man die Unterschiede
der Arten eines Naturreiches fmdet. Das brachte ihn dazu,
anzuerkennen, dafi die Geschichte der philosophischen Ent-
wickelung der Menschheit den Beweis erbringe fiir das
Vorhandensein objektiver - von den Menschen ganz un-
abhangiger - geistiger Impulse, welche sich im Zeitenlaufe
fortentwickeln. Und was die Menschen als Philosophen
leisten, das erscheint als die Offenbarung der Entwicke-
lung dieser Impulse, welche unter der Oberflache der
aufierlichen Geschichte waken. Es drangt sich die Ober-
zeugung auf, dafi ein solches Ergebnis aus der unbefange-
nen Betrachtung der geschichtlichen Tatsachen folge, wie
ein Naturgesetz aus der Betrachtung der Naturtatsachen.
Der Schreiber dieses Buches glaubt, dafi ihn keine Art von
Voreingenommenheit zu einer willkurlichen Konstruktion
des geschichtlichen Werdens verfuhrt habe, sondern dafi
die Tatsachen zwingen, Ergebnisse -der angedeuteten Art
anzuerkennen,
Es zeigt sich, dafi der Entwickelungslauf des philosophi-
schen Menschheitsstrebens Epochen unterscheiden lafit, de-
ren jede eine Lange von sieben bis acht Jahrhunderten hat.
In jeder dieser Epochen waltet unter der Oberflache der
aufieren Geschichte ein anderer geistiger Impuls, der ge-
wissermafien in die menschlichen Personlichkeiten ein-
strahlt, und der mit seiner eigenen Fortentwickelung die-
jenige des menschlichen Philosophierens bewirkt.
Wie die Tatsadien fur die Unterscheidung dieser Epo-
dien sprechen, das soil sidi aus dem vorliegenden Budie
ergeben. Dessen Verfasser mochte, so gut er es kann, diese
Tatsachen selbst sprechen lassen. Hier sollen nur einige
Leitlinien vorangesetzt werden, von denen die Betrach-
tung nicbt ausgegangen ist, welche zu diesem Buche ge-
fiihrt hat, sondern welche sich aus dieser Betrachtung als
Ergebnis eingestellt haben.
Man kann die Ansicht haben, dafi diese Leitlinien am
Ende des Buches am richtigen Orte stunden, da ihre Wahr-
heit sich erst aus dem Inhalt des Dargestellten ergibt. Sie
sollen aber als eine vorldufige Mitteilung vorangehen, weil
sie die innere Gliederung der Darstellung rechtfertigen.
Denn obgleich sie fiir den Verfasser des Buches als Ergeb-
nis seiner Betrachtungen sich ergaben, so standen sie doch
naturgemafi vor seinem Geiste vor der Darstellung und
waren fiir diese maftgebend. Fiir den Leser kann es aber
bedeutsam sein, nicht erst am Ende eines Buches zu erfah-
ren, warum der Verfasser in einer gewissen Art darstellt,
sondern schon wahrend des Lesens iiber diese Art aus den
Gesichtspunkten des Darstellenden sich ein Urteil bilden
zu konnen. Doch soil nur dasjenige hier mitgeteilt werden,
was fiir die innere Gliederung der Ausfuhrungen in Be-
tracht kommt.
Die erste Epoche der Entwickelung philosophischer An-
sichten beginnt im griechischen Altertum. Sie laftt sich
deutlich geschichtlich zuriickverfolgen bis zu Pherekydes
von Syros und Thales von Milet. Sie endet mit den Zei-
ten, in welche die Begriindung des Christentums fallt. Das
geistige Streben der Menschheit zeigt in dieser Epoche
einen wesentlich anderen Charakter als in friiheren Zei-
ten. Es ist die Epoche des erwachenden Gedankenlebens.
Vorher lebt die Menschenseele in bildlichen (sinnbild-
lichen) Vorstellungen iiber die Welt und das Dasein. -
Wie stark man sidi audi bemiihen mochte, den jenigen recht
zu geben, welche das philosophische Gedankenleben schon
in vorgriechischen Zeiten entwickelt sehen mochten: man
kann es bei unbefangener Betrachtung nicht. Und man
mufi die echte, in Gedankenform auftretende Philosophic
in Griechenland beginnen lassen. Was in orientalischen,
in agyptischen Weltbetrachtungen dem Elemente des Ge-
dankens ahnlich ist, das ist vor echter Betrachtung doch
nicht wahrer Gedanke, sondern Bild, Sinnbild. In Grie-
chenland wird das Streben geboren, die Weltzusammen-
hange durch dasjenige zu erkennen, was man gegenwartig
Gedanken nennen kann. - Solange die Menschenseele durch
das Bild die Welterscheinungen vorstellt, fiihlt sie sich mit
diesen noch innig verbunden. Sie empfindet sich als ein
Glied des Weltorganismus; sie denkt sich nicht als selb-
standige Wesenheit von diesem Organismus losgetrennt.
Da der Gedanke in seiner Bildlosigkeit in ihr erwacht,
fiihlt sie die Trennung von Welt und Seele. Der Gedanke
wird ihr Erzieher zur Selbstandigkeit. - Nun aber erlebt
der Grieche den Gedanken in einer anderen Art als der
gegenwartige Mensch. Dies ist eine Tatsache, die leicht
aufier acht gelassen werden kann. Doch ergibt sie sich fur
eine echte Einsicht in das griechische Denken. Der Grieche
empfindet den Gedanken, wie man gegenwartig eine
Wahrnehmung empfindet, wie man «rot» oder «gelb»
empfindet. Wie man jetzt eine Farben- oder eine Ton-
wahrnehmung einem «Dinge» zuschreibt, so schaut der
Griedie den Gedanken in und an der Welt der Dinge.
Deshalb bleibt der Gedanke in dieser Zeit noch das Band,
das die Seele mit der Welt verbindet. Die Loslosung der
Seele von der Welt beginnt erst; sie ist nodi nicht voll-
zogen. Die Seele erlebt zwar den Gedanken in sich; sie
muiS aber der Ansicht sein, dafi sie ihn aus der Welt emp-
fangen hat, daher kann sie von dem Gedankenerleben die
Enthiillung der Weltratsel erwarten. In solchem Gedan-
kenerleben vollzieht sich die philosophische Entwickelung,
die mit Pherekydes und Thales einsetzt, in Plato und Ari-
stoteles einen Hohepunkt erreicht, und dann abflutet, bis
sie in der Zeit der Begriindung des Christentums ihr Ende
findet. Aus den Untergriinden der geistigen Entwickelung
flutet das Gedankenleben in die Mensdienseelen herein
und erzeugt in diesen Seelen Philosophien, welche die See-
len zum Erfuhlen ihrer Selbstandigkeit gegeniiber der
aufteren Welt erziehen.
In der Zeit des entstehenden Christentums setzt eine
neue Epoche ein. Die Menschenseele kann nun nicht mehr
den Gedanken wie eine Wahrnehmung aus der aufieren
Welt empfinden. Sie fiihlt ihn als Erzeugnis ihres eige-
nen (inneren) Wesens. Ein viel machtigerer Impuls, als
das Gedankenleben war, strahlt aus den Untergriinden
des geistigen Werdens in die Seele herein. Das Selbst-
bewulksein erwacht erst jetzt in einer Art innerhalb der
Menschheit, welche dem eigentlichen Wesen dieses Selbst-
bewu^tseins entspricht. Was Menschen vorher erlebten,
waren doch nur die Vorboten dessen, was man im tiefsten
Sinne innerlich erlebtes Selbstbewufksein nennen sollte.
Man kann sich der HofTnung hingeben, daE eine kiinftige
Betrachtung der Geistesentwickelung die hier gemeinte
Zeit diejenige des «ErwacIiens des Selbstbewufitseins» nen-
nen wird. Es wird erst jetzt der Mensch im wahren Sinne
des Wortes den ganzen Umfang semes Seelenlebens als
«Ich» gewahr. Das ganze Gewicht dieser Tatsache wird
von den philosophi-schen Geistern dieser Zeit mehr dunkel
empfunden als deutlich gewulk. Diesen Charakter behalt
das philosophische Streben bis etwa zu Scotus Erigena
(gest. 877 n. Chr.). Die Philosophen dieser Zeit tauchen
mit dem philosophischen Denken ganz in das religiose
Vorstellen unter. Durdi dieses Vorstellen sudit die Men-
schenseele, die sich im erwachten Selbstbewulksein ganz
auf sich gestellt sieht, das Bewufksein ihrer Eingliederung
in das Leben des Weltorganismus zu gewinnen. Der Ge-
danke wird ein blofies Mittel, um die Anschauung auszu-
drikken, die man aus religiosen Quellen iiber das Verhalt-
nis der Menschenseele zur Welt gewonnen hat. Eingebettet
in diese Anschauung wachst das Gedankenleben, vom reli-
giosen Vorstellen genahrt, wie der Pflanzenkeim im Scho£
der Erde, bis er aus diesem hervorbricht. In der griechi-
schen Philosophic entfaltet das Gedankenleben seine Eigen-
krafte; es fiihrt die Menschenseele bis zum Erfuhlen ihrer
Selbstandigkeit; dann bricht aus den Untergriinden des
Geisteslebens in die Menschheit herein, was wesentlich an-
derer Art ist als das Gedankenleben. Was die Seele erfiillt
mit neuem inneren Erleben, was sie gewahr werden la£t,
dafi sie eine eigene, auf ihrem inneren Schwerpunkt ruhende
Welt ist. Das Selbstbewufitsein wird zunachst erlebt, noch
nicht gedanklich erf a fit. Der Gedanke entwickelt sich wei-
ter im Verborgenen in der Warme des religiosen Bewufit-
seins. So verlaufen die ersten sieben bis adit Jahrhunderte
nach der Begriindung des Christentums.
Die nachste Epoche zeigt einen vollig anderen Charak-
ter. Die fiihrenden Philosophen fiihlen die Kraft des Ge-
dankenlebens wieder. erwachen. Die Menschenseele hat die
durch Jahrhunderte durchlebte Selbstandigkeit innerlich
befestigt. Sie beginnt zu suchen: was denn eigentlich ihr
ureigenster Besitz ist. Sie findet, daft dies das Gedanken-
leben ist. Alles andere wird ihr von aufien gegeben; den
Gedanken erzeugt sie aus den Untergriinden ihrer eigenen
Wesenheit heraus, so dafi sie bei diesem Erzeugen mit
vollem Bewulksein dabei ist. Der Trieb entsteht in ihr, in
den Gedanken eine Erkenntnis zu gewinnen, durch die sie
sich iiber ihr Verhaltnis zur Welt aufklaren kann. Wie
kann in dem Gedankenleben sich etwas aussprechen, was
nicht bloft von der Seele erdacht ist? Das wird die Frage
der Philosophen dieses Zeitalters. Die Geistesstromungen
des Nominalismus, des Realismus, der Scholastik, der mit-
telalterlichen Mystik: sie offenbaren diesen Grundcharak-
ter der Philosophic dieses Zeitalters. Die Menschenseele
versucht, das Gedankenleben auf seinen Wirklichkeits-
charakter hin zu priifen.
Mit dem Ablauf dieser dritten Epoche andert sich der
Charakter des philosophischen Strebens. Das Selbstbewulk-
sein der Seele ist erstarkt durch die jahrhundertelange in-
nere Arbeit, die in der Priifung der Wirklichkeit des Ge-
dankenlebens geleistet worden ist. Man hat gelernt, das
Gedankenleben mit dem Wesen der Seele verbunden zu
fiihlen und in dieser Verbindung eine innere Sicherheit des
Daseins zu empfinden. Wie ein machtiger Stern leuchtet
am Geisteshimmel als Wahrzeichen fur diese Entwicke-
lungsstufe das Wort «Ich denke, also bin ich», das Des-
cartes (1596 — 1650) ausspricht. Man fiihlt das Wesen der
Seele in dem Gedankenleben stromen; und in dem Wissen
von diesem Stromen vermeint man das wahre Sein der
Seele selbst zu erleben. So sicher fiihlt man sich innerhalb
dieses irn Gedankenleben erschauten Daseins, dafi man zu
der Oberzeugung kommt, wahre Erkenntnis konne nur die-
jenige sein, die so erlebt wird, wie in der Seele das auf sich
selbst gebaute Gedankenleben erfahren werden mufi. Dies
wird der Gesichtspunkt Spinozas (1632 — 1677). - Philo-
sophien entstehen nunmehr, welche das Weltbild so ge~
stalten, wie es vorgestellt werden mufi, wenn die durch
das Gedankenleben erfafite selbstbewufite Menschenseele
in ihm den angemessenen Platz haben soil. Wie mufi die
Welt vorgestellt werden, damit in ihr die Menschenseele
so gedacht werden kann, wie sie gedacht werden mufi im
Sinne dessen, was man iiber das Selbstbewufitsein vorzu-
stellen hat? Das wird die Frage, welche bei unbefangener
Betrachtung der Philosophic Giordano Brunos (1548 bis
1600) zugrunde liegt; und die ganz deutlich sich als die-
jenige ergibt, fur welche Leibniz (1646 — 171 6) die Ant-
wort sucht.
Mit Vorstellungen eines Weltbildes, die aus soldier
Frage entstehen, beginnt die vierte Epoche der Entwicke-
lung der philosophischen Weltansichten. Unsere Gegen-
wart bildet erst ungefahr die Mitte dieses Zeitalters. Die
Ausfiihrungen dieses Buches sollen zeigen, wie weit die
philosophische Erkenntnis im Erfassen eines Weltbildes
gelangt ist, innerhalb dessen die selbstbewufite Seele fiir
sich einen soldi sicheren Platz findet, dafi sie ihren Sinn
und ihre Bedeutung im Dasein verstehen kann. Als in der
ersten Epoche des philosophischen Strebens dieses aus dem
erwachten Gedankenleben seine Krafte empfing, da er-
stand ihm die Hoffnung, eine Erkenntnis zu gewinnen von
einer Welt, der die Menschenseele mit ihrer wahren We-
senheit angehort; mit derjenigen Wesenheit, die nicht er-
schopft ist mit dem Leben, das durch den Sinnenleib seine
Offenbarung findet.
In der vierten Epoche setzen die aufbliihenden Natur-
wissenschaften dem philosophisdien Weltbild ein Natur-
bild an die Seite, das allmahlich sich selbstandig auf einen
eigenen Boden stellt. In diesem Naturbilde findet sidi mit
fortschreitender Entwickelung nichts mehr von der Welt,
welche das selbstbewufite Idi (die sich als selbstbewufke
Wesenheit erlebende Menschenseele) in sich anerkennen
muft. In der ersten Epoche beginnt die Menschenseele sich
von der Auftenwelt loszulosen und eine Erkenntnis zu ent-
wickeln, welche sich dem seelischen Eigenleben zuwendet.
Dieses seelische Eigenleben findet seine Kraft in dem er-
wachenden Gedankenelemente. In der vierten Epoche tritt
ein Naturbild auf, das sich seinerseits von dem seelischen
Eigenleben losgelost hat. Es entsteht das Bestreben, die
Natur so vorzustellen, dafi in die Vorstellungen von ihr
sich nichts von dem einmischt, was die Seele aus sich und
nicht aus der Natur selbst schopft. So findet sich in dieser
Epoche die Seele mit ihrem inneren Erleben auf sich selbst
zuriickgewiesen. Es droht ihr, sich eingestehen zu miissen,
dafi alles, was sie von sich erkennen kann, auch nur fiir
sie selbst eine Bedeutung habe und keinen Hinweis ent-
hielte auf eine Welt, in der sie mit ihrem wahren Wesen
wurzelt. Denn in dem Naturbilde kann sie von sich selbst
nichts finden.
Die Entwickelung des Gedankenlebens ist durch vier
Epochen fortgeschritten. In der ersten wirkt der Gedanke
wie eine Wahrnehmung von auEen. Er stellt die erken-
nende Menschenseele auf sich selbst. In der zweiten hat er
seine Kraft nach dieser Richtung erschopft. Die Seele er-
starkt in dem Selbsterleben ihres Eigenwesens; der Ge-
danke lebt im Untergrunde und verschmilzt mit der Selbst-
erkenntnis. Er kann nun nicht mehr wie eine Wahrneh-
mung von aufien angesehen werden. Die Seele lernt ihn
fiihlen als ihr eigenes Erzeugnis. Sie mufi dazu kommen,
sich zu fragen: was hat dieses innere Seelenerzeugnis mit
einer Aufien welt zu tun? Im Lichte dieser Frage lauft die
dritte Epodie ab. Die Philosophen entwickeln ein Erkennt-
nisleben, das den Gedanken in bezug auf seine innere
Kraft erprobt. Die philosophische Starke dieser Epodie
ofFenbart sidi als ein Einleben in das Gedankenelement,
als Kraft, den Gedanken in seinem eigenen Wesen durch-
zuarbeiten. Im Verlauf dieser Epodie nimmt das philo-
sophische Leben zu in der Fahigkeit, sich des Gedankens
zu bedienen. - Im Beginne der vierten Epoche will das er-
kennende Selbstbewufitsein, von seinem Gedankenbesitze
aus, ein philosophisches Weltbild gestalten. Ihm tritt das
Naturbild entgegen, das von diesem Selbstbewufitsein
nichts aufnehmen will. Und die selbstbewufite Seele steht
vor diesem Naturbilde mit der Empfindung: wie gelange
ich zu einem Weltbilde, in dem die Innenwelt mit ihrer
wahren Wesenheit und die Natur zugleich sicher veran-
kert sind? Der Impuls, der aus dieser Frage stammt, be-
herrscht - den Philosophen mehr oder weniger bewuftt -
die philosophische Entwickelung seit dem Beginn der vier-
ten Epoche. Und er ist der mafigebende Impuls im philo-
sophischen Leben der Gegenwart. In diesem Buche sollen
die einzelnen Tatsachen charakterisiert werden, welche das
Walten dieses Impulses offenbaren. Der erste Band des
Buches wird die philosophische Entwickelung bis zur Mitte
des neunzehntes Jahrhunderts darstellen; der zweite wird
diese Entwickelung bis zur Gegenwart verfolgen und am
Schlusse zeigen, wie die bisherige philosophische Entwicke-
lung die Seele auf Ausblicke in ein werdendes mensch-
liches Erkenntnisleben hinweist, durch weldies die Seele
ein Weltbild aus ihrem Selbstbewulksein entfalten kann,
in dem ihre eigene wahre Wesenheit zugleidi mit dem
Bilde der Natur, das die neuere Entwickelung gebracht
hat, vorgestellt werden kann.
Ein der Gegenwart entsprechender philosophischer Aus-
blick sollte in diesem Buche aus der geschichtlichen Ent-
wickelung der philosophischen Weltansichten heraus ent-
faltet werden.
DIE WELTANSCHAUUNG
DER GRIECHISCHEN DENKER
In Pherekydes von Syros, der im sedisten vorchristlichen
Jahrhundert lebte, erscheint innerhalb des griechischen
Geisteslebens eine Personlichkeit, an welcher man die Ge-
burt dessen beobachten kann, was in den folgenden Aus-
fiihrungen «Welt- und Lebensansdiauungen» genannt
wird. Was er iiber die Weltenfragen zu sagen bat, gleicht
auf der einen Seite nodi den mythischen und bildhaften
Darstellungen einer Zeit, die vor dem Streben nach wis-
senschaftlicher Weltanschauung iiegt; auf der anderen
Seite ringt sich bei ihm das Vorstellen durch das Bild,
durch den Mythus, zu einer Betrachtung durch, die durch
Gedanken die Ratsel des Daseins und der Stellung des
Menschen in der Welt durchdringen will. Er stellt noch
die Erde vor unter dem Bilde einer gefliigelten Eiche,
welcher Zeus die Oberflache von Land, Meer, Fliissen usw.
wie ein Gewebe umlegt; er denkt sich die Welt durchwirkt
von Geistwesen, von welchen die griechische Mythologie
spricht. - Doch spricht er audi von drei Urspriingen der
Welt: von Chronos, von Zeus und von Chthon.
Es ist in der Geschichte der Philosophic viel dariiber
verhandelt worden, was unter diesen drei Urspriingen des
Pherekydes zu verstehen sei. Da sich die geschichtlichen
Nachrichten iiber das, was er in seinem Werke «Hepta-
mychos» habe darstellen wollen, widersprechen, so ist be-
greiflich, dafi dariiber audi gegenwartig die Meinungen
voneinander abweichen. Wer sich auf das geschichtlich
iiber Pherekydes Uberlieferte betrachtend einlafit, kann
den Eindruck bekommen, dafi allerdings an ihm der An-
fang des philosophischen Nachdenkens beobachtet werden
kann, dafi aber diese Beobachtung schwierig ist, weil seine
Worte in einem Sinne genommen werden miissen, welcher
den Denkgewohnheiten der Gegenwart feme liegt und der
erst gesucht werden mufi.
Den Ausfiihrungen dieses Buches, das ein Bild der Welt-
und Lebensansdiauungen des neunzehnten Jahrhunderts
geben soil, wird bei seiner zweiten Ausgabe eine kurze
Darstellung der vorangehenden Welt- und Lebensansdiau-
ungen vorgesetzt, insofern diese Weltanschauungen auf
gedanklicher Erfassung der Welt beruhen. Es geschieht
dies aus dem Gefuhle heraus, daft die Ideen des vorigen
Jahrhunderts in ihrer inneren Bedeutung sich besser ent-
hullen, wenn sie nicht nur fiir sich genommen werden, son-
dern wenn auf sie die Gedankenlichter der vorangehenden
Zeiten fallen. Naturgemafi kann aber in einer solchen «Ein-
leitung» nicht alles «Beweismaterial» verzeichnet werden,
das der kurzen Skizze zur Unterlage dienen mufi, (Wenn
es dem Schreiber dieser Ausfiihrungen einmal gegonnt sein
wird, die Skizze zu einem selbstandigen Buche zu machen,
dann wird man ersehen, dafi die entsprechende «Unter-
lage» durchaus vorhanden ist. Auch zweifelt der Verfas-
ser nicht, dafi andere, welche in dieser Skizze eine Anre-
gung sehen wollen, in dem geschichtlich Oberlieferten die
«Beweise» finden werden.)
Pherekydes kommt zu seinem Weltbilde auf andere Art,
als man vor ihm zu einem solchen gekommen ist. Das Be-
deutungsvolle bei ihm ist, dafi er den Menschen als beseel-
tes Wesen anders empfindet, als dies vor ihm geschehen
ist. Fiir das friihere Weltbild hat der Ausdruck «Seele»
noch nicht den Sinn, welchen er fiir die spateren Lebens-
auffassungen erhalten hat. Auch bei Pherekydes ist die
Idee der Seele noch nicht in der Art vorhanden wie bei
den ihm folgenden Denkern. Er empfindet erst das Seeli-
sche des Menschen, wogegen die Spateren von ihm deut-
lich - in Gedanken - sprechen und es charakterisieren wol-
len. - Die Menschen friiher Zeiten trennen das eigene
menschliche Seelen-Erleben noch nicht von dem Natur-
leben ab. Sie stellen sich nicht als ein besonderes Wesen
neben die Natur hin; sie erleben sich in der Natur, wie
sie in derselben Blitz und Donner, das Treiben der Wol-
ken, den Gang der Sterne, das Wachsen der Pflanzen er-
leben. "Was die Hand am eigenen Leibe bewegt, was den
Fuft auf die Erde setzt und vorschreken lafit, gehort fiir
den vorgeschichtlichen Menschen einer Region von Wel-
tenkraften an, die audi den Blitz und das Wolkentreiben,
die alles aufiere Geschehen bewirken. Was dieser Mensch
empfindet, lafit sich etwa so aussprechen: Etwas lafit blit-
zen, donnern, regnen, bewegt meine Hand, lafit meinen
Fu£ vorwarts schreiten, bewegt die Atemluft in mir, wen-
det meinen Kopf. - Man mufi, wenn man eine derartige
Erkenntnis ausspricht, sich soldier Worte bedienen, welche
auf den ersten Eindruck hin iibertrieben scheinen konnen.
Doch wird nur durch das scheinbar iibertrieben klingende
Wort die richtige Tatsache voll empfunden werden kon-
nen. Ein Mensch, welcher ein Weltbild hat, wie es hier ge-
meint ist, empfindet in dem Regen, der zur Erde f allt, eine
Kraft wirkend, die man gegenwartig «geistig» nennen
mufS, und die gleichartig ist mit derjenigen, die er emp-
findet, wenn er sich zu dieser oder jener personlichen Be-
tatigung anschickt. Von Interesse kann es sein, diese Vor-
stellungsart bei Goethe, in dessen jungeren Jahren, wie-
derzuflnden, naturgemafi in jener Schattierung, welche sie
bei einer Personlichkeit des achtzehnten Jahrhunderts ha-
ben muS. Man kann in Goethes Aufsatz «Die Natur»
lesen: «Sie (die Natur) hat mich hereingestellt, sie wird
mich audi herausfuhren. Idi vertraue mich ihr. Sie mag
mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nidit hassen. Ich
sprach nidit von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch
ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ihr
Verdienst.» -
So, wie Goethe spricht, kann man nur spredien, wenn
man das eigene Wesen innerhalb des Naturganzen fuhlt
und man dieses Gefuhl durch die denkende Betrachtung
zum Ausdrucke bringt. Wie er dachte, empfand der Mensch
der Vorzeit, ohne daft sich sein Seelenerlebnis zum Gedan-
ken bildete. Er erlebte nodi nidit den Gedanken; dafiir
aber gestaltete sidi in seiner Seele, anstatt des Gedankens,
das Bild (Sinnbild). Die Beobachtung der Menschheitsent-
wickelung fuhrt in eine Zeit zuriick, in weldier die ge-
danklichen Erlebnisse nodi nidit geboren waren, in wel-
dier aber im Innern des Menschen das Bild (Sinnbild) auf-
lebte, wie beim spater lebenden Mensdien der Gedanke
auflebt, wenn er die Weltenvorgange betraditet. Das Ge-
dankenleben entsteht fiir den Mensdien in einer bestimm-
ten Zeit; es bringt das vorherige Erleben der Welt in Bil-
dern zum Erlosdien.
Fiir die Denkgewohnheiten unserer Zeit erscheint es an-
nehmbar, sich vorzustellen: in der Vorzeit haben die Men-
sdien die Naturvorgange, Wind und Wetter, das Keimen
des Samens, den Gang der Sterne beobaditet und sich zu
diesen Vorgangen geistige Wesenheiten, als die tatigen
Bewirker, hinzuerdichtet ; dagegen liegt es dem gegenwar-
tigen Bewufitsein feme, anzuerkennen, dafi der Mensch
der Vorzeit die Bilder so erlebt hat, wie der spatere Mensch
die Gedanken erlebte - als seeKsche Wirklichkeit.
Man wird allmahlich erkennen, dafi im Laufe der
Menschheitsentwickelung eine Umwandlung der mensch-
lichen Organisation stattgefunden hat. Es gab eine Zeit,
in der die feinen Organe in der menschlichen Natur nodi
nicht ausgebildet waren, weldie ermoglichen, ein inneres
abgesondertes Gedankenleben zu entwidkeln; in dieser
Zeit hatte dafiir der Mensdi die Organe, die ihm sein Mit-
Erleben mit der Welt in Bildern vorstellten.
Wenn man dieses erkennen wird, wird ein neues Lidit
fallen auf die Bedeutung des My thus einerseits und audi
auf diejenige von Diditung und Gedankenleben anderer-
seits. Als das innerlich selbstandige Gedanken-Erleben auf-
trat, brachte es das friihere Bild-Erleben zum Erloschen.
Es trat der Gedanke auf als das Werkzeug der Wahrheit.
In ihm lebte aber nur ein Ast des alten Bild-Erlebens fort,
das sich im Mythus seinen Ausdruck geschaffen hatte. In
einem anderen Aste lebte das erlosdiene Bild-Erleben wel-
ter, allerdings in abgeblafiter Gestalt, in den Schopfungen
der Phantasie, der Dichtung. - Diditerisdie Phantasie und
gedankliche Weltanschauung sind die beiden Kinder der
einen Mutter, des alten Bild-Erlebens, das man nicht mit
dem dichterischen Erleben verwechseln darf.
Das Wesentliche, worauf es ankommt, ist die Umwand-
lung der feineren Organisation des Menschen. Diese fiihr-
te das Gedankenleben herbei. In der Kunst, in der Dich-
tung wirkt naturgemaft nicht der Gedanke als soldier; es
wirkt das Bild weiter. Aber es hat nunmehr ein anderes
Verhaltnis zur menschlichen Seele, als es es hatte in der
Gestalt, in welcher es sich audi noch als Erkenntnisbild
formte. Als Gedanke selbst tritt das seelische Erleben nur
in der Weltanschauung auf; die anderen Zweige des
menschlichen Lebens formen sich in anderer Art entspre-
chend um, wenn im Erkenntnisgebiete der Gedanke herr-
schend wird.
Mit dem dadurch diarakterisierten Fortsdiritt der
menschlichen Entwickelung hangt zusammen, dafi sich der
Mensdi vom Auftreten des Gedanken-Erlebens an in ganz
anderem Smne als abgesondertesWesen, als «Seele» fiihlen
mufite, als das friiher der Fall war. Das «Bild» wurde so
erlebt, dafi man empfand: es ist in der Aufienwelt als
Wirklichkeit, und man erlebt diese Wirklichkeit mit, man
ist mit ihr verbunden. Mit dem «Gedanken» wie audi mit
dem dichterischen Bilde fiihlt sich der Mensch von der Na-
tur abgesondert; er fiihlt sich im Gedanken-Erlebnis als
etwas, was die Natur so nicht miterleben kann, wie er es
erlebt. Es entsteht immer mehr die deutliche Empfindimg
des Gegensatzes von Natur und Seele.
In den verschiedenen Kulturen der Volker hat sich der
Ubergang von dem alten Bild-Erleben zum Gedanken-Er-
leben zu verschiedenen Zeitpunkten vollzogen. In Grie-
chenland kann man diesen Obergang belauschen, wenn
man den Blick auf die Personlichkeit des Pherekydes wirft.
Er lebt in einer Vorstellungswelt, an welcher das Bild-
Erleben und der Gedanke noch gleichen Anteil haben. Es
konnen seine drei Grundideen, Zeus, Chronos, Chthon,
nur so vorgestellt werden, dafi die Seele, indem sie sie er-
lebt, sich zugleich dem Geschehen der Aufienwelt angeho-
rig fiihlt. Man hat es mit drei erlebten Bildern zu tun und
kommt diesen nur bei, wenn man sich nicht beirren lafk
von allem, was die gegenwartigen Denkgewohnheiten da-
bei vorstellen mochten.
Chronos ist nicht die Zek, wie man sie gegenwartig vor-
stellt. Chronos ist ein Wesen, das man mit heutigem
Sprachgebrauch «geistig» nennen kann, wenn man sich da-
bei bewufit ist, dafi man den Sinn nicht erschopft. Chro-
nos lebt, und seine Tatigkeit ist das Verzehren, Verbrau-
chen des Lebens eines anderen Wesens, Cbthon. In der
Natur waltet Chronos, im Menschen waltet Chronos; in
Natur und Mensch verbraucht Chronos Chthon. Es ist
einerlei, ob man das Verzehren des Chthon durch Chro-
nos innerlich erlebt oder aufierlich in den Naturvorgan-
gen ansieht. Denn auf beiden Gebieten geschieht dasselbe.
Verbunden mit diesen beiden Wesen ist Zeus, den man
sich im Sinne des Pherekydes ebensowenig als Gotterwesen
im Sinne der gegenwartigen AufFassung von Mythologie
vorstellen darf, wie als blofien «Raum» in heutiger Bedeu-
tung, obwohl er das Wesen ist, welches das, was zwischen
Chronos und Chthon vorgeht, zur raumlichen, ausgedehn-
ten Gestaltung schafft.
Das Zusammenwirken von Chronos, Chthon, Zeus im
Sinne des Pherekydes wird unmittelbar im Bilde erlebt,
wie die Vorstellung erlebt wird, dafi man i£t; es wird
aber audi in der Aufienwelt erlebt, wie die Vorstellung
der blauen oder roten Farbe erlebt wird. Dies Erleben
kann man in folgender Art vorstellen. Man lenke den
Blick auf das Feuer, welches die Dinge verzehrt. In der
Tatigkeit des Feuers, der Warme, lebt sich Chronos dar.
Wer das Feuer in seiner Wirksamkeit anschaut und noch
nicht den selbstandigen Gedanken, sondern das Bild wirk-
sam hat, der schaut Chronos. Er schaut mit der Feuerwirk-
samkeit - nicht mit dem sinnlichen Feuer - zugleich die
«Zeit». Eine andere Vorstellung von der Zeit gibt es vor
der Geburt des Gedankens noch nicht. Was man gegen-
wartig «Zeit» nennt, ist erst eine im Zeitalter der gedank-
lichen "Weltanschauung ausgebildete Idee. - Lenkt man
den Blick auf das Wasser, nicht wie es als Wasser ist, son-
dern wie es sich in Luft oder Dampf verwandelt, oder auf
die sich auflosenden Wolken, so erlebt man im Bilde die
Kraft des «Zeus», des raumlich wirksamen Verbreiterers;
man konnte audi sagen: des sich «strahlig» Ausdehnenden.
Und schaut man das Wasser, wie es zum Festen wird,
oder das Feste, wie es sich in Fliissiges bildet, so schaut
man Chthon. Chthon ist etwas, was dann spater im Zeit-
alter der gedankenmaSigen Weltanschauungen zur «Ma-
terie», zum «Stoffe» geworden ist; Zeus ist zum «Ather»
oder auch zum «Raum» geworden; Chronos zur «Zeit».
Durch das Zusammenwirken dieser drei Urgriinde stellt
sich im Sinne des Pherekydes die Welt her. Es entstehen
durch dieses Zusammenwirken auf der einen Seite die
sinnlichen S toff wel ten: Feuer, Luft, "Wasser, Erde; auf
der anderen Seite eine Summe von unsichtbaren, iibersinn-
lichen Geistwesen, welche die vier Stoffwelten beleben.
Zeus, Chronos, Chthon sind Wesenheiten, denen gegen-
iiber die Ausdriicke «Geist, Seele, StofT» wohl gebraucht
werden konnen, doch wird die Bedeutung damit nur an-
nahernd bezeichnet. Erst durch die Verbindung dieser drei
Urwesen entstehen die mehr stofflichen "Weltenreiche, das
des Feuers, der Luft, des Wassers, der Erde und die mehr
seelischen und geistigen (ubersinnlichen) Wesenheiten. Mit
einem Ausdruck der spateren Weltanschauungen kann man
Zeus als «Raum-Ather», Chronos als «Zeit-Schopfer» und
Chthon als «Stoff-Erbringer» die drei «Urmutter» der
Welt nennen. Man sieht sie noch in Goethes «Faust» durch-
blicken, in der Szene des zweiten Teiles, wo Faust den
Gang zu den «Muttern» antritt.
So wie bei Pherekydes diese drei Urwesen auftreten, wei-
sen sie zuriick auf Vorstellungen bei Vorgangern dieser
Personlichkeit, auf die sogenannten Orpbiker. Diese sind
Bekenner einer Vorstellungsart, weldie noch ganz in der
alten Bildhaftigkeit lebt. Bei ihnen finden sich audi drei
Urwesen, Zeus, Chronos und das Chaos. Neben diesen
drei «Urmuttern» sind diejenigen des Pherekydes um einen
Grad weniger bildhaft. Pherekydes versucht eben schon
mehr durch das Gedankenleben zu ergreifen, was die Or-
phiker nodi vollig im Bilde hielten. Deshalb ersdieint er
als die Personlichkeit, bei welcher man von der «Geburt
des Gedankenlebens» spredien kann. - Dies driickt sidi
weniger durch die gedanklidie Fassung der orphischen
Vorstellungen bei Pherekydes aus, als durch eine gewisse
Grundstimmung seiner Seele, die sich dann in einer ahn-
lichen Art bei manchem philosophierenden Nachfolger
des Pherekydes in Griechenland wiederfindet. Pherekydes
sieht sich namlich gezwungen, den Ursprung der Dinge in
dem «Guten» (Ariston) zu sehen. Mit den «mythischen
G6tterwelten» der alten Zeit konnte er diesen BegrifF
nicht verbinden. Den Wesen dieser Welt kamen Seelen-
eigenschaften zu, die mit diesem Begriffe nicht vertraglich
waren.In seine drei «Urgrunde» konnte Pherekydes nur den
BegrifF des «Guten», des Vollkommenen hineindenken.
Damit hangt zusammen, daft mit der Geburt des Ge-
dankenlebens eine Erschiitterung des seelischen Empfin-
dens verbunden war. Man soil dieses seelische Erlebnis da
nicht iibersehen, wo die gedankliche Weltanschauung ihren
Anfang hat. Man hatte in diesem Anfang nicht einen Fort-
schritt empfinden konnen, wenn man mit dem Gedanken
nicht etwas Vollkommneres hatte zu erfa-ssen geglaubt,
als mit dem alten Bild-Erleben erreicht war. Es ist ganz
selbstverstandlich, dafi innerhalb dieser Stufe der Welt-
anschauungsentwickelung die hier gemeinte Empfindung
nicht klar ausgesprochen wurde. Empfunden aber wurde,
was man jetzt riickblickend auf die alten griechisdien Den-
ker klar aussprechen darf. - Man empfand: die von den
unmittelbaren Vorfahren erlebten Bilder fiihrten nicht zu
den hochsten, den voilkommensten Urgriinden. In diesen
Bildern zeigten sich nur weniger vollkommene Urgriinde.
Der Gedanke miisse sich erheben zu den noch hoheren Ur-
griinden, von denen das in Bildern Geschaute nur die Ge-
schopfe sind.
Durch den Fortschritt zum Gedankenleben zerfiel die
Welt fur das Vorstellen in eine mehr natiirliche und eine
mehr geistige Sphare. In dieser geistigen Sphare, die man
jetzt erst empfand, mufite man das fiihlen, was ehedem in
Bildern erlebt worden war. Dazu kam jetzt noch die Vor-
stellung eines Hoheren, was erhaben iiber dieser alteren
geistigen Welt und iiber der Natur gedacht wird. Zu die-
sem Erhabenen wollte der Gedanke dringen. In der Re-
gion dieses Erhabenen sucht Pherekydes seine «drei Ur-
mutter ». - Ein Blick auf die Welterscheinungen kann ver-
anschaulichen, von welcher Art die Vorstellungen waren,
die bei einer Personlichkeit wie Pherekydes Platz griffen.
In seiner Umwelt findet der Mensch eine alien Erschei-
nungen zugrunde liegende Harmonie, wie sie sich in den
Bewegungen der Gestirne, in dem Gang der Jahreszeiten
mit den Segnungen des Pflanzenwachstum-s usw. zum Aus-
drucke bringt. In diesen segensvollen Lauf der Dinge grei-
fen die hemmenden, zerstorenden Machte ein, wie sie sich
in den schadlichen Wetterwirkungen, in Erdbeben usw.
ausdnicken. "Wer den Blick auf alles dieses wendet, kann
auf eine Zweiheit der waltenden Machte gefiihrt wer den.
Doch bedarf die menschliche Seele der Annahme einer zu-
grunde liegenden Einheit. Sie empfindet naturgemaft: der
verheerende Hagel, das zerstorende Erdbeben, sie miissen
schliefiiich aus derselben Quelle stammen wie die segen-
bringende Ordnung der Jahreszeiten. Der Mensch blickt
auf diese Art durdi Gutes und Schlechtes hindurch auf ein
Urgutes. In dem Erdbeben waltet dieselbe gute Kraft wie
in dem Fruhlingssegen. In der austrocknenden veroden-
den Sonnenhitze ist dieselbe Wesenheit tatig, welche das
Samenkorn zur Reife bringt. Also auch in den schadlichen
Tatsachen sind die «guten Urmiitter». Wenn der Mensch
dieses fiihlt, stellt sich ein gewaltiges "Weltenratsel vor
seine Seele hin. Pherekydes blickt, urn es sich zu losen, zu
seinem Ophioneus hin. Sich anlehnend an die alten Bil-
dervorstellungen, erscheint ihm Ophioneus wie eine Art
«Weltenschlange». In Wirklichkeit ist dies ein Geistwesen,
welches wie alle anderen Weltwesen zu den Kindern von
Chronos, Zeus und Chthon gehort, jedoch sich nach seiner
Entstehung so gewandelt hat, dafi seine Wirkungen sich
gegen die Wirkungen der «guten Urmiitter» richten. Da-
mit aber zerfallt die "Welt in eine Dreiheit. Das erste sind
die «Urmiitter», die als gut, als vollkommen dargestellt
werden, das zweite sind die segensreichen Weltvorgange,
das dritte die zerstorenden oder nur unvollkommenen
"Weltvorgange, welche sich als Ophioneus in die Segens-
wirkungen hineinwinden.
Bei Pherekydes ist Ophioneus nicht etwa eine bloGe
symbolische Idee fur die hemmenden, zerstorenden Wel-
tenmachte. Pherekydes steht mit seinem Vorstellen an der
Grenze zwischen Bild und Gedanken. Er denkt nicht etwa:
es gibt verheerende Machte, ich stelle sie mir unter dem
Bilde des Ophioneus vor. Soldi ein Gedankenprozefi ist
bei ihm auch nicht als Phantasietatigkeit vorhanden. Er
blickt auf die hemmenden Krafte, und unmittelbar steht
vor seiner Seele Ophioneus, wie die rote Farbe vor der
Seele stent, wenn der Blick auf die Rose geworfen wird.
Wer die Welt nur sieht, wie sie sich der Bildwahrneh-
mung darbietet, der unterscheidet zunachst im Gedanken
nicht die Vorgange der «guten Urmiitter» und diejenigen
des Ophioneus. An der Grenze zur gedanklichen Welt-
anschauung hin wird die Notwendigkeit dieser Unter-
scheidung empfunden. Denn mit diesem Fortschritte erst
fiihlt sich die Seele als ein abgesondertes, selbstandiges
Wesen. Sie fiihlt, daft sie sich fragen mufi: Woher stamme
ich selbst? Und sie mufi ihren Urspmng suchen in Welten-
tiefen, wo Chronos, Zeus und Chthon noch nicht ihren
Widersacher neben sich hatten. Doch fiihlt die Seele audi,
dafi sie von diesem ihrem Ursprunge zunachst nichts wis-
sen kann. Denn sie sieht sich inmitten der Welt, in wel-
cher die «guten Urm(itter» mit Ophioneus zusammenwir-
ken; sie fiihlt sich in einer Welt, in der Vollkommenes und
Unvollkommenes miteinander verbunden sind. Ophioneus
ist in ihr eigenes Wesen mit hineinverschlungen.
Man fiihlt, was in den Seelen einzelner Personlichkeiten
im sechsten vorchristlichen Jahrhundert vorgegangen ist,
wenn man die charakterisierten Empfmdungen auf sich
wirken laftt. Mit den alten mythischen Gotterwesen fiihl-
ten sich solche Seelen in die unvollkommene Welt hinein
verstrickt. Diese Gotterwesen gehorten derselben unvoll-
kommenen Welt an wie sie selber. Aus soldier Stimmung
heraus entstand ein Geistesbund wie der von Pythagoras
aus Samos zwischen den Jahren 540 und 500 v. Chr. in
Kroton in Groftgriechenland gegriindete. Pythagoras woll-
te die sich zu ihm bekennenden Menschen zum Empfinden
der «guten Urmutter» zuriickfiihren, in denen der Ur-
sprung ihrer Seelen vorgestellt werden sollte. In dieser
Beziehung kann gesagt werden, daft er und seine Schiiler
«anderen» Gottern dienen wollten als das Volk. Und da-
mit war gegeben, was als der Bruch erscheinen mufi zwi-
schen solchen Geistern wie Pythagoras und dem Volke.
Dieses fuhlte sich mit seinen Gottern wohl; er muftte diese
Gotter in das Reich des Unvollkommenen verweisen. Dar-
in ist audi das «Geheimnis» zu suchen, von dem im Zu-
sammenhang mit Pythagoras gesprochen wird, und das
den nicht Eingeweihten nidit verraten werden durfte. Es
bestand darinnen, daft sein Denken der Menschenseele
einen anderen Ursprung zusprechen muftte als den Gotter-
seelen der Volksreligion. Auf dieses «Geheimnis» sind zu-
letzt die zahlreichen Angriffe zuruckzufiihren, welche Py-
thagoras erfahren hat. Wie sollte er anderen als denen,
welche er erst sorgfaltig fiir solche Erkenntnis vorberei-
tete, klarmachen, daft sie «als Seelen» sich sogar in einem
gewissen Sinne als hoherstehend ansehen diirften als die
Volksgotter stehen. Und wie sollte sich anders als in einem
Bunde mit streng geregelter Lebensweise durchfiihren las-
sen, daft sich die Seelen ihres hohen Ursprungs bewuftt
wurden und doch sich verstrickt in die Unvollkommenheit
fiihlten. Durch letzteres Fiihlen sollte ja das Streben er-
zeugt werden, das Leben so einzurichten, daft es durch
Selbstvervollkommnung zu seinem Ursprunge zuruckfiihr-
te. Daft um solches Streben des Pythagoras sich Legenden
und Mythen bilden muftten, ist verstandlich. Und auch,
daft iiber die wahre Bedeutung dieser Personlichkeit so gut
wie nichts geschichtlich iiberliefert ist. Wer jedoch die Le-
genden und sagenhaften "Oberlieferungen des Altertums
iiber Pythagoras im Zusammenhange beobachtet, der wird
aus ihnen das eben gegebene Bild doch erkennen.
In dem Bilde des Pythagoras fiihlt das gegenwartige
Denken audi noch storend die Idee der sogenannten «See-
lenwanderung». Man empfindet es als kindlidi, wenn Py-
thagoras sogar gesagt haben soil, er wisse, dafi er in friihe-
ren Zeiten als anderes Menschenwesen bereits auf Erden
war. Es darf erinnert werden daran, dafi der grofie Ver-
treter der neueren Aufklarung, Lessing, in seiner «Erzie-
hung des Menschengeschlechtes» aus einem ganz anderen
Denken heraus, als das des Pythagoras war, diese Idee der
wiederholten Erdenleben des Menschen erneuert hat. Les-
sing konnte sich den Fortschritt des Menschengesdilechtes
nur so vorstellen, dafi die menschlichen Seelen an dem Le-
ben in den aufeinanderfolgenden Erdenzeitraumen wie-
derholt teilnehmen. Eine Seele bringt als Anlage usw. in
das Leben eines spateren Zeitraumes mit, was ihr von dem
Erleben in fruheren Zeitraumen geblieben ist. Lessing fin-
det es naturgemafi, dafi die Seele schon oft im Erdenleibe
da war und in Zukunft oft da sein werde und sich so von
Leben zu Leben zu der ihr moglichen Vollkommenheit
durchringt. Er macht darauf aufmerksam, dafi diese Idee
von den wiederholten Erdenleben nicht deshalb fur un-
glaubwiirdig angesehen werden miisse, weil sie in den alte-
sten Zeiten vorhanden war, «weil der menschliche Ver-
stand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und
geschwacht hatte, sogleich darauf verflel».
Bei Pythagoras ist diese Idee vorhanden. Doch ware es
ein Irrtum, zu glauben, dafi er sich ihr - wie auch Phere-
kydes, der im Altertum als sein Lehrer genannt wird -
hingegeben habe, weil er etwa - logisch schliefiend - ge-
dacht habe, dafi der oben angedeutete Weg, welchen die
Menschenseele zu ihrem Ursprunge durchzumachen habe,
nur in wiederholten Erdenleben zu erreichen sei. Ein soldi
verstandesmafiiges Denken dem Pythagoras zuzumuten,
hiefie ihn verkennen. - Es wird von seinen weiten Reisen
erzahlt. Davon, dafi er mit Weisen zusammengetroffen
sei, weldie Oberlieferungen altester menschlicher Einsidit
aufbewahrten. Wer beobaditet, was von altesten mensch-
lichen Vorstellungen iiberliefert ist, der kann zu der An-
schauung kommen, dafi die Ansidit von den wiederholten
Erdenleben in den Urzeiten weite Verbreitung gehabt hat.
An Ur-Lehren der Menschheit kniipfte Pythagoras an.
Die mythischen Bilderlehren seiner Umgebung mufiten
ihm wie verfallene Anschauungen ersdieinen, welche von
alteren, besseren herkamen. Diese Bilderlehren mulken
sich in seinem Zeitalter umwandeln in gedankenmafiige
Weltanschauung. Doch erschien ihm diese gedankliche
Weltanschauung nur als ein Teil des Seelenlebens. Dieser
Teil mufite vertieft werden; dann fiihrte er die Seele zu
ihren Ursprungen. Aber indem die Seele so vordringt, ent-
deckt sie in ihrem inneren Erleben die wiederholten Erden-
leben wie eine seelische W ahrnehmung. Sie kommt nicht
zu ihren Ursprungen, wenn sie den Weg dazu nicht durch
wiederholte Erdenleben hindurch findet. Wie ein Wan-
derer, der nach einem entfernten Orte gehend auf seinem
Wege naturgemafi durch andere Orte hindurchkommt, so
kommt die Seele, wenn sie zu den «Miittern» geht, durch
ihre vorangehenden Leben hindurch, durch welche schrei-
tend sie herabgestiegen ist von ihrem Sein im «Voilkom-
menen» zu ihrem gegenwartigen Leben im «Unvollkom-
menen». Man kann, wenn man alles in Betracht Kom-
mende berucksichtigt, gar nicht anders, als die Ansicht von
den wiederholten Erdenleben dem Pythagoras in diesem
Sinne, als seine innere Wahrnehmung, und nicht als be-
grifflich Erschlossenes, zuschreiben. - Nun wird als beson-
ders charakteristisch bei dem Bekennertum des Pythagoras
von der Ansicht gesprochen, dafi alle Dinge auf «den Zah-
len » beruhen. Wenn dies angefiihrt wird, so mufi beriick-
sichtigt werden, daiS sich das Pythagoreertum auch nach
dem Tode des Pythagoras bis in spatere Zeiten fortgesetzt
hat. Von spateren Pythagoreern werden genannt Philo-
laus, Archytas u. a. Von ihnen wufite man im Altertum
insbesondere, da& sie die «Dmge als Zahlen angesehen ha-
ben». Doch darf, wenn dies auch geschichtlich nicht mog-
lich scheint, diese Anschauung bis Pythagoras zuriickver-
folgt werden. Man wird nur die Voraussetzung machen
diirfen, dafi sie bei ihm tief und organisch in seiner gan-
zen Vorstellungsart begriindet war, dafi sie aber bei seinen
Nachfolgern eine veraufierlichteGestalt angenommen habe.
Man denke sich Pythagoras im Geiste vor dem Entstehen
der gedanklichen Weltanschauung stehend. Er sah, wie
der Gedanke seinen Ursprung in der Seele nimmt, nach-
dem diese, von den «Urmiittern» ausgehend, durch auf-
einanderfolgende Leben zu ihrer Unvollkommenheit her-
abgestiegen war. Indem er dieses empf and, konnte er nicht
durch den blofien Gedanken zu den Ursprungen hinauf-
steigen wollen. Er mufke die hochste Erkenntnis in einer
Sphare suchen, in welcher der Gedanke noch nichts zu tun
hat. Da fand er denn ein ubergedankliches Seelenleben.
Wie die Seele in den Tonen der Musik Verhaltniszahlen
erlebt, so lebte sich Pythagoras in ein seelisches Zusam-
menleben mit der Welt hinein, das der Verstand in Zah-
len aussprechen kann; doch sind die Zahlen fur das Er-
lebte nichts anderes, als was die vom Physiker gefundenen
Tonverhaltniszahlen fur das Erleben der Musik sind. -
An die Stelle der mythischen Gotter hat fur Pythagoras
der Gedanke zu treten; doch durch entsprechende Vertie-
fung findet die Seele, die sich mit dem Gedanken von der
Welt abgesondert hat, sich wieder in eins mit der Welt
zusammen. Sie erlebt sich als nicht abgesondert von der
Welt. Es ist das aber nicht in einer Region, in der das
Welt-Miterleben zum mythischen Bilde wird, sondern in
einer solchen, in der die Seele mit den unsichtbaren, sinn-
lich unwahrnehmbaren Weltenharmonien mitklingt und
in sich das zum Bewufitsein bringt, was nicht sie, sondern
die Weltenmachte wollen und in ihr Vorstellung werden
lassen.
An Pherekydes und Pythagoras enthullt sich, wie die
gedanklich erlebte Weltanschauung in der Menschenseele
ihren Ursprung nimmt. Im Herausringen aus alteren Vor-
stellungarten kommen diese Personlichkeiten zu innerem,
selbstandigem Erfassen der «Seele», zum Unterscheiden
derselben von der aufieren «Natur». Was an diesen beiden
Personlichkeiten anschaulich ist, das Sich-Herausringen
der Seele aus den alten Bildvorstellungen, das spielt sich
mehr im Seelen-Untergrunde ab bei den anderen Den-
kern, mit denen gewohnlich der Anfang gemacht wird in
der Schilderung der griechischen Weltanschauungsentwik-
kelung. Es werden zunachst gewohnlich genannt Thales
von Milet (624 — 546 v. Chr.), Anaxlmander (611 — 550
v. Chr.), Anaximenes (der zwischen 585 und 525 v. Chr.
seine Bliitezeit hatte) und Heraklit (etwa 540 — 480 v. Chr.
zu Ephesus).
Wer die vorangehenden Ausfiihrungen anerkennt, wird
eine Darstellung dieser Personlichkeiten billigen kbnnen,
welche von der in den geschichtlichen Schilderungen der
Philosophic gebrauchlichen abweichen mufi. Diesen Dar-
stellungen liegt ja doch stets die unausgesprochene Vor-
aussetzung zugrunde, dafi diese Personlichkeiten durch
eine unvollkommene Naturbeobachtung zu den von ihnen
iiberlieferten Behauptungen gekommen seien: Thales, dafi
im «Wasser», Anaximander in dem «Unbegrenzten», Ana-
ximenes in der «Luft», Heraklit im «Feuer» das Grund-
und Ursprungswesen aller Dinge zu suchen sei.
Dabei wird nicht bedadit, daft diese Personlichkeiten
durchaus nodi in dem Vorgange der Entstehung der ge-
danklichen Weltanschauung drinnen leben; daft sie zwar
in hoherem Grade als Pherekydes die Selbstandigkeit der
menschlichen Seele empfinden, doch aber noch die vollig
strenge Absonderung des Seelenlebens von dem Natur-
wirken nicht vollzogen haben. Man wird sich zum Bei-
spiel das Vorstellen des Thales ganz sicher irrtumlich zu-
rechtlegen, wenn man denkt, daft er als Kaufmann, Ma-
thematiker, Astronom iiber Naturvorgange nachgedacht
habe und dann in unvollkommener Art, aber doch so wie
ein moderner Forscher seine Erkenntnisse in den Satz zu-
sammengefaftt habe: «Alles stammt aus dem Wasser».
Mathematiker, Astronom usw. sein, bedeutete in jener
alten Zeit praktisch mit den entsprechenden Dingen zu tun
zu haben, ganz nach Art des Handwerkers, der sich auf
KunstgrifFe stutzt, nicht auf ein gedanklich-wissenschaft-
liches Erkennen.
Dagegen mufi fiir einen Mann wie Thales vorausgesetzt
werden, daft er die aufieren Naturprozesse noch ahnlich
erlebte wie die inneren Seelenprozesse. Was sich ihm in den
Vorgangen mit und an dem Wasser - dem fliissigen,
schlammartigen, erdig-bildsamen -, als Naturvorgange
darstellte, das war ihm gleich dem, was er seelisch-leiblich
innerlich erlebte. In minderem Grade als die Menschen der
Vorzeit erlebte er - aber doch erlebte er so - die Wasser-
wirkung in sich und in der Natur, und beide waren ihm
eine Kraftaufterung. Man darf darauf hinweisen, dafi noch
eine spatere Zeit die aufteren Naturwirkungen in ihrer
Verwandtsdiaft mit den innerlichen Vorgangen dachte, so
daft von einer «Seele» im gegenwartigen Sinne, die abge-
sondert vom Leibe vorhanden ist, nidit die Rede war. In
der Ansicht von den Temperamenten ist dieser Gesichts-
punkt noch in einem Nachklange festgehalten in die Zei-
ten der gedanklichen "Weltanschauung hinein. Man nannte
das melandiolische Temperament das erdige, das phlegma-
tisdie das wasserige, das sanguinische luftartig, das chole-
rische feurig. Das sind nicht blofie Allegorien. Man emp-
fand nidit ein vollig abgetrenntes Seelisdies; man erlebte
in sich ein Seelisch-Leibliches als Einheit, und in dieser
Einheit den Strom der Krafte, welche zum Beispiel durch
eine phlegmatisdie Seele gehen, wie dieselben Krafte
auften in der Natur durdi die Wasserwirkungen gehen.
Und diese aufteren "Wasserwirkungen scbaute man als das-
selbe, was man in der Seele erlebte, wenn man phlegma-
tisch gestimmt war. Die gegenwartigen Denkgewohnheiten
miissen den alten Vorstellungsarten sidi anpassen, wenn
sie in das Seelenleben friiherer Zeiten eindringen wollen.
Und so wird man in der "Weltanschauung des Thales
den Ausdruck fmden dessen, was ihn sein dem phlegmati-
schen Temperament verwandtes Seelenleben innerlidi er-
leben Iafit. Er erlebte das, was ihm als das Weltgeheimnis
vom "Wasser erschien, in sich. Man verbindet nut dem Hin-
weis auf das phlegmatisdie Temperament eines Menschen
eine schlimme Nebenbedeutung. So gerechtfertigt dies in
vielen Fallen ist, so wahr ist audi, daft das phlegmatisdie
Temperament, wenn es mit Energie des Vorstellens zu-
sammen auftritt, durch seine Gelassenheit, AfFektfreiheit,
Leidenschaftlosigkeit den Menschen zum "Weisen macht.
Eine solche Sinnesart bei Thales hat wohl bewirkt, daft er
von den Griedien als einer ihrer Weisen gefeiert worden
ist.
In anderer Art formte sich das Weltbild fiir Anaximenes,
der die Stimmung des Sanguinisdien in sidi erlebte.
Von ihm ist ein Aussprudi iiberliefert, der unmittelbar
zeigt, wie er das innere Erleben mit dem Luftelement als
Ausdruck des Weltgeheimnisses empfand: «Wie unsere
Seele, die ein Hauch ist, uns zusammenhalt, so umfangen
Luft und Hauch das A1L»
Herakllts Weltanschauung wird eine unbefangene Be-
trachtung ganz unmittelbar als Ausdruck seines choleri-
schen Innenlebens empfinden miissen. Ein Blick auf sein
Leben wird gerade bei diesem Denker manches Licht brin-
gen. Er gehorte einem der vornehmsten Geschlechter von
Ephesus an. Er wurde ein heftiger Bekampfer der demo-
kratischen Partei. Er wurde dies, weil sich ihm gewisse
Anschauungen ergaben, deren Wahrheit sich ihm im un-
mittelbaren inneren Erleben darstellte. Die Anschauungen
seiner Umgebung, an den seinigen gemessen, schienen ihm
ganz naturgemaE unmittelbar die Torheit dieser Umge-
bung zu beweisen. Er kam dadurch in so grofte Konflikte,
daft er seine Vaterstadt verliefi und ein einsames Leben
bei dem Artemistempel fuhrte. Man nehme dazu einige
Satze, die von ihm iiberliefert sind: «Gut ware es, wenn
alle Ephesier, die erwachsen sind, sich erhenkten und ihre
Stadt den Unmtindigen iibergaben . . .», oder das andere,
wo er von den Menschen sagt: «Toren in ihrer Unver-
standigkeit gleichen, auch wenn sie das Wahre horen,
den Tauben, von ihnen gilt: sie sind abwesend, wenn sie
anwesend sind.» - Ein inneres Erleben, das sich in soldier
Cholerik ausspricht, findet sich verwandt dem verzehren-
den Wirken des Feuers; es lebt nicht im bequemen ruhigen
Sein; es fiihlt sich eins mit dem «ewigen Werden». Still-
stand erlebt solche Seelenart als Widersinn; «Alles fliefit»
ist daher der beriihmte Satz des Heraklit. Es ist nur schein-
bar, wenn irgendwo ein beharrendes Sein auftritt; man
wird eine Heraklitisdie Empfindung wiedergeben, wenn
man das Folgende sagt: Der Stein scheint ein abgeschlos-
senes, beharrendes Sein darzustellen; dodi dies ist nur
sdieinbar: er ist im Innern wild bewegt, alle seine Teile
wirken aufeinander. Es wird die Denkweise des Heraklit
gewohnlich mit dem Satze charakterisiert: man konne
nidit zweimal in denselben Strom steigen; denn das zwei-
temal ist das Wasser ein anderes. Und ein Schuler Hera-
klits, Kratylus, steigerte den Ausspruch, indem er sagte:
audi einmal konne man nicht in denselben Strom steigen.
So ist es mit alien Dingen; wahrend wir auf das scheinbar
Beharrende hinblicken, ist es im allgemeinen Strome des
Daseins schon ein anderes geworden.
Man betrachtet eine Weltanschauung nicht in ihrer vol-
len Bedeutung, wenn man nur ihren Gedankeninhalt hin-
nimmt; ihr Wesentliches liegt in der Stimmung, welche sie
der Seele mitteilt; in der Lebenskraft, die aus ihr erwachst.
Man mufi fuhlen, wie sich Heraklit im Strome des Wer-
dens mit der eigenen Seele drinnen empfindet, wie die
Weltenseele bei ihm in der Menschenseele pulsiert und
dieser ihr eigenes Leben mitteilt, wenn sich die Menschen-
seele in ihr lebend weifi. Solchem Mit-Erleben mit der
Weltenseele entspringt bei Heraklit der Gedanke: Was
lebt, hat durch den durchlaufenden Strom des Werdens
den Tod in sich; aber der Tod hat wieder das Leben in
sich. Leben und Tod ist in unserem Leben und Sterben.
Alles hat alles andere in sich; nur so kann das ewige Wer-
den alles durchstromen. «Das Meer ist das reinste und un-
reinste Wasser, den Fischen trinkbar und heilsam, den
Mensdien untrinkbar und verderblidi.» «Dasselbe ist Le-
ben und Tod, Wachen, Schlafen, Jung, Alt, dieses sich
andernd ist jenes, jenes wieder dies.» «Gutes und Boses
sind eins.» «Der gerade Weg und der krumme . . . sind
eines nur.»
Freier von dem Innenleben, mehr dem Elemente des Ge-
dankens selbst hingegeben, ersdieint Anaximander. Er
sieht den Ursprung der Dinge in einer Art Weltenather,
einem unbestimmten, gestaltlosen Urwesen, das keine
Grenzen hat. Man nehme den Zeus des Pherekydes, ent-
kleide ihn alles dessen, was ihm noch von Bildhaftigkeit
eigen ist, und man hat das Urwesen des Anaximander: den
zum Gedanken gewordenen Zeus. In Anaximander tritt
eine Personlichkeit auf, in welcher aus der Seelenstimmung
heraus, die in den vorgenannten Denkern nodi ihre Tem-
peramentsschattierung hat, das Gedankenleben geboren
wird. Eine solche Personlichkeit fuhlt sich als Seele mit
dem Gedankenleben vereint und dadurch nicht mit der
Natur so verwachsen wie die Seele, welche den Gedanken
noch nicht als selbstandig erlebt. Sie fuhlt sich mit einer
Weltenordnung verbunden, welche iiber den Naturvor-
gangen liegt. Wenn Anaximander davon spricht, daft die
Menschen als Fische zuerst im Feuchten gelebt haben und
dann sich durch Landtierformen hindurchentwickelt ha-
ben, so bedeutet das fur ihn, daft der Geistkeim, als wel-
chen sich der Mensch durch den Gedanken erkennt, nur
wie durch Vorstufen durch die anderen Formen hindurch-
gegangen ist, um sich zuletzt die Gestalt zu geben, welche
ihm von vornherein angemessen ist.
Auf die genannten Denker folgen fur die geschichtliche
Darstellung: Xenophanes von Kolophon (geb. im 6. Jahr-
hundert v. Chr.); mit ihm seelisdi verwandt, wenn audi
junger: Parmenides (geb. um 540 v. Chr.; als Lehrer in
Athen lebend); Zenon von Elea (dessen Bliitezeit um 500
v. Chr. liegt); Melissos von Samos (der um 450 v. Chr.
lebte).
In diesen Denkern lebt das gedankliche Element bereits
in solchem Grade, daft sie eine Weltanschauung fordern
und einer solchen allein Wahrheit zuerkennen, in welcher
das Gedankenleben voll befriedigt wird. Wie muft der
Urgrund der Welt beschaffen sein, damit er innerhalb des
Denkens voll aufgenommen werden kann? - so f ragen sie. -
Xenophanes findet, daft die Volksgotter vor dem Denken
nicht bestehen konnen; also lehnt er sie ab. Sein Gott muft
gedacht werden konnen. Was die Sinne wahrnehmen, ist
veranderlich, ist mit Eigenschaften behaftet, welche dem
Gedanken nicht entsprechen, der das Bleibende suchen
muft. Daher ist Gott die im Gedanken zu erfassende, un-
wandelbare, ewige Einheit aller Dinge. - Parmenides sieht
in der aufteren Natur, welche die Sinne betrachten, das
Unwahre, Tauschende; in der Einheit, dem Unvergang-
lichen, das der Gedanke ergreift, allein das Wahre. Zenon
sucht mit dem Gedanken-Erleben in der Art sich ausein-
anderzusetzen, daft er auf die Widerspruche hinweist,
welche sich einer Weltbetrachtung ergeben, die in dem
Wandel der Dinge, in dem Werden, in demVielen, wel-
ches die auftere Welt zeigt, eine Wahrhek sieht. Von den
Widerspriichen, auf die er verweist, sei nur einer ange-
fiihrt. Es konne, meint er, der schnellste Laufer (Achilles)
die Schildkrote nicht erreichen; denn so langsam sie audi
krieche, wenn Achilles den Ort erreicht habe, den sie nodi
eben inne hatte, so sei sie ja dodi schon etwas weiter. Durch
solche Widerspriiche deutet Zenon an, wie ein Vorstellen,
das sich an die Aufienwelt halte, nicht mit sich zurecht
komme; er deutet auf die Schwierigkeit hin, welcher der
Gedanke begegnet, wenn er es versucht, die "Wahrheit zu
finden. Man wird die Bedeutung dieser Weltanschauung,
die man die eleatische nennt (Parmemdes und Zenon sind
aus Elea), erkennen, wenn man den Blick darauf lenkt,
da£ ihre Trager mit der Ausbildung des Gedanken-Erle-
bens so weit fortgeschritten sind, dafi sie dieses Erleben zu
einer besonderen Kunst, zur sogenannten Dialektik ge-
staltet haben. In dieser «Gedanken-Kunst» lernt sich die
Seele in ihrer Selbstandigkeit und inneren Geschlossenheit
erfiihlen. Damit wird die Realitat der Seele als das emp-
funden, was sie durch ihr eigenes Wesen ist, und als was
sie sich dadurch fiihlt, dafi sie nicht mehr, wie in der Vor-
zeit, das allgemeine Welt-Erleben mitlebt, sondern in sich
ein Leben - das Gedanken-Erleben - entfaltet, das in ihr
wurzelt, und durch das sie sich eingepflanzt fuhlen kann
in einen rein geistigen Weltengrund. Zunachst kommt
diese Empfindung noch nicht in einem deutlich ausgespro-
chenen Gedanken zum Ausdruck; man kann sie aber als
Empfindung lebendig in diesem Zeitalter fuhlen an der
Schatzung, welche ihr zuteil wird. Nach einem «Gesprache»
Platos wurde von Parmenides dem jungen Sokrates gesagt:
er solle von Zenon die Gedankenkunst lernen, sonst mufite
ihm die Wahrheit feme bleiben. Man empfand diese «Ge-
dankenkunst» als eine Notwendigkek fiir die Menschen-
seele, die an die geistigen Urgriinde des Daseins heran-
treten will.
Wer in dem Fortschritt der menschlichen Entwickelung
zur Stufe der Gedanken-Erlebnisse nicht sieht, wie mit
dem Anfang dieses Lebens wirkliche Erlebnisse - die Bild-
Erlebnisse - aufhorten, die vorher vorhanden waren, der
wird die besondere Eigenart der Denkerpersonlichkeiten
vom seclisten und den folgenden vorchristlichen Jahrhun-
derten in Griechenland in anderem Lichte sehen als in
dem, in welchem sie in diesen Ausfiihrungen dargestellt
werden miissen. Der Gedanke zog etwas wie eine Mauer
um die Menschenseele. Friiher war sie, ihrem Empfmden
nach, in den Naturerscheinungen drinnen; und was sie mit
diesen Naturerscheinungen zusammen so erlebte, wie sie
die Tatigkeit des eigenen Leibes erlebte, das stellte sich
vor sie in Bild-Erscheinungen hin, welche in ihrer Leben-
digkeit da waren; jetztwar das ganze Bildergemalde durch
die Kraft des Gedankens ausgeloscht. Wo sich vorher die
inhaltvollen Bilder breiteten, da spannte sich jetzt der Ge-
danke durch die Auftenwelt. Und die Seele konnte sich in
dem, was auften in Raum und Zeit sich breitet, nur fuh-
len, indem sie sich mit dem Gedanken verband. - Man
empfindet eine solche Seelenstimmung, wenn man auf Ana-
xagoras aus Klazomena in Kleinasien (geb. um 500 v.Chr.)
blickt. Er fuhlt sich in seiner Seele mit dem Gedanken-
leben verbunden; dieses Gedankenleben umspannt, was im
Raume und in der Zeit ausgedehnt ist. So ausgedehnt er-
scheint es als der Nus, der Weltenverstand. Dieser durch-
dringt als Wesenheit die ganze Natur. Die Natur aber
stellt sich selbst nur als zusammengesetzt aus kleinen Ur-
wesen dar. Die Naturvorgange, welche durch das Zusam-
menwirken dieser Urwesen sich ergeben, sind das, was die
Sinne wahrnehmen, nachdem das Bildergemalde aus der
Natur gewichen ist. Homoiomerien werden diese Urwesen
genannt. In sich erlebt die Menschenseele den Zusammen-
hang mit dem Weltverstand (dem Nus) im Gedanken in-
nerhalb ihrer Mauer; durdi die Fenster der Smne blickt
sie auf dasjenige, was der Weltverstand durch das Auf-
einanderwirken der «Homoiomerien» entstehen lafit.
In Empedokles (der urn 490 v. Chr. in Agrigent ge-
boren ist), lebte eine Personlichkeit, in deren Seele die alte
und die neue Vorstellungsart wie in einem heftigen Wi-
derstreit aufeinanderstofien. Er fiihlt noch etwas von dem
Verwobensein der Seele mit dem aufieren Dasein. Haft
und Liebe, Antipathie und Sympathie leben in der Men-
schenseele; sie leben audi aufierhalb der Mauer, welche die
Mensdienseele umschliefit; das Leben der Seele setzt sidi
so aufierhalb derselben gleichartig fort und erscheint in
Kraften, welche die Elemente der aufieren Natur: Luft,
Feuer, Wasser, Erde trennen und verbinden und so das
bewirken, was die Sinne in der Aufienwelt wahrnehmen.
Empedokles steht gewissermafien vor der den Sinnen
entseelt erscheinenden Natur und entwickelt eine Seelen-
stimmung, welche sich gegen diese Entseelung auflehnt.
Seine Seele kann nicht glauben, daft dies das wahre Wesen
der Natur ist, was der Gedanke aus ihr machen will. Am
wenigsten kann sie zugeben, dafi sie zu dieser Natur in
Wahrheit nur in einem solchen Vernaltnisse stehe, wie es
sidi der gedanklichen Weltanschauung ergibt. Man mufi
sidi vorstellen, was in emer Seele vorgeht, die in aller
Scharfe solchen inneren Zwiespalt erlebt, an ihm leidet;
dann wird man nachfuhlen, wie in dieser Seele des Em-
pedokles die alte Vorstellungsart als Kraft des Empfindens
aufersteht, aber unwillig ist, sich dies zum vollen Bewuftt-
sein zu bringen, und so in gedanken-bilderhafter Art ein
Dasein sucht, - in jener Art, von der Ausspriiche des Em-
pedokles ein Widerklang sind, die, aus dem hier Ange-
deuteten heraus verstanden, ihre Sonderbarkeit verlieren.
Wird doch von ihm ein Spruch wie dieser angefiihrt:
«Lebt wohl. Nicht mehr ein Sterblidier, sondern ein un-
sterblidier Gott wandle idi umher; . . . und sobald ich in
die bliihenden Stadte komme, werde idi von Mannern und
Frauen verehrt: sie schliefien sidi an mich an zu Tausen-
den, mit mir den Weg zu ihrem Heile suchend, da die
einen Weissagungen, die anderen Heilspriiche fur mannig-
faltige Krankheiten von mir erwarten.» So betaubt sidi
die Seele, in weldier eine alte Vorstellungsart rumort, die
sie ihr eigenes Dasein wie das eines verbannten Gottes
empfinden lafit, der aus einem anderen Sein in die ent-
seelte Welt der Sinne versetzt ist, und der deshalb die
Erde als «ungewohnten Ort» empfindet, in den er wie zur
Strafe geworfen ist. Man kann gewifi audi noch andere
Empfindungen in der Seele des Empedokles finden; denn
es leuditen aus seinen Ausspruchen Weisheitsblitze bedeut-
sam heraus; sein Gefuhl gegeniiber der «Geburt der ge-
danklidien Weltansdiauung» ist durdi solcbe Stimmungen
gegeben.
Anders als diese Persdnlichkeit sahen diejenigen Denker,
welche man die Atomisten nennt, auf das bin, was fiir die
Seele des Mensdien aus der Natur durdi die Geburt des
Gedankens geworden war. Man sieht den bedeutendsten
unter ihnen in Demokrit (geb. um 460 v. Chr. in Abdera).
Leukipp ist ihm eine Art Vorlaufer.
Bei Demokrit sind die Homoiomerien des Anaxagoras
um einen bedeutenden Grad stoff licber geworden. Bei Ana-
xagoras kann man die Ur-Teil-Wesen nodi mit lebendi-
gen Keimen vergleichen; bei Demokrit werden sie zu to-
ten, unteilbaren StofFteildien, weldie durdi ihre versdiie-
denen Kombinationen die Dinge der Auftenwelt zusam-
mensetzen. Sie bewegen sidi voneinander, zueinander,
durcheinander: so entstehen die Naturvorgange. - Der
Weltverstand (Nus) des Anaxagoras, welcher wie ein gei-
stiges (korperloses) Bewulksein in zweckvoller Art die
Weltenvorgange aus dem Zusammenwirken der Homoio-
merien hervorgehen lafit, wird bei Demokrit zur bewufit-
losen NaturgesetzmaiSigkeit (Ananke). - Die Seele will
nur gelten lassen, was sie als nachstliegendes Gedanken-
ergebnis erfassen kann; die Natur ist vollig entseelt; der
Gedanke verblafk als Seelen-Erlebnis zum inneren Schat-
tenbilde der entseelten Natur. Damit ist durch Demokrit
das gedanklidie Urbild aller mehr oder weniger materia-
listisch gefarbten Weltanschauungen der Folgezeit in die
Erscheinung getreten.
Die Atomen-Welt des Demokrit stellt eine Auflenwelt,
eine Natur dar, in welcher nichts von «Seele» lebt. Die
Gedanken-Erlebnisse in der Seele, durch deren Geburt die
Menschenseele auf sich selbst aufmerksam geworden ist:
bei Demokrit sind sie blofie Schatten-Erlebnisse. Damit ist
ein Teil des Schicksals der Gedanken-Erlebnisse gekenn-
zeichnet. Sie bringen die Menschenseele zum Bewufitsein
ihres eigenen Wesens, aber sie erfullen sie zugleich mit Un-
gewifiheit iiber sich selbst. Die Seele erlebt sich durch den
Gedanken in sich selbst, aber sie kann sich zugleich los-
gerissen fiihlen von der geistigen, von ihr unabhangigen
Weltmacht, die ihr Sicherheit und inneren Halt gibt. So
losgebunden in der Seele fiihlten sich diejenigen Person-
lichkeiten, welchen man innerhalb des griechischen Geistes-
lebens den Namen «Sophisten» gibt. Die bedeutendste in
ihren Reihen ist Protagoras (von Abdera urn 480 — 410
v. Chr.). Neben ihm kommen in Betracht: Gorgias, Kri-
tias, Hippias, Trasymachus, Prodikus. Die Sophisten wer-
den oftmals als Menschen hingestellt, die mit dem Denken
ein oberflachliches Spiel getrieben haben. Viel hat zu die-
ser Meinung die Art beigetragen, wie sie der Lustspiel-
diditer Aristophanes behandelt hat. Es kommt aber, neben
vielem anderen, schon als aufierlicher Grund zu einer bes-
seren Wiirdigung zum Beispiel in Betracht, dafi selbst So-
krates, der sich in gewissen Grenzen als Schiiler des Prodi-
kus fiihlte, diesen als einen Mann bezeichnet haben soil,
der fiir die Veredelung der Sprache und des Denkens bei
seinen Schulern gut gewirkt hat. Protagoras' Anschauung
erscheint in dem beriihmten Satze ausgesprochen: «Der
Mensch ist das Mafi aller Dinge, der seienden, dafi sie sind,
der nicht seienden, dafi sie nicht sind.» In der Gesinnung,
welche diesem Satz zugrunde liegt, fiihlt sidi das Gedan-
ken-Erlebnis souveran. Einen Zusammenhang mit einer
objektiven Weltenmacht empfindet es nidit. Wenn Par-
menides meint: DieSinne geben demMenschen erne Welt
der Tausdiung, - man konnte nodi weiter gehen und hin-
zufiigen: Warum sollte das Denken, das man zwar erlebt,
nicht auch tauschen? Doch Protagoras wiirde erwidern:
"Was kann es den Menschen bekiimmern, ob die Welt aufier
ihm anders ist, als er sie wahrnimmt und denkt? Stellt er
sie denn fiir jemand anderen als fiir sich vor? Mag sie fiir
ein anderes Wesen sein wie immer, der Mensch braucht
sich daruber keine Sorge zu machen. Seine Vorstellungen
sollen doch nur ihm dienen; er soli mit ihrer Hilfe seinen
"Weg in der Welt finden. Er kann, wenn er sich vollig klar
iiber sidi wird, keine anderen Vorstellungen uber die Welt
haben wollen als solche, welche ihm dienen. Protagoras
will auf das Denken bauen konnen; dazu stiitzt er es ledig-
lich auf dessen eigene Machtvollkommenheit.
Damit aber setzt sich Protagoras in gewisser Beziehung
in Widerspruch mit dem Geiste, der in den Tiefen des
Griedientums lebt. Dieser «Geist» ist deutlidi vernehm-
bar innerhalb des griechischen Wesens. Er spricht bereits
aus der Aufschrift des delphischen Tempels «Erkenne dich
selbst». Diese alte Orakelweisheit spricht so, als ob sie die
Aufforderung enthieltezu demWeltanschauungsfortschritt,
der sich aus dem Bildervorstellen zu dem gedanklichen Er-
greifen der Weltgeheimnisse vollzieht. Es ist durch diese
Aufforderung der Mensch hingewiesen auf die eigene Seele.
Es wird ihm gesagt, dafi er in ihr die Sprache vernehmen
konne, durch welche die Welt ihr Wesen ausspricht. Aber
es wird damit audi auf etwas verwiesen, was in seinem
eigenen Erleben sich UngewilSheiten und Unsicherheiten
erzeugt. Die Geister innerhalb Griechenlands sollten die
Gefahren dieses sich auf sich selbst stiitzenden Seelen-
lebens besiegen. So sollten sie den Gedanken in der Seele
zur Weltanschauung ausgestalten. - Die Sophisten sind
dabei in ein gefahrliches Fahrwasser geraten. In ihnen
stellt sich der Geist des Griechentums wie an einen Ab-
grund; er will sich die Kraft des Gleichgewichts durch
seine eigene Macht geben. Man sollte, wie schon angedeu-
tet worden ist, mehr auf den Ernst dieses Versuches und
auf seine Kiihnheit blicken, als ihn leichthin anklagen,
wenn auch die Anklage fur viele der Sophisten gewifi be-
rechtigt ist. - Doch stellt sich dieser Versuch naturgemafi
in das griechische Leben an einem Wendepunkte hinein.
Protagoras lebte um 480 — 410 v. Chr. Der Peloponnesische
Krieg, der an dem Wendepunkte des griechischen Lebens
steht, fand statt von 431 — 404 v. Chr. Vorher war in
Griechenland der einzelne Mensch fest in die sozialen Zu-
sammenhange eingeschlossen; die Gemeinwesen und die
Tradition gaben ihm den Maftstab fur sein Handeln und
Denken ab. Die einzelne Personlichkeit hatte nur als Glied
des Ganzen Wert und Bedeutung. Unter solchen Verhalt-
nissen konnte nodi nicht die Frage gestellt werden: Was
ist der einzelne Mensch wert? Die Sophistik stellt diese
Frage, und sie macht damit den Schritt zu der griediischen
Aufkldrung hin. Es ist doch im Grunde die Frage: Wie
richtet sich der Mensch sein Leben ein, nachdem er sich
des erwaditen Gedankenlebens bewufit geworden ist?
Von Pherekydes (oder Thales) bis zu den Sophisten ist
in Griechenland innerhalb der Weltanschauungsentwicke-
lung das allmahliche Einleben des schon vor diesen Per-
sonlichkeiten geborenen Gedankens zu beobachten. An
ihnen zeigt sich, wie der Gedanke wirkt, wenn er in den
Dienst der Weltanschauung gestellt wird. Doch ist diese
Geburt in der ganzen Breite des griediischen Lebens zu
bemerken. Die Weltanschauung ist nur ein Gebiet, auf
dem sich eine allgemeine Lebenserscheinung in einem be-
sonderen Falle auslebt. Man konnte eine ganz ahnliche
Entwickelungsstromung auf den Gebieten der Kunst, der
Dichtung, des offentlichen Lebens, der verschiedenen Ge-
biete des Handwerks, des Verkehrs nachweisen. Diese Be-
trachtung wiirde iiberall zeigen, wie die menschlidie Wirk-
samkeit eine andere wird unter dem Einflusse derjenigen
Organisation des Menschen, die in die Weltanschauung
den Gedanken einfiihrt. Die Weltanschauung «entdeckt»
nicht etwa den Gedanken, sie entsteht vielmehr dadurch,
dafi sie sich des geborenen Gedankenlebens zum Aufbau
eines Weltbildes bedient, das vorher aus anderen Erleb-
nissen sich gebildet hat.
Kann man von den Sophisten sagen, dafi sie den Geist
des Griechentums an eine gefahrliche Klippe brachten, der
sich in dem «Erkenne dich selbst» ausdriickt, so mufi in
Sokrates eine Personlichkeit gesehen werden, welche die-
sen Geist mit einem hohen Grade von Vollkommenheit
zum Ausdruck brachte. Sokrates ist in Athen um 470 ge-
boren und wurde 399 v. Chr. zum Tode durch Gift ver-
urteilt.
Geschichtlich stent Sokrates durdi zwei Oberlieferun-
gen vor dem Betraditer. Einmal in der Gestalt, die sein
grower Schiiler Plato (427 — 347 v. Chr.) gezeichnet hat.
Plato stellt seme Weltanschauung in Gesprachsform dar.
Und Sokrates tritt in diesen «Gesprachen» lehrend auf. Da
erscheint dieser als «der Weise», der die Personen seiner
Umgebung durch seine geistige Fiihrung zu hohen Erkennt-
nisstufen geleitet. Ein zweites Bild hat Xenophon in sei-
nen «Erinnerungen» an Sokrates gezeichnet. Zunachst er-
scheint es, als ob Plato das Wesen des Sokrates idealisiert,
Xenophon mehr der unmittelbaren Wirklichkeit nachge-
zeichnet hatte. Eine mehr in die Sache eingehende Betrach-
tung konnte wohl finden, dafi Plato sowohl wie Xeno-
phon, ein jeder von Sokrates das Bild zeichnen, das sie
nach ihrem besonderen Gesichtspunkte empfangen haben,
und dafi man daher ins Auge fassen darf, inwiefern die
beiden sich erganzen und gegenseitig beleuchten.
Bedeutungsvoll muE zunachst erscheinen, dafi des So-
krates Weltanschauung vollig als ein Ausdruck seiner Per-
sonlichkeit, des Grundcharakters seines Seelenlebens auf
die Nachwelt gekommen ist. Sowohl Plato wie Xenophon
stellen Sokrates so dar, dafi man den Eindruck hat: in ihm
spricht iiberall seine personliche Meinung; aber die Per-
sonlichkeit tragt das Bewufitsein in sich: Wer seine person-
liche Meinung aus den rechten Griinden der Seele heraus-
spricht, der spricht etwas aus, was mehr ist als Menschen-
meinung, was ein Ausdruck ist der Absichten der Welt-
ordnung durch das menschliche Denken. — Sokrates wird
von denen, die ihn zu kennen glauben, so aufgenommen,
dafi er ein Beweis dafiir ist: in der Menschenseele kommt
denkend die Wahrheit zustande, wenn diese Menschen-
seele mit ihrem Grundwesen so verbunden ist, wie es bei
Sokrates der Fall war. Indem Plato auf Sokrates blickt,
tragt er nicht eine Lehre vor, die durch Nachdenken «fest-
gestellt» wird, sondern er lafit einen im rechten Sinne ent-
wickelten Menschen sprechen und beobachtet, was dieser
als Wahrheit hervorbringt. So wird die Art, wie sich Plato
zu Sokrates verhalt, zu einem Ausdruck dafiir, was der
Mensch in seinem Verhaltnis zur Welt ist. Nicht allein das
ist bedeutsam, was Plato uber Sokrates vorgebracht hat,
sondern das, wie er in seinem schriftstellerischen Verhal-
ten Sokrates in die Welt des griechischen Geisteslebens
hineingestellt hat.
Mit der Geburt des Gedankens war der Mensch auf
seine «Seele» hingelenkt. Nun entsteht die Frage: Was
sagt diese Seele, wenn sie sich zum Sprechen bringt und
ausdriickt, was die Weltenkrafte in sie gelegt haben? Und
durch die Art, wie Plato sich zu Sokrates stellt, ergibt sich
die Antwort: In der Seele spricht die Vernunft der Welt
dasjenige, was sie dem Menschen sagen will. - Damit ist
begriindet das Vertrauen in die OfFenbarungen der Men-
schenseele, insofern diese den Gedanken in sich entwickelt.
Im Zeichen dieses Vertrauens erscheint die Gestalt des So-
krates.
In alten Zeiten fragte der Grieche bei den Priesterstat-
ten in wichtigen Lebensfragen an; er liefi sich «weissagen»,
was der Wille und die Meinung der geistigen Machte ist.
Solche Einrichtung steht im Einklange mit einem Seelen-
Erleben in Bildern. Durdi das Bild fiihlt der Mensch sich
dem "Waken der weltregierenden Machte verbunden. Die
"Weissagestatte ist dann die Einrichtung, durdi welche ein
besonders dazu geeigneter Mensch den Weg zu den gei-
stigen Machten besser findet als andere Menschen. So lange
man sich mit seiner Seele nicht abgesondert von der Aufien-
welt fiihlte, war die Empfindung naturgemafi, dafi diese
Auftenwelt durdi eine besondere Einrichtung mehr zum
Ausdruck bringen konnte als in dem Alltags-Erleben. Das
Bild sprach von aufien; warum sollte die Aufienwelt an
besonderem Orte nicht besonders deutlich sprechen kon-
nen? Der Gedanke spricht zum Innern der Seele. Damit
ist diese Seele auf sich selbst gewiesen; mit einer anderen
Seele kann sie sich nicht so verbunden wissen wie mit den
Kundgebungen der priesterlichen Weissagestatte. Man
mulke dem Gedanken die eigene Seele hingeben. Man
fiihlte von dem Gedanken, dafi er Gemeingut der Men-
schen ist.
In das Gedankenleben leuchtet die Weltvernunft hin-
ein ohne besondere Einrichtungen. Sokrates empfand: In
der denkenden Seele lebt die Kraft, welche an den «Weis-
sagestatten» gesucht wurde. Er empfand das «Damonium»,
die geistige Kraft, die die Seele fuhrt, in sich. Der Ge-
danke hat die Seele zum Bewufitsein ihrer selbst gebracht. -
Mit seiner Vorstellung des in ihm sprechenden Damo-
niums, das, ihn stets fuhrend, sagte, was er zu tun habe,
wollte Sokrates ausdrucken: Die Seele, die sich im Gedan-
kenleben gefunden hat, darf sich fiihlen, als ob sie in sich
mit der Weltvernunft verkehrte. Es ist dies der Ausdruck
der Wertschatzung dessen, was die Seele in dem Gedan-
Isen-Erleben hat.
Unter dem Einflusse dieser Anschauung wird die «Tu-
gend» in ein besonderes Licht geruckt. Wie Sokrates den
Gedanken schatzt, so mufi er voraussetzen, dafi sich die
wahre Tugend des Menschenlebens dem Gedankenleben
offenbart. Die rechte Tugend mufi in dem Gedankenleben
gefunden werden, we'd das Gedankenleben dem Menschen
seinen Wert verleiht. «Die Tugend 1st lehrbar», so wird
des Sokrates Vorstellung zumeist ausgesprochen. Sie ist
lehrbar, weil sie der besitzen mufi, welcher das Gedanken-
leben wahrhaftig ergreift. Bedeutsam ist, was in dieser Be-
ziehung Xenophon von Sokrates sagt. Sokrates belehrt
einen Schuler iiber die Tugend. Es entwickelt sidi das fol-
gende Gesprach. Sokrates sagt: «Glaubst du nun, dafi es
eine Lehre und Wissenschaft der Gerechtigkeit gibt, eben-
so wie eine Lehre der Grammatik?» Der Schuler: «Ja.»
Sokrates: «Wen haltst du nun fur fester in der Gramma-
tik, den, welcher mit Absicht nicht richtig schreibt und
liest, oder den, welcher unabsichtlich?» Schuler: «Den, soll-
te ich meinen, der es absichtlich tut, denn wenn er wollte,
konnte er es audi richtig machen.» Sokrates: «Scheint dir
nun nicht der, welcher absichtlich unrichtig schreibt, das
Schreiben zu verstehen, der andere aber nicht? » Schuler:
«Ohne 2weifeL» Sokrates: «Wer versteht sich nun aber
besser auf das Gerechte, der absichtlich liigt oder betrugt,
oder wer unabsichtlich?» (Xenophons Erinnerungen an
Sokrates - Memorabilia iibersetzt von Giithling.) Es han-
delt sich fur Sokrates darum, dem Schuler klarzumachen,
daft es darauf ankomme, die richtigen Gedanken iiber die
Tugend zu haben. Audi dasjenige, was Sokrates von der
Tugend sagt, zielt also darauf hinaus, das Vertrauen zu
der im Gedanken-Erlebnis sich erkennenden Seele zu be-
grunden. Man mufi auf den rechten Gedanken der Tugend
mehr vertrauen als auf alle anderen Motive. Den Men-
schen macht die Tugend schatzenswert, wenn er sie in Ge-
danken erlebt.
So kommt in Sokrates zum Ausdruck, wonadi die vor-
sokratische Zeit strebte: Wertschatzung dessen, was der
Menschenseele gegeben ist durch das erwachte Gedanken-
leben. Sokrates* Lehrmethode steht unter dem Einflusse
dieser Vorstellung. Er tritt an den Menschen heran mit der
Voraussetzung: in ihm ist das Gedankenleben; es braucht
nur geweckt zu werden. Deshalb richtet er seine Fragen
so ein, daft der Gefragte zum Erwecken seines Gedanken-
lebens veranlafit wird. Darinnen liegt das Wesentliche der
sokratischen Methode.
Der 427 v. Chr. in Athen geborene Plato empfand als
Schiiler des Sokrates, daft ihm durch diesen das Vertrauen
in das Gedankenleben sich befestigte. Das, was die ganze
bisherige Entwickelung zur Erscheinung bringen wollte:
in Plato erreicht es einen Hohepunkt. Es ist die Vorstel-
lung, daft im Gedankenleben sich der Weltengeist offen-
bart. Von dieser Empfindung wird zunachst Platos gan-
zes Seelenleben iiberleuchtet. Alles, was der Mensch durch
die Sinne oder auf sonst eine Art erkennt, ist nicht wert-
voll, solange die Seele es nicht in das Licht des Gedankens
geriickt hat. Philosophic wird fur Plato die Wissenschaft
von den Ideen als dem wahren Seienden. Und die Idee
ist die OfTenbarung des Weltengeistes durch die Gedan-
ken-Offenbarung. Das Licht des Weltengeistes scheint in
die Menschenseele, ofTenbart sich da als Ideen; und die
Menschenseele vereinigt sich, indem sie die Idee ergreift,
mit der Kraft des Weltgeistes. Die im Raum und in der
Zeit ausgebreitete Welt ist wie die Meereswassermasse, in
der sich die Sterne spiegeln; doch ist wirklich nur, was
sich als Idee spiegelt. So verwandelt sich fur Plato die
ganze Welt in die aufeinander wirkenden Ideen. Deren
Wirken in der Welt kommt zustande dadurdi, dafi die
Ideen sidi in der Hyle, der Urmaterie, spiegeln. Durch
diese Spiegelung ersteht das, was als viele Einzeldinge und
Einzelvorgange der Mensch sieht. Aber man braucht das
Erkennen nicht auf die Hyle, den UrstofF, auszudehnen,
denn in ihm ist nicht die Wahrheit. Zu dieser kommt man
erst, wenn man von dem Weltbilde alles abstreift, was
nicht Idee ist.
Die Mensdienseele ist fur Plato in der Idee lebend;
aber dieses Leben ist so gestaltet, dafi diese Seele nicht in
alien ihren Aufierungen eine Offenbarung ihres Lebens in
den Ideen ist. Insofern die Seele in das Ideenleben ein-
getaucht ist, erscheint sie als die «verniinftige Seele» (ge-
dankentragende Seele). Als solche erscheint sich die Seele,
wenn sie im Gedankenwahrnehmen sich selber offenbar
wird. In ihrem irdischen Dasein ist sie aufierstande, sich
nur so zu offenbaren. Sie mufi sich auch so zum Ausdruck
bringen, dafi sie als «unvernunftige Seele» (nicht gedan-
kentragende Seele) erscheint. Und als solche tritt sie wie-
der in zweifacher Art auf, als mutentwickelnde und als
begierdevolle Seele. So scheint Plato in der Menschenseele
drei Glieder oder Teile zu unterscheiden: die Vernunft-
seele, die mutartige Seele und die Begierdeseele. Man wird
aber den Geist seiner Vorstellungsart besser treffen, wenn
man dies in anderer Art ausdriickt: Die Seele ist ihrem
Wesen nach ein Glied der Ideenwelt. Als solche ist sie Ver-
nunftseele. Sie betatigt sich aber so, dafi sie zu ihrem Le-
ben in der Vernunft hmzufugt eine Betatigung durch das
Mutartige und das Begierdehafte. In dieser dreifachen
Aufierungsart ist sie Erdenseele. Sie steigt als Vernunft-
seele durch die physische Geburt zum Erdendasein herab
und geht mit dem Tode wieder in die Ideenwelt ein. In-
sofern sie Vernunftseele ist, ist sie unsterblicb, denn sie
lebt als solche das ewige Dasein der Ideenwelt mit.
Diese Seelenlehre des Plato erscheint als eine bedeut-
same Tatsache innerhalb des Zeitalters der Gedanken-
wahrnehmung. Der erwachte Gedanke wies den Mensdien
auf die Seele hin. Bei Plato entwickelt sich eine Anschau-
ung iiber die Seele, die ganz Ergebnis der Gedankenwahr-
nehmung ist. Der Gedanke hat sidi in Plato erkiihnt, nicht
nur auf die Seele hinzuweisen, sondern auszudriicken, was
die Seele ist, sie gewissermafien zu besdireiben. Und, was
der Gedanke iiber die Seele zu sagen hat, gibt dieser die
Kraft, sich im Ewigen zu wissen. Ja, es beleuchtet der Ge-
danke in der Seele sogar die Natur des Zeitlichen, indem
er sein eigenes Wesen iiber dieses Zeitliche hinaus erwei-
tert. Die Seele nimmt den Gedanken wahr. So wie sie im
Erdenleben sich offenbart, ist die reine Gestalt des Ge-
dankens in ihr nicht zu entwickeln. Woher kommt das
Gedankenerleben, wenn es nicht im Erdenleben entwickelt
werden kann? Es bildet eine Erinnemng an einen vorirdi-
schen, rein geistigen Zustand. Der Gedanke hat die Seele
so ergriffen, dafi er sich mit ihrer irdischen Existenz nicht
begniigt. Er ist der Seele geoffenbart in einer Vorexistenz
(Praexistenz) in der Geisteswelt (Ideenwelt), und die
Seele holt ihn wahrend ihrer irdischen Existenz durch Er-
innerung aus jenem Leben herauf, das sie im Geiste ver-
bracht hat.
Es ergibt sich aus dieser SeelenaufFassung, was Plato iiber
das sittliche Leben zu sagen hat. Die Seele ist sittlich, wenn
sie das Leben so einrichtet, dafi sie moglichst stark sich als
Vernunftseele zum Ausdruck bringt. Die Weisheit ist die
Tugend, welche aus der Vernunftseele stammt; sie ver-
edelt das mensdiliche Leben; die Starkmut kommt der
mutartigen, die Besonnenheit der begierdevollen Seele zu.
Die beiden letzteren Tugenden entstehen, wenn die Ver-
nunftseele iiber die anderen Seelenoffenbarungen zum
Herrscher wird. Wenn alle drei Tugenden harmonisch im
Menschen zusammenwirken, so entsteht das, was Plato
die Gerechtigkeit - die Richtung auf das Gute, Dikaiosyne -
nennt.
Platos Schuler Aristoteles (geb. 384 v. Chr. in Stagira
in Thrazien, gest. 321 v. Chr.) bezeichnet neben seinem
Lehrer einen Hohepunkt des griediisdien Denkens. Bei
ihm ist das Einleben des Gedankens in die Weltanschau-
ung bereits vollzogen und zur Ruhe gekommen. Der Ge-
danke tritt sein rechtmafiiges Besitztum an, urn die Wesen
und Vorgange der "Welt von sich aus zu begreifen. Plato
wendet sein Vorstellen noch dazu an, den Gedanken in
seine Herrschaft einzusetzen und ihn zur Ideenwelt zu
fiihren. Bei Aristoteles ist diese Herrschaft selbstverstand-
lich geworden. Es kommt ferner darauf an, sie iiber die
Gebiete der Erkenntnis hin iiberall zu befestigen. Aristo-
teles versteht, den Gedanken als ein Werkzeug zu ge~
brauchen, das in das Wesen der Dinge eindringt. Fiir Plato
handelt es sich darum, das Ding oder Wesen der Aufien-
welt zu iiberwinden; und wenn es iiberwunden ist, tragt
die Seele *die Idee in sich, von welcher das Auftenwesen
nur iiberschattet war, ihm aber fremd ist, und in einer
geistigen Welt der Wahrheit iiber ihm schwebt. Aristote-
les will in die Wesen und Vorgange untertauchen, und
was die Seele bei diesem Untertauchen findet, das ist ihm
das Wesen des Dinges selbst. Die Seele fuhlt, wie wenn
sie dieses Wesen nur aus dem Dinge herausgehoben und
fiir sich in die Gedankenform gebracht hatte, damit sie es
wie ein Andenken an das Ding mit sich tragen konne. So
sind fiir Aristoteles die Ideen in den Dingen und Vorgan-
gen; sie sind die eine Seite der Dinge, diejenige, welche die
Seele mit ihren Mitteln aus ihnen herausheben kann; die
andere Seite, welche die Seele nicht aus den Dingen her-
ausheben kann, durch welche diese ihr auf sich gebautes
Leben haben, ist der Stoff, die Mater ie (Hyle).
Wie bei Plato auf dessen ganze Weltanschauung von
seiner Seelenanschauung aus Licht fallt, so ist dieses auch
bei Aristoteles der Fall. Bei beiden Denkern liegt die Sache
so, dafi man das Grundwesen ihrer ganzen Weltanschau-
ung charakterisiert, wenn man dies fiir ihre Seelenanschau-
ung vollbringt. Gewift kamen fiir beide Denker viele Ein-
zelheiten in Betracht, die in diesen Ausfuhrungen keine
Stelle finden konnen; doch gibt bei beiden die Seelenauf-
fassung die Ricktung, welche ihre Vorstellungsart genom-
men hat.
Fiir Plato kommt in Betracht, was in der Seele lebt und
als solches an der Geisteswelt Anteil hat; fiir Aristoteles
ist wichtig, wie die Seele sich im Menschen fiir dessen eigene
Erkenntnis darstellt. Wie in die anderen Dinge mufi die
Seele auch in sich selbst untertauchen, um in sich dasjenige
zu finden, was ihr Wesen ausmacht. Die Idee, welche im
Sinne des Aristoteles der Mensch in einem aufierseelischen
Dinge findet, ist zwar dieses Wesen des Dinges; aber die
Seele hat dieses Wesen in die Ideenform gebracht, um es
fiir sich zu haben. Ihre Wirklichkeit hat die Idee nicht in
der erkennenden Seele, sondern in dem Aufiendinge mit
dem Stoffe (der Hyle) zusammen. Taucht die Seele aber
in sich selbst unter, so findet sie die Idee als solche in Wirk-
lichkeit. Die Seele ist in diesem Sinne Idee, aber tatige
Idee, wirksame Wesenheit. Und sie verhalt sich auch im
Leben des Mensdien als solche wirksame Wesenheit. Sie
erfafit im Keimesleben des Mensdien das Korperliche.
Wahrend bei einem aulterseelischen Ding Idee und Stoff
eine untrennbare Einheit bilden, ist dies bei der Menschen-
seele und ihrem Leibe nicht der Fall. Da erfafk die selb-
standige Mensdienseele das Leibliche, setzt die irn Leibe
sdion tatige Idee aufier Kraft, und setzt sidi selbst an
deren Stelle. In dem Leiblichen, mit dem sich die Men-
sdienseele verbindet, lebt im Sinne des Aristoteles schon
ein Seelisches. Denn er sieht audi in dem Pflanzenleibe und
in dem Tierleibe ein untergeordnetes Seeliscbes wirksam.
Ein Leib, welcher das Seelische der Pflanze und des Tieres
in sidi tragt, wird durch die Mensdienseele gleichsam be-
fruditet, und so verbindet sidi fur den Erdenmenschen ein
Leiblich- Seelisches mit einem Geistig-Seelischen. Dieses
letztere hebt die selbstandige Wirksamkeit des Leiblich-
Seelisdien wahrend der Dauer des menschlidien Erden-
Iebens auf und wirkt selbst mk dem Leiblich-Seelischen
als mit seinem Instrument. Dadurdi entstehen fiinf Seelen-
aufterungen, die bei Aristoteles wie fiinf Seelenglieder er-
scheinen: die pflanzenhafte Seele (Threptikon), die emp-
findende Seele (Xsthetikon), die begierdenentwickelnde
Seele (Orektikon), die willenentfaltende Seele (Kmetikon)
und die geistige Seele (Dianoetikon). Geistige Seele ist der
Mensch durch das, was der geistigen Welt angehort und
sidi im Keimesleben mit dem Leiblich-Seelischen verbin-
det; die anderen Seelenglieder entstehen, indem sich die
geistige Seele in dem Leiblichen entfaltet und durch das-
selbe das Erdenleben fiihrt. Mit dem Hinblicke auf eine
geistige Seele ist fur Aristoteles naturgemafi der auf eine
Geisteswelt iiberhaupt gegeben. - Das "Weltbild des Ari-
stoteles steht so vor dem betrachtenden Blicke, dafi unten
die Dinge und Vorgange leben, Stoff und Idee darstel-
lend; je hoher man den Blick wendet, urn so mehr schwin-
det, was stoff lichen Charakter tragt; rein Geistiges - dem
Menschen sich als Idee darstellend - erscheint, die Welt-
sphare, in welcher das Gottliche als reine Geistigkeit, die
alles bewegt, sein Wesen hat. - Dieser Weltsphare gehort
die geistige Menschenseele an; sie ist als individuelles We-
sen nicht, sondern nur als Teil des Weltengeistes vorhan-
den, bevor sie sich mit einem Leiblich-Seelischen verbindet.
Durch diese Verbindung erwirbt sie sich ihr individuelles,
vom Weltgeist abgesondertes Dasein und lebt nach der
Trennung vom Leiblichen als geistiges Wesen weiter fort.
So nimmt das individuelle Seelenwesen mit dem mensch-
lichen Erdenleben seinen Anfang und lebt dann unsterb-
lich weiter. Eine Vorexistenz der Seele vor dem Erden-
leben nimmt Plato an, nicht aber Aristoteles. Dies ist eben-
so naturgemafi fur letzteren, welcher die Idee im Dinge
bestehen lafk, wie das andere naturgemafi fur jenen ist,
der die Idee liber dem Dinge schwebend vorstellt. Aristo-
teles findet die Idee in dem Dinge; und die Seele erlangt
das, was sie in der Geisteswelt als Individualitat sein soil,
in dem Leibe.
Aristoteles ist der Denker, welcher den Gedanken durch
die Beriihrung mit dem Wesen der Welt sich zur Welt-
anschauung entfalten lalk. Das Zeitalter vor Aristoteles
hat zu dem Erleben der Gedanken hingefiihrt; Aristoteles
ergreift die Gedanken und wendet sie auf dasjenige an,
was sich ihm in der Welt darbietet. Die selbst vers tan dliche
Art, in dem Gedanken zu leben, die ihm eigen ist, fiihrt
Aristoteles audi dazu, die Gesetze des Gedankenlebens
selbst, die Logik, zu erforschen. Eine solche Wissenschaft
konnte erst entstehen, nachdem der erwachte Gedanke
zu einem reifen Leben gediehen und zu einem soldi har-
monischen Verhaltnisse mit den Dingen der Aufienwelt
gekommen war, wie es bei Aristoteles zu trefFen ist,
Neben Aristoteles gestellt, sind die Denker, welche das
griechische, ja das gesamte Altertum als seine Zeitgenossen
und Nachfolger aufweist, Personlichkeiten, die von viel
geringererBedeutung erscheinen. Sie machen den Eindruck,
als ob ihren Fahigkeiten etwas abgehe, urn zu der Stufe
der Einsicht sich zu erheben, auf welcher Aristoteles stand.
Man hat das Gefiihl, sie weichen von ihm ab, weil sie An-
sichten aufstellen mussen iiber Dinge, die sie nicht so gut
verstehen wie er. Man mochte ihre Ansichten aus ihrem
Mangel herleiten, der sie verfuhrte, Meinungen zu aufiern,
die im Grunde bei Aristoteles schon widerlegt sind.
Solchen Eindruck kann man zunachst empfangen von
den Stoikern und Epikureern. Zu den ersteren, die ihren
Namen von der Saulenhalle, Stoa, in Athen hatten, in
welcher sie lehrten, gehoren Zenon von Kition (336 — 264
v. Chr.), Kleanthes (331 — 233), Chrysippus (280 — 208)
und andere. Sie nehmen aus fruheren "Weltanschauungen,
was ihnen in denselben verniinftig zu sein scheint; es
kommt ihnen aber vor allem darauf an, durch die "Welt-
betrachtung zu erfahren, wie der Mensch in die Welt hin-
eingestellt ist. Danach wollen sie bestimmen, wie das Le-
ben einzurichten ist, damit es der Weltordnung entspricht,
und damit der Mensch im Sinne dieser Weltordnung das-
jenige auslebt, was seinem Wesen gemafi ist. - Durch Be-
gierden, Leidenschaften, Bedurfnisse betaubt - in ihrem
Sinne - der Mensch sein naturgemafies Wesen; durch
Gleichmut, Bediirfnislosigkeit fuhlt er am besten, was er
sein soil und sein kann. Das Ideal des Menschen ist «der
Weise», welcher die innere Entfaltung des Menschen-
wesens durch keine Untugend verdunkelt.
Waren die Denker bis zu Aristoteles darauf bedacht, die
Erkenntnis zu erlangen, welche dem Menschen erreidibar
ist, nachdem er durch das Gedankenwahrnehmen zum vol-
len Bewufitsein seiner Seele gekommen war, so beginnt
mit den Stoikern das Nachdenken dariiber: Was soil der
Mensdi tun, um seine Menschen wesenheit am besten zum
Ausdruck zu bringen?
Epikur (geb. 342, gest. 271 v. Chr.) bildete in seiner
Art die Elemente aus, welche in der Atomistik schon
veranlagt waren. Und auf diesem Unterbau lafit er eine
Lebensansicht sich erheben, welche als eine Antwort auf
die Frage angesehen werden kann: Da die menschliche
Seele sich wie die Bliite aus den Weltvorgangen heraus-
hebt, wie soil sie leben, um ihr Sonderleben, ihre Selb-
standigkeit dem vernunftigen Denken gemaft zu gestal-
ten? Epikur konnte nur in einer solchen Art diese Frage
beantworten, welche das Seelenleben zwischen Geburt und
Tod in Betracht zieht, denn bei voller Aufrichtigkeit kann
sich aus der atomistischen Weltanschauung nichts anderes
ergeben. Ein besonderes Lebensratsel mufi fiir eine solche
Anschauung der Schmerz bilden. Denn der Schmerz ist
eine derjenigen Tatsachen, welche die Seele aus dem Be-
wufitsein ihrer Einheit mit den Weltendingen heraustrei-
ben. Man kann die Bewegung der Sterne, das Fallen des
Regens im Sinne der Weltanschauung der Vorzeit so be-
trachten, wie die Bewegung der eigenen Hand, das heifit
in beiden ein einheitliches Geistig-Seelisches erfuhlen. Dafi
Vorgange im Menschen Schmerzen bereiten konnen, sol-
che aufier ihm nicht, das treibt aber die Seele zur Aner-
kennung ihres besonderen Wesens. Eine Tugendlehre,
welche wie die Epikurs danadi strebt, im Einklange mit
der Weltvernunft zu leben, kann begreiflicherweise ein
soldies Lebensideal besonders schatzen, welches zur Ver-
meidung des Schmerzes, der Unlust fiihrt. So wird alles,
was Unlust beseitigt, zum hochsten epikureischen Lebens-
gut.
Diese Lebensauffassung fand im weiteren Altertume
zahlreidie Anhanger, namentlich auch bei den nach Bil-
dung strebenden Romern. Der romische Dichter T. Lucre-
tius Cams (96—55 v. Chr.) hat ihr in seinem Gedicht
«Ober die Natur» einen formvollendeten Ausdruck ge-
geben.
Das Gedankenwahrnehmen fiihrt die menschliche Seele
zur Anerkennung ihrer selbst. Es kann aber audi eintre-
ten, dafi die Seele sich ohnmachtig fiihlt, das Gedanken-
erleben so zu vertiefen, dafi sie in ihm einen Zusammen-
hang findet mit den Griinden der Welt. Dann fiihlt sich
die Seele losgerissen von dem Zusammenhang mit diesen
Griinden durdi das Denken; sie fiihlt, dafi in dem Denken
ihr Wesen Hegt; aber sie findet keinen Weg, urn im Ge-
dankenleben etwas anderes als nur ihre eigene Behaup-
tung zu fmden. Dann kann sie sich nur dem Verzicht auf
jede wahre Erkenntnis ergeben. In solchem Falle waren
Pyrrbo (360 — 270 v. Chr.) und seine Anhanger, derenBe-
kenntnis man als Skeptizismus bezeichnet. Der Skeptizis-
mus, die Weltanschauung des Zweifels, schreibt dem Ge-
dankenerleben keine andere Fahigkeit zu, als menschliche
Meinungen sich iiber die Welt zu machen; ob diese Mei-
nungen fiir die Welt aufierhalb des Menschen eine Bedeu-
tung haben, dariiber will er nichts entscheiden.
Man kann in der Reihe der griechischen Denker ein in
gewissem Sinne geschlossenes Bild erblicken. Zwar wird
man sich gestehen miissen, dafi ein soldier Zusammenschlufi
der Ansichten von Personlichkeiten allzu leicht einen ganz
aufieren Charakter tragen und in vieler Beziehung nur
von untergeordneter Bedeutung sein kann. Denn das ¥e-
sentliche bleibt doch die Betrachtung der einzelnen Per-
sonlichkeiten und das Gewinnen von Eindriicken daniber,
wie sich in diesen einzelnen Personlichkeiten das Allge-
mein-Menschliche in besonderen Fallen zur Offenbarung
bringt. Doch sieht man in der griechischen Denkerreihe et-
was wie das Geborenwerden, Sich-Entfalten und Leben
des Gedankens; in den vorsokratischen Denkern eine Art
Vorspiel, in Sokrates, Plato und Aristoteles die Hohe, und
in der Folgezeit ein Herabsteigen des Gedankenlebens,
eine Art Auflosung desselben.
Wer diesem Verlauf betrachtend folgt, der kann zu der
Frage kommen: Hat das Gedankenerleben wirklich die
Kraft, der Seele alles das zu geben, worauf es sie gefuhrt
hat, indem es sie zum vollen Bewulksein ihrer selbst ge-
bracht hat? Das griechische Gedankenerleben hat fiir den
unbefangenen Beobachter ein Element, das es «vollkom-
men» im besten Sinne erscheinen lafk. Es ist, als ob in den
griechischen Denkern die Gedankenkraft alles herausgear-
beitet hatte, was sie in sich selbst birgt. Wer anders urtei-
len will, wird bei genauem Zusehen bemerken, dafi sein
Urteilen irgendwo einen Irrtum birgt. Spatere Welt-
anschauungen haben durch andere Seelenkrafte anderes
hervorgebracht; die spateren Gedanken als solche stellen
sich stets so dar> dafi sie in ihrem eigentlichen Gedanken-
gehalte schon bei irgendeinem griechischen Denker vor-
handen waren. Was gedacht werden kann, und wie man
an dem Denken und der Erkenntnis zweifeln kann: alles
das tritt in der griechischen Kultur auf. Und in der Gedan-
kenoffenbarung erfafit sidi die Seele in ihrer Wesenheit.
Dodi hat das griechische Gedankenleben der Seele ge-
zeigt, dafi es die Kraft hat, ihr alles das zu geben, was es
in ihr angeregt hat? Vor dieser Frage stand, wie einen
Nachklang des griechischen Gedankenlebens bildend, die
Weltanschauungsstromung, welche man den NeupLatonis-
mus nennt. Ihr Haupttrager ist Plotin (205 — 270 n. Chr.).
Ein Vorlaufer kann schon Philo genannt werden, der im
Beginne unserer Zeitrechnung in Alexandrien lebte. Denn
Philo stiitzt sich nicht auf die schopferische Kraft des Ge-
dankens zum Aufbaue einer "Weltanschauung. Er wendet
vielmehr den Gedanken an, um die Offenbarung des Al-
ten Testaments zu verstehen. Er legt, was in demselben
als Tatsachen erzahlt wird, gedanklich, allegorisch aus.
Die Erzahlungen des Testamentes werden ihm zu Sinn-
bildern fiir Seelenvorgange, denen er gedanklich nahe-
zukommen sucht. Plotin sieht in dem Gedankenerleben
der Seele nicht etwas, was die Seele in ihrem vollen Leben
umfalk. Hinter dem Gedankenleben mufi ein anderes
Seelenleben liegen. Uber dieses Seelenleben breitet die Er-
fassung der Gedanken eher eineDecke, als dafi sie dasselbe
enthiillte. Die Seele mufi das Gedankenwesen uberwinden,
es in sich austilgen, und kann nach dieser Austilgung in
ein Erleben kommen, welches sie mit dem Urwesen der
Welt verbmdet. Der Gedanke bringt die Seele zu sich;
sie mufi nun in sich etwas erfassen, was sie aus dem Ge-
biete wieder herausfiihrt, in das sie der Gedanke gebracht
hat. Eine Erleuchtung, die in der Seele auftritt, nachdem
diese das Gebiet verlassen hat, auf das sie der Gedanke
gebracht hat, strebt Plotin an. So glaubt er sich zu einem
Weltenwesen zu erheben, das nicht in das Gedankenleben
eingeht; daher ist ihm die Weltvernunft, zu der sich Plato
und Aristoteles erheben, nicht das letzte, zu dem die Seele
kommt, sondern ein Geschopf des Hoheren, das jenseits
alles Denkens liegt. Von diesem Obergedanklichen, das
mit nichts verglichen werden kann, woriiber Gedanken
moglich sind, stromt alles Weltgeschehen aus. - Der Ge-
danke, wie er sich dem griechischen Geistesleben ofifen-
baren konnte, hat gewissermafien bis zu Plotin hin seinen
Umkreis gemacht und damit die Verhaltnisse erschopft, in
welche sich der Mensch zu ihm bringen kann. Und Plotin
sucht nach anderen Quellen als denjenigen, welche in der
Gedankenoffenbarung liegen. Er schreitet aus dem sich
fortentwickelnden Gedankenleben heraus und in das Ge-
biet der Mystik hinein. Ausfuhrungen iiber die Entwicke-
lung der eigentlichen Mystik sind hier nicht beabsichtigt,
sondern nur solche, welche die Gedankenentwickelung
darstellen, und dasjenige, was aus dieser selbst hervor-
geht. Doch finden an verschiedenen Stellen der Geistesent-
wickelung der Menschhek Verbindungen der gedanklichen
Weltanschauung mit der Mystik statt. Eine solche Verbin-
dung ist bei Plotin vorhanden. In seinem Seelenleben ist
nicht das blofie Denken maftgebend. Er hat eine seelische
Erfahrung, welche inneres Erleben darstellt, ohne dafi Ge-
danken in der Seele anwesend sind, mystisches Erleben. In
diesem Erleben fuhlt er seine Seele vereinigt mit dem "Wei-
tengrunde. Wie er aber dann den Zusammenhang der
Welt mit diesem Weltengrunde darstellt, das ist in Ge-
danken auszudrucken. Aus dem Ubergedanklichen strom-
ten die Weltenwesen aus. Das Ubergedankliche ist das
Vollkommenste. Was daraus hervorgeht, ist weniger voll-
kommen. So geht es bis herab zu der sichtbaren Welt,
dem Unvollkommensten. Innerhalb desselben findet sich
der Mensch. Er soil durch die Vervollkommnung seiner
Seele dasjenige abstreifen, was ihm die Welt geben kann,
in der er sich zunachst befindet, und so einen Weg finden,
der aus ihm ein Wesen macht, das dem vollkommenen Ur-
sprunge angemessen ist.
Plotin stellt sidi dar als eine Personlichkeit, welche sich
in die Unmoglichkeit versetzt fiihlt, das griechische Ge-
dankenleben fortzusetzen. Er kann auf nichts kommen,
was wie ein weiterer Sprofi des Weltanschauungslebens
aus dem Gedanken selbst folgt. Richtet man den BHck auf
den Sinn der Weltanschauungsentwickelung, so ist man
berechtigt zu sagen: Das Bildvorstellen ist zum Gedan-
ken vorstellen geworden; in ahnlicher Art mufi das Ge-
dankenvorstellen sich weiter in etwas anderes verwan-
deln. Aber dazu ist zu Plotins Zeit die Weltanschauungs-
entwickelung noch nicht reif. Deshalb verlafk Plotin den
Gedanken und sucht aufierhalb des Gedankenerlebens.
Doch gestalten sich die griechischen Gedanken, befruchtet
durch seine mystischen Erlebnisse, zu den Entwickelungs-
ideen aus, welche das Weltgeschehen vorstellen als Her-
vorgehen einer Stufenfolge von in absteigender Ordnung
unvollkommenen Wesen aus einem hochsten vollkomme-
nen. In Plotins Denken wirken die griechischen Gedanken
fort; doch sie wachsen nicht wie ein Organismus weiter,
sondern werden von dem mystischen Erleben aufgenom-
men und gestalten sich nicht zu dem urn, was sie selbst
aus sich bilden, sondern zu einem solchen, das durch aufier-
gedankliche Krafte umgestaltet wird. Bekenner und Fort-
setzer dieser Weltanschauung sind Ammonius Sakkas (175
bis 242), Porphyrins (232 — 304), Jamblichus (der im vier-
ten Jahrhundert n. Chr. lebte), Proklus (410 — 485) und
andere.
In einer ahnlichen Art, wie durch Plotm und seine Nach-
folger das griechische Denken in seiner mehr platonischen
Farbung unter dem Einflufi eines auftergedanklichen Ele-
mentes fortgesetzt wird, geschieht es mit diesem Denken
in seiner pythagoreischen Nuance durch Nigidius Figulus,
Apollonius von Tyana, Moderatus von Gades und an-
deren.
DAS GEDANKENLEBEN VOM BEGINN
DER CHRISTLICHEN ZEITRECHNUNG
BIS ZU JOHANNES SCOTUS ODER ERIGENA
In dem Zeitalter, das auf die Bliite der griechischen
Weltanschauungen folgt, tauchen diese in das religiose Le-
ben dieses Zeitalters unter. Die Weltanschauungsstromung
verschwindet gewissermaften in den religibsen Bewegun-
gen und tauclit erst in einem sp'ateren Zeitpunkte wieder
auf. Damit soil nicht behauptet werden, dafi diese reli-
giosen Bewegungen nidit im Zusammenhang mit dem
Fortgange des Weltanschauungslebens stehen. Es ist dies
vielmehr in dem allerumfassendsten Sinne der Fall. Doch
wird hier nicht beabsichtigt, etwas iiber die Entwickelung
des religiosen Lebens zu sagen. Es soli nur der Fortgang
der Weltanschauungen charakterisiert werden, insofern
dieser aus dem Gedankenerleben als solchem sich ergibt.
Nach der Erschopfung des griechischen Gedankenlebens
tritt im Geistesleben der Menschheit ein Zeitalter ein, in
welchem die religiosen Impulse die treibenden Krafte audi
der gedanklichen Weltanschauung werden. "Was bei Plo-
tin sein eigenes mystisches Erleben war, das Inspirie-
rende fiir seine Ideen, das werden in ausgebreiteterem Le-
ben fiir die geistige Menschheitsentwickelung die religio-
sen Impulse in einem Zeitalter, das mit der Erschopfung
der griechischen Weltanschauung beginnt und etwa bis zu
Scotus Erigena (gest. 877 n. Chr.) dauert. - Es hort die
Gedankenentwickelung in diesem Zeitalter nicht etwa vol-
lig auf; es entfalten sich sogar groBartige, umfassende Ge-
dankengebaude. Doch ziehen die Gedankenkrafte dersel-
ben ihre Quellen nicht aus sich selbst, sondern aus den reli-
giosen Impulsen.
Es stromt in diesem Zeitalter die religiose Vorstellungs-
art durch die sich entwickelnden Menschenseelen, und aus
den Anregungen dieser Vorstellungsart fliefien die Welt-
bilder. Die Gedanken, die dabei zutage treten, sind die
fortwirkenden griechischen Gedanken. Man nimmt diese
auf, gestaltet sie urn; aber man bringt sie zu keinem
Wachstum aus sich selbst heraus. Aus dem Hintergrunde
des religiosen Lebens heraus treten die "Weltanschauungen.
"Was in ihnen lebt, ist nidit der sich entfaltende Gedanke;
es sind die religiosen Impulse, welche danach drangen, in
den errungenen Gedanken sich einen Ausdruck zu ver-
schaffen.
Man kann an einzelnen bedeutsamen Erscheinungen
diese Entwickelung betrachten. Man sieht dann auf euro-
paischem Boden platonische und altere Vorstellungsarten
damit ringen, zu begreifen, was die Religionen verkiin-
den, oder auch es bekampfen. Bedeutende Denker suchen,
was die Religion offenbart, auch gerechtfertigt vor den
alten Weltanschauungen darzustellen. - So kommt zu-
stande, was die Geschichte als Gnosis bezeichnet, in einer
mehr christlichen oder mehr heidnischen Farbung. Person-
lichkeiten, welche fur die Gnosis in Betracht kommen, sind
Valentinus, Basilides, Marcion. Ihre Gedankenschopfung
ist eine umfassende Weltentwickelungsvorstellung. Das Er-
kennen, die Gnosis, miindet, wenn es sich aus dem Ge-
danklichen ins Ubergedankliche erhebt, in die Vorstellung
einer hochsten weltschopferischen Wesenheit. Weit er-
haben iiber alles, was als Welt von dem Menschen wahr-
genommen wird, ist diese Wesenheit. Und weit erhaben
sind auch noch die Wesenheiten, welche sie aus sich her-
vorgehen lafit, die Aonen. Doch bilden diese eine abstei-
gende Entwickelungsreihe, so dafi ein Aon als ein unvoll-
kommenerer immer aus einem vollkommeneren hervor-
geht. Als ein soldier Aon auf einer spateren Entwicke-
lungsstufe ist der Schopfer der dem Mensdien wahrnehm-
baren Welt anzusehen, der audi der Mensdi selbst zuge-
hort. Mit dieser Welt kann sidi nun ein Aon des hochsten
Vollkommenheitsgrades verbinden. Ein Aon, der in einer
rein geistigen, vollkommenen Welt verblieben und da
sich im besten Sinne weiterentwickelt hat, wahrend an-
dere Aonen Unvollkommenes und zuletzt die sinnliche
Welt mit dem Mensdien hervorgebracht haben. So ist fur
die Gnosis die Verbindung zweier Welten denkbar, wel-
die verschiedene Entwickelungswege durdigemacht haben,
und von denen dann in einem Zeitpunkte die unvollkom-
mene von der vollkommenen zu neuer Entwickelung nadi
dem Vollkommenen zu angeregt wird. - Die dem Chri-
stentum zugeneigten Gnostiker sahen in dem Christus Je-
sus jenen vollkommenen Aon, der mit der Erdenwelt sich
verbunden hat.
Mehr auf dogmatisch-christlichem Boden standen Per-
sonlichkeiten wie Clemens von Alexandrien (gest. etwa
211 n. Chr.) und Origenes (geb. etwa 183 n. Chr.). Cle-
mens nimmt die griechischen Weltanschauungen wie eine
Vorbereitung der christlichen Offenbarung und beniitzt
sie als ein Instrument, um die christlichen Impulse auszu-
driicken und zu verteidigen. In ahnlicher Art verfahrt
Origenes.
Wie zusammenfliefiend in einem umfassenden Vorstel-
iungsstrom findet sich das von den religiosen Impulsen in-
spirierte Gedankenleben in den Schriften des Areopagiten
Dionysius. Diese Schriften werden vom Jahr 533 n. Chr.
an erwahnt, sind wohl nicht viel fruher verfafit, gehen
aber in ihren Grundziigen, nicht in den Einzelheiten, auf
fruheres Denken dieses Zeitalters zuriick. - Man kann den
Inhalt in der folgenden Art skizzieren: Wenn die Seele
sich aliem entringt, was sie als Seiendes wahrnehmen und
denken kann, wenn sie audi hinausgeht iiber alles, was sie
als Nichtseiendes zu denken vermag, so kann sie das Ge-
biet der iiberseienden, verborgenen Gotteswesenheit gei-
stig erahnen. In dieser ist das Urseiende mit der Urgiite
und der Urschonheit vereinigt. Von dieser ursprunglichen
Dreiheit ausgehend, schaut die Seele absteigend eine Rang-
ordnung von Wesen, die in hierarchischer Ordnung bis
zum Menschen gehen.
Scotus Erigena iibernimmt im neunten Jahrhunderte
diese Weltanschauung und baut sie in seiner Art aus. Fur
ihn stellt sich die Welt als eine Entwickelung in vier «Na~
turformen» dar. Die erste ist die « schaffende und nicht
geschaffene Natur». In ihr ist der rein geistige Urgrund
der Welt en thai ten, aus dem sich die «schaffende und ge-
schaffene Natur» entwickelt. Das ist eine Summe von rein
geistigen Wesenheiten und Kraften, die durch ihre Tatig-
keit erst die «geschaffene und nicht schaffende Natur» her-
vorbringen, zu welcher die Sinnenwelt und der Mensch ge-
horen. Diese entwkkeln sich so, dafi sie aufgenommen
werden in die «nicht geschaffene und nicht schaffende Na-
tur», innerhalb welcher die Tatsachen der Erlosung, die
religiosen Gnadenmittel usw. wirken.
In den Weltanschauungen der Gnostiker, des Diony-
sius, des Scotus Erigena fiihlt die Menschenseele ihre Wur-
zel in einem Weltengrunde, auf den sie sich nicht durch
die Kraft des Gedankens stellt, sondem von dem sie die
Gedankenwelt als Gabe empfangen will. In der Eigen-
kraft des Gedankens fiihlt sich die Seele nicht sicher; doch
strebt sie danach, ihr Verhaltnis zu dem Weltgrunde im
Gedanken zu erleben. Sie lafit in sich den Gedanken, der
bei den griechischen Denkern von seiner eigenen Kraft
lebte, von einer anderen Kraft beleben, die sie aus den
religiosen Impulsen holt. Es fuhrt der Gedanke in diesem
Zeitalter gewissermafien ein Dasein, in dem seine eigene
Kraft schlummert. So darf man sich audi das Bildervor-
stellen denken in den Jahrhunderten, die der Geburt des
Gedankens vorangegangen sind. Das Bildvorstellen hatte
wohl eine uralte Bliite, ahnlich wie das Gedankenerleben
in Griechenland; dann sog es seine Kraft aus anderen Im-
pulsen, und erst als es durch diesen Zwischenzustand hin-
durchgegangen war, verwandelte es sich in das Gedanken-
erleben. Es ist ein Zwischenzustand des Gedankenwachs-
tums, der sich in den ersten Jahrhunderten der christlichen
Zeitrechnung darstellt.
In Asien, wo des Aristoteles Anschauungen Verbreitung
fanden, entsteht das Bestreben, die semitischen Religions-
impulse in den Ideen des griechischen Denkers zum Aus-
drucke zu bringen. Das verpflanzt sich dann auf europai-
schen Boden und tritt ein in das europaische Geistesleben
durch Denker wie Averroes, den groften Aristoteliker
(1126 — 1198), Maimonides (1 13 5 — 1204) und andere. -
Bei Averroes findet man die Ansicht, dafi das Vorhanden-
sein einer besonderen Gedankenwelt in der Personlichkeit
des Menschen ein Irrtum sei. Es gibt nur eine einige Ge-
dankenwelt in dem gottlichen Urwesen. Wie sich ein Licht
in vlelen Spiegeln abbilden kann, so offenbart sich die eine
Gedankenwelt in den vielen Menschen. Es findet zwar wah-
rend des menschlichen Erdenlebens eine Fortbildung der
Gedankenwelt statt; doch ist diese in Wahrheit nur ein
Vorgang in dem geistigen einigenden Urgrunde. Stirbt der
Mensch, so hort einfach die individuelleOffenbarung durch
ihn auf. Sein Gedankenleben ist nur mehr in dem einen
Gedankenleben vorhanden. - Diese Weltanschauung lafit
das griechische Gedankenerleben so fortwirken, dafi sie
dieses in dem einheitlichen gottlichen Weltengrunde ver-
ankert. Sie macht den Eindruck, als ob in ihr zum Aus-
drack kame, dafi die sich entwickelnde Menschenseele in
sich nicht die ureigene Kraft des Gedankens fUhlte; des-
halb verlegt sie diese Kraft in eine auftermenschliche Wel-
tenmacht.
DIE WELTANSCHAUUNGEN IM MITTEL ALTER
Wie eine Vorverkiindigung zeigt sich ein neues Element,
welches das Gedankenleben selbst aus sich hervorbringt,
bei Augustinus (354 — 430), um dann wieder unbemerkbar
weiter zu stromen in dem es iiberdeckenden religiosen
Vorstellen, und erst im spateren Mittelalter deutlicher
hervorzutreten. Bei Augustinus ist das Neue wie eine Riick-
erinnerung an das griechische Gedankenleben. Er blickt
um sich und in sich und sagt sich: Mag alles nur Ungewis-
ses und Tauschung geben, was sonst die Welt offenbart, -
an einem ist nicht zu zweifeln: an der Gewiftheit des seeli-
schen Erlebens selbst. Das wird mir durch keine Wahr-
nehmung zuteil, die mich tauschen kann; in diesem bin
ich selbst darinnen; es ist, denn ich bin dabei, indem ihm
sein Sein zugeschrieben wird.
Man kann in diesen Vorstellungen etwas Neues gegen-
tiber dem griechischen Gedankenleben erblicken, trotz-
dem sie zunachst einer Riickerinnerung an dasselbe glei-
chen. Das griechische Denken deutet auf die Seele; bei
Augustinus wird auf den Mittelpunkt des Seelenlebens
gewiesen. Die griechischen Denker betrachten die Seele
in ihrem Verhaltnis zur Welt; bei Augustinus stellt sich
dem Seelenleben etwas in demselben gegeniiber und be-
trachtet dieses Seelenleben als eine besondere, in sich ge-
schlossene Welt. Man kann den Mittelpunkt des Seelen-
lebens das «Ich» des Menschen nennen. Den griechischen
Denkern wird das Verhaltnis der Seele zur Welt zum
Ratsel; den neueren Denkern das Verhaltnis des «Ich»
zur Seele. Bei Augustinus kiindigt sich das erst an; die
folgenden Weltanschauungsbestrebungen haben noch zu
viel zu tun, um Weltanschauung und Religion in Ein-
QI
klang zu bringen, als daft das Neue, das jetzt in das Gei-
stesleben hereingetreten ist, ihnen schon deutlich zum Be-
wufttsein kame. Und doch lebt in der Folgezeit, den See-
len mehr oder weniger unbewuftt, das Bestreben, die Welt-
ratsel so zu betrachten, wie es das neue Element fordert.
Bei Denkern wie Anselm von Canterbury (1033 — 1109)
und Thomas von Aquino (1227 — 1274) tritt das nodi so
hervor, daft sie dem auf sich selbst gestiitzten menschlichen
Denken zwar die Fahigkeit zuschreiben, die Weltvorgange
bis zu einem gewissen Grade zu erforschen, daft sie diese
Fahigkeit aber begrenzen. Fur sie gibt es eine hohere gei-
stige Wirklichkeit, zu welcher das sich selbst uberlassene
Denken niemals kommen kann, sondern die ihm auf reli-
giose Art geoffenbart werden muft. Der Mensch wurzelt
im Sinne des Thomas von Aquino mit seinem Seelenleben
in der Weltwirklichkeit; doch kann dieses Seelenleben aus
sich selbst heraus diese Wirklichkeit in ihrem vollen Urn-
fange nicht erkennen. Der Mensch konnte nicht wissen, wie
sein Wesen in dem Gange der Welt drinnen stent, wenn
nicht das Geistwesen, zu dem sein Erkennen nicht dringt,
sich zu ihm neigte und ihm auf dem Offenbarungswege
mitteilte, was der nur auf ihre eigene Kraft bauenden Er-
kenntnis verborgen bleiben muft. Von dieser Vorausset-
zung aus baut Thomas von Aquino sein Weltbild auf. Es
hat zwei Teile, den einen, der aus den Wahrheiten be-
steht, welche sich dem eigenen Gedankenerleben iiber den
naturlichen Verlauf der Dinge erschlieften; dieser Teil
miindet in einen anderen, in welchem sich das befindet,
was durch Bibel und religiose Offenbarung an die Men-
schenseele herangekommen ist. Es muft also in die Seele
etwas dringen, was ihrem Eigenleben nicht erreichbar ist,
wenn sie in ihrem vollen "Wesen sich erfiihlen will.
Thomas von Aquino macht sich ganz vertraut mit der
Weltanschauung des Aristo teles. Dieser wird ihm wie sein
Meister im Gedankenleben. Thomas ist damit die hervor-
ragendste, aber doch nur eine der zahlreichen Personlidi-
keiten des Mittelalters, welche ganz auf dem Gedanken-
bau des Aristoteles den eigenen auffiihren. Aristoteles wird
fur Jahrhunderte «der Meister derer, die da wissen», wie
Dante die Verehrung fur Aristoteles im Mittelalter aus-
driickt. - Thomas von Aquino hat das Bestreben, in aristo-
telischer Art zu begreifen, was menschlich begreifbar ist.
So wird ihm Aristoteles' Weltanschauung zum Fuhrer bis
zu jener Grenze, bis zu der das menschliche Seelenleben
mit seinen eigenen Kraften dringen kann; jenseits dieser
Grenzen liegt, was im Sinne des Thomas die griechische
Weltanschauung nicht erreichen konnte. Fur Thomas von
Aquino bedarf also das menschliche Denken eines anderen
Lichtes, von dem es erleuchtet werden mufi. Er findet die-
ses Licht in der Offenbarung. Wie immer sich die folgen-
den Denker nun audi zur Offenbarung stellten: in grie-
chischer Art konnten sie nicht mehr das Gedankenleben
hinnehmen. Es geniigt ihnen nicht, dafi das Denken die
Welt begreift; sie setzen voraus, es miisse eine Moglich-
keit geben, dem Denken selbst eine es stiitzende Unter-
lage zu geben. Das Bestreben entsteht, das Verhaltnis des
Menschen zu seinem Seelenleben zu ergriinden. Der Mensch
sieht sich also als ein Wesen an, das in seinem Seelen-
leben vorhanden ist. Wenn man dieses «Etwas» das «Ich»
nennt, so kann man sagen: In der neueren Zeit wird inner-
halb des Seelenlebens das Bewufitsein vom «Ich» rege, wie
im griechischen Weltanschauungsleben der Gedanke ge-
boren wurde. Welch verschiedene Formen auch die Welt-
anschauungsbestrebungen in diesem Zeitalter annehmen -
um die Erforsdiung der Ich-Wesenheit drehen sich doch
alle. Nur tritt diese Tatsache nicht iiberall klar in das Be-
wulksein der Denker. Diese glauben zumeist, ganz ande-
ren Fragen hingegeben zu sein. Man konnte davon spre-
chen, da£ das «Ratsel des Ich» in den mannigfaltigsten
Maskierungen auf tritt. Zuweilen lebt es in den Weltan-
schauungen der Denker auf so verborgene Art, daE die
Behauptung, es handele sich bei der einen oder der ande-
ren Ansicht um dieses Ratsel, wie eine willkiirliche oder
erzwungene Meinung sich darstellt. - Im neunzehnten
Jahrhundert kommt das Ringen mit dem «Ich-Ratsel»
am intensivsten zum Ausdruck, und die Weltanschauun-
gen der Gegenwart leben mitten in diesem Ringen dar-
innen.
Schon in dem Streite zwischen Nominalisten und Reali-
sten im Mittel alter lebt dieses «Weltratsel». Einen Trager
des Realismus kann man Anselm von Canterbury nennen.
Fiir ihn sind die allgemeinen Gedanken, welche sich der
Mensch macht, wenn er die Welt betrachtet, nicht blofie
Bezeichnungen, die sich die Seele bildet, sondern sie wur-
zeln in einem realen Leben. Wenn man sich den allgemei-
nen Begriff des «L6wen» bildet, um alle Lowen damit zu
bezeichnen, so haben im Sinne des Sinnenseins gewifi nur
die einzelnen Lowen Wirklichkeit; aber der allgemeine
Begriff «Lowe» ist doch nicht eine blofie zusammenfas-
sende Bezeichnung, die nur fiir den Gebrauch der mensch-
lichen Seele eine Bedeutung hat. Er wurzelt in einer gei-
stigen Welt, und die einzelnen Lowen der Sinneswelt sind
mannigfaltige Verkorperungen der einen «L6wennatur»,
die in der «Idee des Lowen » sich ausdriickt. - Gegen solche
«Realitat der Ideen» wandten sich Nominalisten wie Ros-
cellin (auch im elften Jahrhundert). Fiir ihn sind die «all-
gemeinen Ideen» nur zusammenfassende Bezeichnungen -
Namen, welche die Seele zu ihrem Gebrauche, zu ihrer
Orientierung sich bildet, die aber keiner Wirklichkeit ent-
sprechen. Wirklich seien nur die einzelnen Dinge. Der Streit
ist charakteristisch fiir die Seelenstimmung seiner Trager.
Sie fiihlen beide die Notwendigkeit, dariiber nachzufor-
sdien, weldie Geltung, weldie Bedeutung die Gedanken
haben, die sich die Seele bilden mufi. Sie verhalten sich
anders zu den Gedanken, als sich Plato und Aristoteles zu
ihnen verhalten haben. Dies aus dem Grunde, weil sich et-
was vollzogen hat zwischen dem Ausgang der griechischen
Weltanschauungsentwickelung und dem Beginn der neu-
zeitlichen, das wie unter der Oberflache des geschichtlichen
"Werdens liegt, aber an der Art wohl bemerkbar ist, wie
sich die Personlichkeiten zu ihrem Gedankenleben stellen.
An den griechischen Denker trat der Gedanke heran wie
eine Wahrnehmung. Er trat in der Seele auf, wie die rote
Farbe auftritt, wenn der Mensch der Rose gegenubersteht.
Und der Denker nahm ihn auf wie eine Wahrnehmung.
Als solche hatte der Gedanke eine ganz unmittelbare Uber-
zeugungskraft. Der griechische Denker hatte die Empfin-
dung, wenn er sich der geistigen Welt mit der Seele emp-
fanglich gegenuberstellt, es konne in diese Seele aus der
geistigen Welt so wenig ein unrichtiger Gedanke herein-
dringen, wie aus der Sinnenwelt bei richtigem Gebrauch
der Sinne die Wahrnehmung eines geflugelten Pferdes
kommen konne. Fiir den Griechen handelt es sich darum,
die Gedanken aus der Welt schopfen zu konnen. Diese
bezeugen selbst ihre Wahrheit. Gegen diese Tatsache
spricht ebensowenig die Sophistik wie der Skeptizismus.
Beide haben im Altertum noch eine ganz andere Schattie-
rung, als sie in der Neuzeit haben. Sie sprechen nicht gegen
die Tatsache, die besonders in den eigentlichen Denker-
charakteren deutlich sich offenbart, dafi der Grieche den
Gedanken viel elementarer, inhaltvoller, lebendiger, wirk-
licher empfand, als der Mensch der neueren 2eit ihn emp-
finden kann. Diese Lebendigkeit, welche in Griechenland
dem Gedanken den Charakter einer Wahrnehmung gab,
ist im Mittelalter sdion nicht mehr vorhanden. "Was sidi
vollzogen hat, ist dieses: So wie in den griechischen Zei-
ten der Gedanke m die menschliche Seele hereinzog und
das alte Bildvorstellen austilgte, so zog in den Zeiten des
Mittelalters in die Seelen das Bewufitsein vom «Ich» em;
und dies hat die Lebendigkeit des Gedankens abgedampft;
es hat ihm seine Wahrnehmungskraft genommen. Man
kann nur erkennen, wie das Weltanschauungsleben fort-
schreitet, wenn man durchschaut, wie der Gedanke, die
Idee fur Plato und Aristoteles in der Tat etwas ganz an-
deres waren als fur die Personlichkeiten des Mittelalters
und der neuen Zeit. Der Denker des Altertums hatte das
Gefuhl, der Gedanke werde ihm gegeben; der Denker der
spateren Zeit hat das Gefuhl, er Hide den Gedanken; und
so entsteht fur ihn die Frage: "Weldie Bedeutung fur die
Wirklichkeit kann dasjenige haben, was in der Seele ge-
bildet wird? - Der Grieche empfand sich als Seele abge-
sondert von der Welt; im Gedanken suchte er sich mit der
geistigen Welt zu verbinden; der spatere Denker fiihlt
sich mit seinem Gedankenleben allein. So entsteht das
Nachforschen iiber die «allgemeinen Ideen». Man fragt:
Was habe ich in ihnen denn eigentlich gebildet? Wurzeln
sie nur in mir, oder deuten sie auf eine Wirklichkeit?
In den Zeiten, welche zwischen der alten Weltanschau-
ungsstromung und der neueren liegen, versiegt das grie-
chische Gedankenleben; unter der Oberflache aber kommt
an die Menschenseele als Tatsache das Ich-Bewufitsein her-
an; von der Mitte des Mittelalters an sieht sich der Mensch
dieser vollzogenen Tatsadie gegeniiber, und durch ihre
Kraft entwickelt sich die neue Art der Lebensratsel. Re-
alismus und Nominalismus sind das Symptom dafiir, daft
der Mensch die vollzogene Tatsache empfindet. Wie beide
iiber den Gedanken sprechen, das zeigt, dafi dieser gegen-
iiber seinem Dasein in der griechischen Seele so abgeblafit,
abgedampft war, wie in der Seele des griechischen Den-
kers es die alte Bildvorstellung war.
Hiermit ist auf das treibende Element hingewiesen, das
in den neueren "Weltanschauungen lebt. In diesen wirkt
eine Kraft, welche iiber den Gedanken hinaus nach einem
neuen Wirklichkeitsfaktor strebt. Man kann dieses Stre-
ben der neueren Zeit nicht als dasselbe empfinden, was
das Hinausstreben iiber den Gedanken in alter Zeit bei
Pythagoras, spater bei Plotin war, Diese streben wohl
audi iiber den Gedanken hinaus, aber sie stellen sich vor,
dafi die Entwickelung der Seele, deren Vervollkommnung,
sich die Region erringen miisse, welche iiber den Gedan-
ken hinausliegt. Die neuere Zeit setzt voraus, dafi der iiber
den Gedanken hinausliegende Wirkiichkeitsfaktor der
Seele von aufien gegeben werden miisse, dafi er an sie her-
ankommen miisse.
Die Weltanschauungsentwickelung wird in den Jahr-
hunderten, welche auf die Zeit des Nominalismus und
Realismus folgen, zu einem Suchen nach dem neuen Wirk-
lichkeitsfaktor. Ein Weg unter denen, die sich dem Be-
obachter dieses Suchens zeigen, ist derjenige, welchen die
mittelalterlichen Mystiker eingeschlagen haben: Meister
Eckhctrd (gest. 1327), Johannes Tauler (gest. 1361), Hein-
rich Suso (gest. 1366). Am anschaulichsten wird dieser
Weg durch die Betraciitung der sogenannten «Theologia
deutscb», die von einem geschichtlidi nicht bekannten Ver-
fasser herriihrt. Diese Mystiker wollen in das Ich-Bewufit-
sein etwas hineinempfangen, es mit etwas erfiillen. Sie
streben deshalb ein inneres Leben an, das «ganz gelassen»
ist, das sich in Ruhe hingibt, und das so erwartet, wie sich
das Innere der Seele erfulle mit dem «gottlichen Idi». In
spaterer Zeit taucht eine ahnliche Seeienstimmung mit
mehr Schwungkraft des Geistes auf bei Angelas Silesws
(1624 — 1677).
Einen anderen Weg schlagt Nicolaus Cusanus (Niko-
laus Chrypffs, geboren zu Kues an der Mosel 1401, gestor-
ben 1464) ein. Er strebt uber das gedanklich erreichbare
Wissen hinaus zu einem Seelenzustand, in dem dies Wis-
sen aufhort und die Seele ihrem Gotte in der «wissenden
Unwissenheit», der docta ignorantia, begegnet. Aufier-
lich betrachtet hat das viel Ahnlichkeit mk dem Streben
des Plotin. Doch ist die Seelenverfassung bei den beiden
Personlichkeiten verschieden. Plotin ist iiberzeugt, dafi in
der Mensdienseele mehr liege als die Gedankenwelt. Wenn
die Seele die ihr aufierhalb des Gedankens eignende Kraft
entwickelt, so gelangt sie wahrnehmend dahin, wo sie im-
mer ist, ohne im gewohnlidien Leben da von zu wissen;
Cusanus fuhlt sich mit seinem «Ich» allein; dieses hat in
sich keinen Zusammenhang mit seinem Gotte. Der ist
aufier dem «Ich». Das «Ich» begegnet ihm, wenn es die
«wissende Unwissenheit» erreicht.
Paracelsus (1493 — 1541) hat bereits die Empfindung
gegenuber der Natur, welche sich in der neueren Welt-
anschauung immer mehr herausbildete, und die eine Wir-
kung der sich im Ich-Bewufitsein vereinsamt fuhlenden
Seele ist. Er richtet den Blick auf die Naturerscheinungen.
So wie sich diese darstellen, konnen sie von der Seele nicht
hingenommen werden; aber audi der Gedanke, der bei
Aristoteles in ruhigem Verkehr mit den Naturerscheinun-
gen sich entfaltete, kann nicht so hingenommen werden,
wie er in der Seele auftritt. Er wird nicht wahrgenommen;
er wird in der Seele gebildet. Man mufi den Gedanken
nicht seibst sprechen lassen, so empfand Paracelsus; man
mufi voraussetzen, dafi hinter den Naturerscheinungen et-
was ist, was sich enthiillt, wenn man sich in das rechte
Verhaltnis zu ihnen bringt. Man mufi von der Natur et-
was empfangen konnen, was man in ihrem Anblick nicht
seibst bildet wie den Gedanken. Man mufi mit seinem Ich
durch einen anderen Wirklichkeitsfaktor zusammenhan-
gen als durch den Gedanken. Eine «hohere Natur» hinter
der Natur sucht Paracelsus. Seine Seelenstimmung ist so,
dafi er nicht etwas in sich allein erleben will, um zu den
Grunden des Daseins zu kommen, sondern dafi er sich
gleichsam mit seinem Ich in die Naturvorgange hinein-
bohren will, um sich unter der Oberflache der Sinneswelt
den Geist dieser Vorgange offenbaren zu lassen. Hinunter-
dringen in die Tiefen der Seele wollten die Mystiker des
Altertums; dasjenige unternehmen, was in der Aufienwelt
zur Begegnung mit den Wurzeln der Natur fiihrt, wollte
Paracelsus.
Jacob Bohme (1575 — 1624), der als einsamer, verfolg-
ter Handwerker ein Weltbild wie aus innerer Erleuchtung
heraus sich bildete, tragt doch in dieses Weltbild den
Grundcharakter der neueren Zeit hinein. Ja, er entwickelt
sogar in der Einsamkeit seines Seelenlebens diesen Grund-
charakter besonders eindrucksvoll, weil ihm die innere
Zweiheit des Seelenlebens, der Gegensatz des Ich und der
anderen Seelenerlebnisse, vor das geistige Auge tritt. Das
«Idi» erlebt er, wie es sich in dem eigenen Seelenleben den
inneren Gegensatz schafft, wie es sich in der eigenen Seele
spiegelt. Dieses innere Erlebnis findet er dann in den Welt-
vorgangen wieder. Er sieht in diesem Erlebnis einen durch
alles hindurchgehenden Zwiespalt. «In soldier Betrach-
tung findet man zwei Qualitaten, eine gute und eine bose,
die in dieser Welt in alien Kraften, in Sternen und Ele-
menten, sowohl in alien Kreaturen ineinander sind.» Audi
das Bose in der Welt stent dem Guten als sein Widerschein
gegeniiber; das Gute wird sich in dem Bosen erst selbst
gewahr, wie sich das Ich in seinen Seelenerlebnissen ge-
wahr wird.
DIE WELTANSCHAUUNGEN DES JONGSTEN
ZEITALTERS DER GEDANKENENTWICKELUNG
Dem Aufbliihen der Naturwissenschaft in der neueren
Zeit liegt dasselbe Suchen wie J. Bohmes Mystik zugrunde.
Es zeigt sidi dies an einem Denker, welcher unmittelbar
aus der Geistesstromung herausgewadisen ist, die in Ko-
pernikus (1473 — 1 543)> Kepler (1571 — 1630), Galilei
(1564 — 1642) und anderen zu den ersten groften natur-
wissenschaftlichen Errungenschaften der neueren Zeit
fiihrte. Es ist Giordano Bruno (1548 — 1600). Wenn man
betrachtet, wie er die Welt aus unendlich vielen kleinen
belebten und sich seelisch erlebenden Urwesen bestehen
lalk, den Monaden, die unentstanden und unverganglich
sind, und die in ihrem Zusammenwirken die Naturerschei-
nungen ergeben, so konnte man versucht sein, Giordano
Bruno mit Anaxagoras zusammenzustellen, dem die Welt
aus den Homoiomerien besteht. Und doch ist zwischen
beiden ein bedeutsamer Unterschied. Dem Anaxagoras
entfaltet sich der Gedanke der Homoiomerien, indem er
sidi der Welt betrachtend hingibt; die Welt gibt ihm die-
sen Gedanken ein. Giordano Bruno fuhlt: Was hinter den
Naturerscheinungen liegt, mufi als Weltbild so gedacht
werden, daiS das Wesen des Ich in dem Weltbilde mog-
lich ist. Das Ich mufi eine Monade sein, sonst konnte es
nicht wirklich sein. So wird die Annahme der Monaden
notwendig. Und weil nur die Monade wirklich sein kann,
sind die wahrhaft wirklichen Wesen Monaden mit ver-
schiedenen inneren Eigenschaften. Es geht in den Tiefen
der Seele einer Personlichkeit wie Giordano Bruno etwas
vor, was nicht voll zum Bewufitsein derselben kommt;
die Wirkung dieses inneren Vorganges ist dann die Fas-
sung des Weltbildes. Was in den Tiefen vorgeht, ist ein
unbewufiter Seelenprozefi: Das Ich fiihlt, es mufi sich
selbst so vorstellen, dafi ihm die Wirklichkeit verburgt
ist; und es mufi die Welt so vorstellen, dafi es in dieser
Welt wirklich sein kann. Giordano Bruno mufi sidi die
Vorstellung der Monade bilden, damit beides moglich ist.
In Giordano Bruno kampft im Weltansdiauungsleben der
neueren Zeit das Ich um sein Dasein in der Welt. Und
der Ausdruck dieses Kampfes ist die Anschauung: Ich bin
eine Monade; eine solche ist unentstanden und unvergang-
lich.
Man vergleiche, wie verschieden Aristoteles und Gior-
dano Bruno zur Gottesvorstellung kommen. Aristoteles
betrachtet die Welt; er sieht das Sinnvolle der Naturvor-
gange; er gibt sich diesem Sinnvollen hin; audi an den
Naturvorgangen ofTenbart sich ihm der Gedanke des «er-
sten Bewegers» dieser Vorgange. Giordano Bruno kampft
sich in seinem Seeienleben zur Vorstellung der Monaden
durch; die Naturvorgange sind gleichsam ausgeloscht in
dem Bilde, in dem unzahlige Monaden aufeinanderwir-
kend auftreten; und Gott wird die hinter alien Vorgan-
gen der wahrnehmbaren Welt wirkende, in alien Monaden
lebende Kraftwesenheit. In der leidenschaftlichen Gegner-
schaft Giordano Brunos gegen Aristoteles driickt sich der
Gegensatz aus zwischen dem Denker Griechenlands und
dem der neueren Zeit.
Auf mannigfaltige Art kommt in der neueren Welt-
anschauungsentwickelung zum Vorschein, wie das Ich nach
Wegen sucht, um seine Wirklichkeit in sich zu erleben.
Was Francis Bacon von Verulam (1561 — 1616) zum Aus-
druck bringt, tragt dasselbe Geprage, wenn dies audi durch
die Betrachtung seiner Bestrebungen auf dem Gebiete der
"Weltanschauung nicht fiir den ersten Blick hervortritt.
Bacon von Verulam fordert, dafi man die Erforschung der
Welterscheinungen mit der vorurteilsfreien Beobaditung
beginne; dafi man dann versuche, das Wesentliche von dem
Unwesentlidien einer Erscheinung zu trennen, um so eine
Vorstellung davon zu bekommen, was hinter einem Dinge
oder Vorgange steckt. Er meint, dafi man bis zu seiner
Zeit die Gedanken, welche die Welterscheinungen erklaren
sollen, zuerst gefafk und dann die Vorstellungen iiber die
einzelnen Dinge und Vorgange nadi diesen Gedanken ge-
richtet habe. Er stellte sich vor, dafi man die Gedanken
nicht aus den Dingen selbst genommen habe. Diesem (de-
duktiven) Verfahren wollte Bacon von Verulam sein an-
deres (induktives) Verfahren entgegengestellt wissen. Die
BegrifFe sollen an den Dingen gebildet werden* Man sieht
- so denkt er wie ein Gegenstand von dem Feuer ver-
zehrt wird; man beobachtet, wie ein ahderer Gegenstand
sich zum Feuer verhalt, und dann beobachtet man das-
selbe bei vielen Gegenstanden. So erhalt man zuletzt eine
allgemeine Vorstellung davon, wie sich die Dinge im Ver-
haltnisse zum Feuer verhalten. Weil man fruher nicht in
dieser Art geforscht habe, so meint Bacon, sei es gekom-
men, da£ in dem menschlichen Vorstellen so viele I dole
statt wahrer Ideen iiber die Dinge herrschen.
Goethe sagt Bedeutsames iiber diese Vorstellungsart des
Bacon von Verulam: «Baco gleicht einem Manne, der die
Unregelmafiigkeit, Unzulanglichkeit, BaufalHgkeit eines
alten Gebaudes recht wohl einsieht, und solche den Be-
wohnern deutlich zu machen weifi. Er rat ihnen, es zu ver-
lassen, Grund und Boden, Materialien und alles Zubehor
zu verschmahen, einen anderen Bauplatz zu suchen und
ein neues Gebaude zu errichten. Er ist ein trefflicher Red-
ner und Uberredner; er riittelt an einigen Mauern, sie fal-
len ein, und die Bewohner sind genotigt, teilweise auszu-
ziehen. Er deutet auf neue Platze; man fangt an zu ebnen,
und doch ist es iiberall zu enge. Er legt neue Risse vor; sie
sind nicht deutlich, nicht einladend. Hauptsachlich aber
spricht er von neuen, unbekannten Materialien, und nun
ist der Welt gedient. Die Menge zerstreut sidi nadi alien
Himmelsgegenden und bringt unendlich Einzelnes zu-
riick, indessen zu Hause neue Plane, neue Tatigkeiten,
Ansiedelungen die Burger beschaftigen und die Aufmerk-
samkeit verschlingen.» Goethe spricht das in seiner Ge-
schichte der Farbenlehre aus, da, wo er iiber Bacon redet.
In einem folgenden Abschnitt iiber Galilei sagt er: «Schien
durch die Verulamische Zerstreuungsmethode die Natur-
wissenschaft auf ewig zersplittert, so ward sie durch Ga-
lilei sogleich wieder zur Sammlung gebracht; er fiihrte die
Naturlehre wieder in den Menschen zuriick, und zeigte
schon in friiher Jugend, dafi dem Genie ein Fall fur tau-
send gelte, indem er sich aus schwingenden Kirchenlampen
die Lehre des Pendels und des Falles der Korper ent-
wickelte. Alles kommt in der Wissenschaft auf das an,
was man ein Apercu nennt, auf ein Gewahrwerden dessen,
was eigentlich den Erscheinungen zum Grunde Hegt.
Und ein solches Gewahrwerden ist bis ins Unendliche
fruchtbar.»
Goethe deutet damit scharf auf das hin, was f\ir Bacon
charakteristisch ist. Fiir die Wissenschaft will dieser einen
sicheren Weg finden. Denn dadurch, hofft er, werde der
Mensch sein sicheres Verhaltnis zur Welt finden. Den Weg
des Aristoteles, das empfindet Bacon, kann die neue Zeit
nicht mehr gehen. Doch weift er nicht, dafi in verschiede-
nen Zeitaltern im Menschen verschiedene Seelenkrafte vor-
herrsdiend tatig sind. Er merkt nur, dafi er, Bacon, den
Aristoteles ablehnen mufi. Das tut er leidenschaftlich. So,
daft Goethe dariiber die Worte gebrauclit: «Denn wie
kann man mit Gelassenheit anhoren, wenn er die Werke
des Aristoteles und Plato leichten Tafeln vergleicht, die
eben, weil sie aus kemer tiichtigen, gehaltvollen Masse
bestiinden, auf der Zeitflut gar wohl zu uns heriiber ge-
sdiwemmt werden konnen.» Bacon versteht nicht, daft er
selbst dasselbe erreichen will, was Plato und Aristoteles
erreichten, und daft er zum gleichen Ziele andere Mittel
gebrauchen mufi, weil die Mittel des Altertums nicht mehr
die der neuen Zeit sein konnen. Er deutet auf einen Weg
hin, der fiir die Forschung auf aufterem Naturfelde frucht-
bar scheinen konnte; doch zeigt Goethe an dem Fall Ga-
lilei, daft auch auf diesem Felde ein anderes notwendig
ist, als Bacon fordert. Vollig unfruchtbar mufi sich aber
Bacons Weg erweisen, wenn die Seele den Zugang sucht
nicht bloft zur Einzelforschung, sondern zu einer "Welt-
anschauung. Was soil ihr fiir eine solche das Absuchen der
einzelnen Erscheinungen fruchten und die Bildung allge-
meiner Ideen aus solchen Erscheinungen, wenn diese all-
gemeinen Ideen nicht, wie Lichtblitze aus dem Daseins-
grunde, in der Seele aufleuchten und sich ausweisen durch
sich selbst in ihrer Wahrheit? Im Altertum trat der Ge-
danke wie eine Wahrnehmung in der Seele auf; diese Art
des Auftretens ist durch die Helligkeit des neuen Ich-Be-
wufitseins abgedampft; was in der Seele zu den Gedan-
ken fuhrt, die eine Weltanschauung bilden sollen, mu6
wie eine eigene Erfindung der Seele sich ausgestalten. Und
die Seele mu£ sich die Moglichkeit suchen, ihrer Erfindung,
ihrem eigenen Gebilde Geltung zu verschaffen. Sie mufi
an ihre eigene Schopfung glauben konnen. Das alles emp-
fmdet Bacon nicht; deshalb verweist er zum Bau der
neuen Weltanschauung auf die Baumaterialien, namlich
auf die einzelnen Naturerscheinungen. So wenig man aber
ein Haus jemals dadurch bauen kann, dafi man nur die
Formen der Bausteine beobachtet, die verwendet werden
sollen, so wenig wird je eine fruchtbare Weltanschauung
in einer Seele erstehen, welche sich nur mit den einzelnen
Naturvorgangen zu tun macht.
Im Gegensatze zu Bacon von Verulam, der auf die Bau-
steine verwies, treten Descartes (Cartesius) und Spinoza
an den Bauplan heran. - Descartes ist geboren 1596 und
1650 gestorben. Bei ihm ist der Ausgangspunkt seines
Weltanschauungsstrebens bedeutsam. Er stellt sich unbe-
fangen fragend der Welt gegeniiber, die ihm iiber ihre
Ratsel mancherlei darbietet, teils durch die religiose OfTen-
barung, teils durch die Beobachtung der Sinne. Er betrach-
tet nun weder das eine noch das andere nur so, dafi er es
einfach hinnimmt und als Wahrheit anerkennt, was es ihm
bringt; nein, er setzt ihm das «Ich» entgegen, das aller
Offenbarung und aller Wahrnehmung seinen Zweifel aus
dem eigenen Entschluft entgegensetzt. Es ist dies eine Tat-
sache des neueren Weltanschauungsstrebens von vielsagen-
der Bedeutung. Die Seele des Denkers inmitten der Welt
lafit nichts auf sich Eindruck machen, sondern setzt allem
sich mit dem Zweifel entgegen, der nur in ihr selber Be-
stand haben kann. Und nun erfafit sich diese Seele in
ihrem eigenen Tun: Ich zweifle, das heHk, ich denke. Also,
mag es sich mit der ganzen Welt wie immer verhalten, an
meinem zweifelnden Denken wird mir klar, dafi ich bin.
So kommt Cartesius zu seinem Cogito ergo sum: Ich
denke, also bin ich. - Das Ich erkampft sich bei ihm die
Berechtigung, das eigene Sein anerkennen zu diirfen durch
den radikalen Zweifel an der ganzen Welt. Aus dieser
Wurzel heraus holt Descartes das Weitere seiner Welt-
anschauung. Im «Ich» hat er das Dasein zu erfassen ge-
sucht. Was mit diesem «Ich» zusammen sein Dasein recht-
fertigen kann, das darf als Wahrheit gelten. Das Ich findet
- ihm angeboren - die Idee Gottes. Diese Idee stellt sich
in dem Ich so wahr, so deutlich dar, als das Ich sich selber
darstellt. Doch ist sie so erhaben, so gewaltig, daft sie das
Ich nicht durch sich selbst haben kann, also kommt sie
von einer auifteren Wirklichkeit, der sie entspricht. - An
die Wirklichkeit der Au£enwelt glaubt Descartes nicht
deshalb, weil sich diese Aufienwelt als wirklich darstellt,
sondern weil das Ich an sich und dann weiter an Gott glau-
ben mufi, Gott aber nur als wahrhaftig gedacht werden
kann. Denn es ware unwahrhaftig von ihm, dem Men-
schen eine wirkliche Aufienwelt vorzustellen, wenn diese
nicht wirklich ware.
So wie Descartes zur Anerkennung der Wirklichkeit des
Ich kommt, ist nur moglich durch ein Denken, das sich
im engsten Sinne auf dieses Ich richtet, urn einen Stiitz-
punkt des Erkennens zu finden. Das heilk, diese Moglich-
keit ist nur durch eine innere Tatigkeit, niemals aber
durch eine Wahrnehrnung von aufien moglich. Alle Wahr-
nehmung, die von auften kommt, gibt nur Eigenschaften
der Ausdehnung. So kommt Descartes dazu, zwei Sub-
stanzen in der Welt anzuerkennen: die eine, welcher die
Ausdehnung eigen ist, und die andere, welcher das Den-
ken eigen ist und in der die Menschenseele wurzelt. Die
Tiere, welche im Sinne des Descartes nicht in innerer, auf
sich gestiitzter Tatigkeit sich erfassen konnen, sind dem-
nach blofte Wesen der Ausdehnung, Automaten, Maschi-
nen. Auch der menschliche Leib ist eine blofie Maschine.
Die Seele ist mit dieser Maschine verbunden. Wird der
Leib durch Abnutzung und dergleidien unbrauchbar, so
verlalk ihn die Seele, um in ihrem Element weiter zu
leben.
Descartes steht schon in einer Zeit, in welcher ein neuer
Impuls im Weltanschauungsleben sich erkennen lalk. Die
Epodie vom Beginn der christlichen Zeitrechnung bis un-
gefahr zu Scotus Erigena verlauft in der Art, dafi das Ge-
dankenerleben von einer Kraft durchpulst ist, welche wie
ein machtiger Anstofi in die Geistesentwickelung herein-
tritt. Der in Griechenland erwachte Gedanke wird von
dieser Kraft Uberleuchtet. Im aufieren Fortgange des
menschlichen Seelenlebens driickt sich das in den religio-
sen Bewegungen und dadurch aus, dafi die jungen Volks-
krafte West- und Mitteleuropas die Wirkungen des alte-
ren Gedankenerlebens aufnehmen. Sie durchdringen die-
ses Erleben mit jiingeren elementareren Impulsen und bil-
den es dadurch um. Es zeigt sich darin einer der Fort-
schritte der Menschheit, welche dadurch bewirkt werden,
dafi altere vergeistigte Stromungen der Geistesentwicke-
lung, die ihre Lebenskraft, nicht aber ihre Geisteskraft
erschopft haben, fortgesetzt werden von jungen Kraften,
die aus der Natur des Menschentums auftauchen. Man
wird in solchen Vorgangen die wesentlichen Gesetze der
Menschheitsentwickelung erkennen diirfen. Sie beruhen
auf Verjiingungsprozessen des geistigen Lebens. Die er-
rungenen Geisteskrafte konnen sich nur weiter entfalten,
wenn sie in junge natiirliche Menschheitskrafte einge-
pflanzt werden. - Die ersten acht Jahrhunderte der christ-
lichen Zeitrechnung stellen ein Fortwirken des Gedanken-
erlebens in der Menschenseele so dar, dafi wie in einem
tief Verborgenen das Heraufkommen neuer Krafte noch
ruht, die bildend auf die Weltanschauungsentwickelung
wirken wollen. In Descartes zeigen sich diese Krafte be-
reits in einem hohen Grade wirksam. In dem Zeitalter
zwischen Scotus Erigena und (ungefahr) dem fUnfzehnten
Jahrhundert dringt der Gedanke in seiner Eigenkraft wie-
der hervor, die er in der vorangehenden Epoche nicht offen-
bar entf altet hat. Doch tritt er von einer ganz anderen Seite
hervor als im griechischen Zeitalter. Bei den griechischen
Denkern wird er als Wahrnehmung erlebt; vom achten
bis zum fiinfzehnten Jahrhundert kommt er aus den Tie-
fen der Seele herauf; der Mensch fiihlt: In mir erzeugt
sich der Gedanke. Bei den griechischen Denkern erzeugt
sich noch unmittelbar ein Verhaltnis des Gedankens zu
den Naturvorgangen; in dem angedeuteten Zeitalter steht
der Gedanke als Erzeugnis des Selbstbewufttseins da. Der
Denker empfindet, dafi er die Berechtigung des Gedankens
erweisen miisse. So fiihlen die Nominalisten, Realisten; so
fiihlt audi Thomas von Aquino, der das Gedankenerle-
ben in der religiosen Offenbarung verankert.
Das fiinfzehnte, sechzehnte Jahrhundert stellen einen
neuen Impuls vor die Seelen hin. Langsam bereitet sich
das vor, und langsam lebt es sich ein. In der menschlichen
Seelenorganisation vollzieht sich eine Umwandlung. Auf
dem Gebiete des Weltanschauungslebens bringt sich diese
Umwandlung dadurch zum Ausdrucke, dafi der Gedanke
nun nicht als Wahrnehmung empfunden werden kann, son-
dern als Erzeugnis des Selbstbewufltseins. Es ist diese Um-
wandlung in der menschlichen Seelenorganisation auf al-
ien Gebieten der Menschheitsentwickelung zu beobachten.
In der Renaissance der Kunst und Wissenschaft und des
europaischen Lebens, sowie in den reformatorischen Reli-
gionsbewegungen tritt sie zutage. Man wird sie finden
konnen, wenn man die Kunst Dantes und Shakespeares
nach ihren Untergriinden in der menschlichen Seelenent-
wickelung erforscht. - Hier kann dies alles nur angedeutet
werden; denn diese Ausfiihrungen wollen innerhalb des
Fortganges der gedanklichen Weltanschauungsentwicke-
lung bleiben.
Wie ein anderes Symptom dieser Umwandlung der
menschlichen Seelenorganisation erscheint das Heraufkom-
men der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart.
Man vergleiche doch den Zustand des Denkens liber die
Natur, wie er durch Kopernikus, Galilei, Kepler entsteht,
mit dem, was vorangegangen ist. Dieser naturwissenschaft-
lichen Vorstellung entspricht die Stimmung der Menschen-
seele im Beginne des neueren Zeitalters im sechzehnten
Jahrhundert. Die Natur wird von jetzt an so angesehen,
daft die Sinnesbeobachtung iiber sie zum alleinigen Zeu-
gen gemacht wird. Bacon ist die eine, Galilei die andere
Personlichkeit, in denen dies deutlich zutage tritt. Das
Naturbild soil nicht mehr so gemalt werden, dafi in dem-
selben der Gedanke als von der Natur geofFenbarte Macht
empfunden wird. Aus dem Naturbilde verschwindet all-
mahlich immer mehr, was nur als ein Erzeugnis des Selbst-
bewufitseins empfunden wird. So stehen sich die Schop-
fungen des Selbstbewufitseins und die Naturbeobachtung
immer schroffer, immer mehr durch einen Abgrund ge-
trennt gegeniiber. Mit Descartes kiindigt sich die Um-
wandlung der Seelenorganisation an, welche das Natur-
bild und die Schopfungen des Selbstbewulkseins ausein-
anderzieht. Vom sechzehnten Jahrhundert ab beginnt ein
neuer Charakter im Weltanschauungsleben sich geltend zu
machen. Nachdem in den vorangegangenen Jahrhunderten
der Gedanke so auftrat, dafi er als Erzeugnis des Selbst-
bewulkseins seine Rechtfertigung aus dem Weltbild ver-
langte, erweist er sich seit dem sechzehnten Jahrhundert
klar und deutlich im Selbstbewufksein auf sich allein ge-
stellt. Er hatte vorher nodi in dem Naturbilde selbst eine
Stiitze fur seine Rechtfertigung erblicken konnen; nun-
mehr tritt an ihn die Aufgabe heran, aus seiner eigenen
Kraft heraus sich GUltigkeit zu schaffen. Die Denker der
nun folgenden Zeit empfinden, wie in dem Gedankenerle-
ben selbst etwas gesucht werden miisse, das dieses Erleben
als berechtigten Schopfer eines Weltanschauungsbildes er-
weist.
Man kann das Bedeutsame dieser Wandlung des Seelen-
lebens erkennen, wenn man erwagt, in welcher Art noch
Naturphilosophen wie H. Cardanus (1501 — 1576) und
Bernardinus Telesius (1508 — 1588) iiber die Naturvor-
gange sprechen. In ihnen wirkt das Naturbild noch wei-
ter, das durch die Entstehung der naturwissenschaftlichen
Vorstellungsart des Kopernikus, Galilei und anderer seine
Kraft verliert. Fur Cardanus lebt in den Naturvorgangen
durchaus noch etwas, das er sich nach Art des Menschlich-
Seelischen vorstellt, wie das audi im griechischen Denken
moglich gewesen ware. Telesius spricht von Gestaltungs-
kraften in der Natur, welche er nach dem Bilde denkt, das
er aus der menschlidien Gestaltungskraft gewinnt. Galilei
mufi bereits sagen: Das, was der Mensch zum Beispiel als
Warmeempfindung in sich hat, ist als solches in der aufie-
ren Natur ebensowenig vorhanden, wie der Kitzel, den
der Mensch an der Fufisohle empfindet, in der Aufienwelt
vorhanden ist, wenn er mit einer Vogelf eder beriihrt wird.
Telesius darf noch sagen: Warme und Kalte sind die trei-
benden Krafte der Weltvorgange; Galilei mu£ schon be-
haupten: Der Mensch kennt die Warme als Erlebnis seines
Innern nur; in dem Naturbilde kann nur gedacht werden,
was nichts von diesem Innern enthalt. So werden Vorstel-
lungen der Mathematik und der Medianik zu dem, was
das Naturbild allein gestalten darf. An einer Personlich-
keit wie Leonardo da Vinci (1452 — 15 19), der als Denker
eine ebenso iiberragende Grofie hat wie als Kunstler, er-
kennt man das Ringen nach einer neuen Gesetzmafiigkeit
des Naturbildes. Solche Geister fiihlen die Notwendigkeit,
zur Natur einen Weg zu finden, der dem griechischen Den-
ken und seinen Nachwirkungen im Mktelalter nodi nidit
gegeben war. Der Mensch mufi ablegen, was er an Erleb-
nissen Uber sein eigenes Innere hat, wenn er den Zugang
zur Natur gewinnen will. Er darf die Natur nur in Vor-
stellungen abbilden, welche nichts von dem enthalten, was
er als Wirkungen der Natur in sich selbst erlebt.
So stellt sich die Menschenseele aus der Natur heraus,
sie stellt sich auf sich selbst. Solange man noch denken
konnte, in der Natur strome etwas von dem, was audi im
Menschen unmittelbar erlebt wird, konnte man ohne Be-
denken sich berechtigt fiihlen, iiber Naturvorgange den
Gedanken sprechen zu lassen. Das Naturbild der neueren
Zeit zwingt das menschliche Selbstbewufitsein, sich mit
dem Gedanken aufierhalb der Natur zu fiihlen und so ihm
eine Geltung zu schaffen, die er durch seine eigene Kraft
gewinnt.
Vom Beginne der christlichen Zeitrechnung bis zu Sco-
tus Erigena wirkt das Gedankenerleben so fort, dafi seine
Gestalt bestimmt wird durch die Voraussetzung einer gei-
stigen Welt - derjenigen der religiosen Offenbarung -; vom
achten bis zum sechzehnten Jahrhundert ringt sich das
Gedankenerlebnis aus dem Inneren des Selbstbewufttseins
los und lalk neben seiner Keimkraft die andere der Off en-
barung bestehen. Von dem sechzehnten Jahrhundert an
ist es das Naturbild, welches das Gedankenerlebnis aus
sich hinausdrangt; es sucht fortan das Selbstbewufitsein
aus seinen eigenen Kraften dasjenige zu holen, was ein
Weltanschauungsbild mit Hilfe des Gedankens gestalten
kann. Vor dieser Aufgabe fand sich Descartes. Es fanden
sich vor ihr die Denker der neuen Weltanschauungs-
epoche.
Benedict Spinoza (1632 — 1677) fragt sich: Wie mufi
dasjenige gedacht werden, von dem zur Schopfung eines
wahren Weltbildes ausgegangen werden darf? Diesem
Ausgangspunkte liegt zugrunde die Empfindung: Mogen
sich ungezahlte Gedanken als wahr in meiner Seele an-
kiindigen, ich gebe mich dem hin als Grundstein zu einer
Weltanschauung, dessen Eigenschaften ich erst bestimmen
mufi. Spinoza findet, dafi ausgegangen nur werden kann
von dem, das zu seinem Sein keines andern bedarf. Die-
sem Sein gibt er den Namen Substanz. Und er findet, daft
es nur eine solche Substanz geben konne, und dafi diese
Gott sei. "Wenn man sich die Art ansieht, wie Spinoza zu
diesem Anfang seines Philosophierens kommt, so findet
man seinen Weg dem der Mathematik nachgebildet. Wie
der Mathematiker von allgemeinen Wahrheiten ausgeht,
die das menschliche Ich sich freischaffend bildet, so ver-
langt Spinoza, dafi die Weltanschauung von solchen frei
geschafFenen Vorstellungen ausgehe. - Die eine Substanz
ist so, wie das Ich sie denken mufi. So gedacht, duldet sie
nichts, was, aufier ihr vorhanden, ihr gleich ware. Denn
dann ware sie nicht alles; sie hatte zu ihrem Dasein etwas
anderes notig. Alles andere ist also nur an der Substanz,
als eines ihrer Attribute, wie Spinoza sagt. Zwei soldier
Attribute sind dem Menschen erkennbar. Das eine erblickt
er, wenn er die Aufienwelt iiberschaut; das andere, wenn
er sidi nach innen wendet. Das erste ist die Ausdehnung,
das zweite das Denken. Der Mensdi tragt in seinem ¥e-
sen die beiden Attribute; in seiner Leiblichkeit die Aus-
dehnung, m seiner Seele das Denken. Aber er ist mit bei-
den ein Wesen in der einen Substanz. Wenn er denkt,
denkt die gottliche Substanz, wenn er handelt, handelt die
gottliche Substanz. Spinoza erwirbt fur das menschliche
Ich das Dasein, indem er dieses Ich in der aligemeinen,
alles umfassenden gottlichen Substanz verankert. Von un-
bedingter Freiheit des Menschen kann da nicht die Rede
sein. Denn der Mensch ist so wenig selbst dasjenige, das
aus sich handelt und denkt, wie es der Stein ist, der sich
bewegt; es ist in allem die eine Substanz. Von bedingter
Freiheit nur kann beim Menschen dann gesprochen wer-
den, wenn er sich nicht fur ein selbstandiges Einzelwesen
halt, sondern wenn er sich eins weiG mit der einen Sub-
stanz. Spinozas Weltanschauung fuhrt in ihrer konsequen-
ten Ausbildung in einer Personlichkeit bei dieser zu dem
Bewufksein: Ich denke iiber mich im rechten Sinne, wenn
ich mich nicht weiter beriicksichtige, sondern in meinem
Erleben mich eins weifi mit dem gottlichen All. Dieses Be-
wufksein giefit dann„ im Sinne Spinozas, iiber die ganze
menschliche Personlichkeit den Trieb zum Rechten, das
ist gotterfiilltes Handeln. Dieses ergibt sich wie selbstver-
standlich fur denjenigen, in dem die rechte Weltanschau-
ung voile Wahrheit ist. Daher nennt Spinoza die Schrift,
in der er seine Weltanschauung darstellt, Ethik. Ihm ist
Ethik, das ist sittliches Verhalten, im hochsten Sinne Er-
gebnis des wahren Wissens von dem Wohnen des Men-
schen in der einen Substanz. Man mochte sagen, das Pri-
vatleben Spinozas, des Mannes, der erst von Fanatikern
verfolgt wurde, dann nacli freiwiliiger Hinweggabe seines
Vermogens in Armlichkeit als Handwerker sidi seinen
Lebensunterhalt suchte, war in seltenster Art der aufiere
Ausdruck seiner Philosophenseele, die ihr Ich im gottlichen
All wufke, und alles seelische Erleben, ja alles Erleben
iiberhaupt von diesem Bewufitsein durchleuchtet empf and.
Spinoza baut ein Weltanschauungsbild aus Gedanken
auf. Diese Gedanken miissen so sein, dafi sie aus dem
Selbstbewufitsein heraus ihre Berechtigung zum Aufbau
des Bildes haben. Daher mufi ihre Gewifiheit stammen.
Was das Selbstbewufitsein so denken darf, wie es die sich
selbst tragenden mathematisdien Ideen denkt, das kann
ein Weltbild gestalten, das Ausdruck ist dessen, was in
Wahrheit hinter den Welterscheinungen vorhanden ist.
In einem ganz anderen Sinne als Spinoza sucht Gott-
fried Wilhelm v. Leibniz (1646 — 171 6) die Rechtfertigung
des Ich-Bewufitseins im Dasein der Welt. Sein Ausgangs-
punkt gleicht dem des Giordano Bruno, insofern er die
Seele oder das «Ich» als Monade denkt. Leibniz findet in
der Seele das Selbstbewufitsein, das ist das Wissen der
Seele von sich selbst, also die Offenbarung des Ich. Es
kann nichts anderes in der Seele sein, was denkt und emp-
findet, als nur sie selbst. Denn wie sollte die Seele von sich
wissen, wenn das Wissende ein anderes ware? Aber sie
kann audi nur ein einfaches Wesen sein, nicht ein zusam-
mengesetztes. Denn Teile in ihr konnten und mufiten
voneinander wissen; die Seele weifi aber nur als die eine
von sich als der einen. So ist die Seele ein einfaches, in
sich geschlossenes, sich vorstellendes Wesen, eine Monade.
In diese Monade kann nun aber nichts hineinkommen,
was aufier ihr ist. Denn in ihr kann nichts anderes als nur
sie selbst tatig sein. All ihr Erleben, ihr Vorstellen, Emp-
finden usw. ist das Ergebnis ihrer eigenen Tatigkeit. Eine
andere Tatigkeit in ihr konnte sie nur durdi ihre Ab-
wehr gegen diese Tatigkeit wahrnehmen, das heifk, sie
wiirde doch nur sich selbst in ihrer Abwehr wahrnehmen.
Nichts Aufieres also kann in diese Monade kommen. Leib-
niz driickt das so aus, dafi er sagt: die Monade habe keine
Fenster. Alle wirklichen Wesen sind in Leibniz' Sinne Mo-
naden. Und es gibt in Wahrheit nichts als Monaden. Nur
haben diese verschiedenen Monaden verschieden intensives
Innenleben. Es gibt Monaden mit ganz dumpfem Innen-
leben, die wie schlafend sind, solche, die wie traumend
sind, dann die wachen Menschenmonaden bis hinauf zu
dem hochst gesteigerten Innenleben der gottlichen Ur-
monade. Wenn der Mensch in seiner Sinnesanschauung
«
nicht Monaden sieht, so kommt dies daher, dafi die Mo-
naden von dem Menschen so iiberschaut werden, wie etwa
der Nebel, der nicht ein Nebel ist, sondern ein Mucken-
schwarm. Was die Sinne des Menschen sehen, ist wie em
Nebelbild, das durch die beieinander seienden Monaden
gebildet wird.
So ist fur Leibniz die Welt in Wahrheit eine Summe
von Monaden, die gar nicht aufeinander wirken, sondern
unabhangig voneinander lebende selbstbewulke Wesen -
Iche - sind. Wenn die einzelne Monade in ihrem Innen-
leben doch ein Abbild des allgemeinen Weltlebens hat, so
riihrt dies nicht davon her, dafi die emzelnen Monaden
aufeinander wirken, sondern davon, dafi im gegebenen
Falle die eine Monade das innerlich fiir sich erlebt, was
audi eine andere Monade unabhangig von ihr erlebt. Die
Innenleben der Monaden stimmen zusammen, wie Uhren
dieselben Stunden zeigen, trotzdem sie nicht aufeinander
wirken. Wie die Uhren zusammenstimmen, weil sie an-
fanglich aufeinander gestimmt sind, so sind die Monaden
durch die von der gottlidien Urmonade ausgehende pra-
stabilierte Harmonie aufeinander gestimmt.
Dies ist das Weltbild, zu dem Leibniz getrieben wird,
weil er es so gestalten mu8, dafi sich in diesem Bilde das
selbstbewufite Seelenleben, das Ich, als eine Wirklichkeit
behaupten kann, Es ist ein Weltbild, das vollig aus dem
«Ich» selbst heraus gestaltet ist. Ja, dies kann, nach Leib-
niz' Ansicht, audi gar nicht anders sein. In Leibniz fiihrt
das Weltanschauungsstreben zu einem Punkte, wo es, um
die Wahrheit zu finden, nichts von dem als Wahrheit hin-
nimmt, was sich in der Auftenwelt ofTenbart.
Im Sinne des Leibniz ist das Sinnenleben des Menschen
so bewirkt, dafi die Seelenmonade in Verbindung mit an-
deren Monaden tritt, welche ein dumpferes, traumendes,
schlafendes Selbstbewufksein haben. Eine Summe soldier
Monaden ist der Leib; mit ihm ist verbunden die eine
wachende Seelenmonade. Im Tode trennt sich diese Zen-
tralmonade von den anderen und fiihrt fur sich das Da-
sein weiter.
Ist Leibniz' Weltbild ein solches, das ganz aus der inne-
ren Energie der selbstbewufiten Seele herausgebildet ist,
so ist das seines Zeitgenossen John Locke (1632 — 1704)
vollig auf der Empfindung auferbaut, da£ ein derartiges
Herausarbeiten aus der Seele nicht sein diirfe. Locke aner-
kennt nur als berechtigte Glieder einer Weltanschauung,
was beobachtet (erfahren) werden kann, und was auf
Grundlage der Beobachtung iiber das Beobachtete gedacht
werden kann. Ihm ist die Seele nicht ein Wesen, das aus
sich heraus wirkliche Erlebnisse entwickelt, sondern eine
unbeschriebene Tafel, auf welche die Aufienwelt ihre Ein-
zeichnungen macht. So ist fur Locke das menschliche Selbst-
bewufksein ein Ergebnis des Erlebens, nicht ein Idi der
Ursprung dieses Erlebens. Wenn ein Ding der Aufienwelt
auf den Menschen einen Eindruck macht, so ist daruber
das Folgende zu sagen: An dem Dinge sind in Wahrheit
nur Ausdehnung, Figur, Bewegung; durch die Beriihrung
mit den Sinnen entstehen Tone, Farben, Geriiche, Warme
und so weiter. Was so an den Sinnen entsteht, ist nur so
lange da, als die Sinne sich mit den Dingen beriihren.
Aufter der Wahrnehmung sind nur verschieden geformte
und in verschiedenen Bewegungszustanden befindliche Sub-
stanzen vorhanden. - Locke fuhlt sich gezwungen, anzu-
nehmen, dafi aufier Gestalt und Bewegung dasjenige, was
die Sinne wahrnehmen, nichts mit den Dingen selbst zu
tun habe. Er macht damit den Anfang mit einer Welt-
anschauungsstromung, welche die Eindriicke der Aufien-
welt, die der Mensch erkennend erlebt, nicht als der Welt
- an sich - angehorig betrachten will.
Ein merkwurdiges Schauspiel stellt sich mit Locke vor
die betraditende Seele hin. Der Mensch soli nur erkennen
konnen dadurch, dafi er wahrnimmt und iiber das Wahr-
genommene denkt; aber, was er wahrnimmt, hat mit den
eigenen Eigenschaften der Welt nur zum geringsten Teile
etwas zu tun. - Leibniz weicht zuriick vor dem, was die
Welt offenbart, und schafft aus dem Innern der Seele ein
Weltbild; Locke will nur ein Weltbild, das von der Seele
im Verein mit der Welt geschaffen wird; aber durch sol-
ches SchafTen kommt kein Bild der Welt zustande. Indem
Locke nicht, wie es Leibniz tut, in dem Ich selbst den
Stiitzpunkt fur eine Weltanschauung sehen kann, kommt
er zu Vorstellungen, welche nicht geeignet erscheinen, eine
solche zu begriinden, weil sie den Besitz des menschlichen
Ich nicht zum Innern der Welt zahlen konnen. Eine
Weltansicht wie diejenige Lockes verliert den Zusammen-
hang mit jeder Welt, in welcher das «Ich», die selbstbe-
wufite Seele, wurzeln konnte, weil sie von vornherein von
anderen Wegen zum Weltengrunde nichts wissen will, als
nur von soldien, die sich im Sinnesdunkel verlieren.
In Locke treibt die Weltanschauungsentwickelung eine
Form hervor, innerhalb weldier die selbstbewulke Seele
um ihr Dasein im Weltbilde kampft, jedoch diesen Kampf
verliert, weil sie ihre Erlebnisse nur im Verkehre mit der
durch das Naturbild gegebenen Aufienwelt zu gewinnen
glaubt. Sie mufi sich daher jedes Wissen tiber etwas ab-
spredien, was zu ihrem Wesen aufierhalb dieses Verkehres
gehoren konnte.
Von Locke angeregt, kam George Berkeley (1684 bis
1753) zu vollig anderen Ergebnissen als jener. Berkeley
findet, daft die Eindriicke, welche die Dinge und Vorgange
der Welt auf die menschliche Seele zu machen sdieinen,
doch in Wahrheit in dieser Seele selbst seien. Sehe ich
«rot», so mufi ich in mir dieses «Rot» zum Dasein bringen;
fiihle ich «warm», so lebt die «Warmheit» in mir. Und so
ist es mit allem, was ich scheinbar von aufien empfange.
Aufier dem, was ich in mir selbst erzeuge, weifi ich aber
iiberhaupt von aufieren Dingen nichts. So aber hat es gar
keinen Sinn, von Dingen zu sprechen, die materiell, stoff-
lich sein sollen. Denn ich kenne nur, was in meinem Geiste
auftritt als Geistiges. Was ich zum Beispiel Rose nenne,
ist ganz Geistiges, namlich eine von meinem Geiste erlebte
Vorstellung. Es ist also, meint Berkeley, nirgends etwas
anderes als Geistiges wahrzunehmen. Und wenn ich be-
merke, dafi etwas von aufien in mir bewirkt wird, so kann
es nur von geistigen Wesenheiten bewirkt sein. Denn es
konnen Korper doch nicht Geistiges wirken. Und meine
Wahrnehmungen sind durchaus Geistiges. Es gibt also nur
Geister in der Welt, die aufeinander wirken. Das ist Ber-
keley's Anschauung. Sie wendet die Vorstellungen Lockes
in deren Gegenteil um, indem sie alles, was dieser als Ein-
driicke der materiellen Dinge betrachtet, als geistige Wirk-
lidikeit auffalk, und so sich mit dem Selbstbewufitsein un-
mittelbar in einer geistigen Welt zu erkennen vermeint.
Andere haben die Gedanken Lockes zu anderen Ergeb-
nissen gefiihrt. Ein Beispiel dafur ist Condillac (171 5 bis
1780). Er meint, wie Locke, alle Welterkenntnis miisse,
ja konne nur auf der Beobachtung der Sinne und dem Den-
ken beruhen. Doch schritt er bis zu der aufiersten Konse-
quenz weiter: das Denken habe fiir sich kerne selbstandige
Wirklichkeit; es sei weiter nichts als eine verfeinerte, um-
gewandelte aufiere Sinneswahrnehmung. Somit diirfen in
ein Weltbild, das der Wahrheit entsprechen soil, nur Sin-
nesempfindungen aufgenommen werden. Seine Erlaute-
rung in dieser Riditung ist vielsagend: Man nehme den
seelisch noch ganz unaufgeweckten Menschenleib und
denke sich einen Sinn nach dem anderen erwachend. Was
hat man nun an diesem empfindenden Leibe mehr, als vor-
her an dem nicht empfindenden? Einen Leib, auf den die
Umwelt Eindriicke gemacht hat. Diese Eindriicke der Um-
welt haben ganz und gar das bewirkt, was ein «Ich» zu
sein vermeint. - Diese Weltanschauung kommt zu keiner
Moglichkeit, das «Ich», die selbstbewufite «Seele», irgend-
wo zu erfassen, und sie kommt zu keinem Weltbilde, in
dem dieses «Ich» vorkommen konnte. Es ist die Welt-
anschauung, welche dadurch mit der selbstbewufiten Seele
fertig zu werden sucht, dafi sie sie hinwegbeweist. Auf
ahnlichen Pfaden wandeln Charles Bonnet (1720 — 1793),
Claude Adrien Helvetius (171 5 — i77i)> Julien de La Met-
trie (1709 — 175 1) und das 1770 erschienene « System der
Natur» (Systeme de la nature) von Holbach. Es ist in
demselben alles Geistige aus dem Weltbilde vertrieben.
Es wirken in der Welt nur der Stoff und seine Krafte, und
fur dieses entgeistigte Bild der Natur findet Holbach die
Worte: «0 Natur, Beherrscherin aller Wesen, und ihr,
deren Tochter, Tugend, Vernunft und Wahrheit, seid ihr
fiir immer unsere einzigen Gottheiten.»
In de La Mettries «Der Mensch eine Maschine» kommt
ein Weltanschauungsbild zutage, das von dem Natur-
bilde so iiberwaltigt ist, dafi es nur noch dieses gelten las-
sen kann. Was im Selbstbewufitsein auftritt, mufi daher
vorgestellt werden wie etwa das Spiegelbild gegeniiber
dem Spiegel. Die Leibesorganisation ware dem Spiegel zu
vergleichen, das Selbstbewufitsein dem Bilde. Das letztere
hat, abgesehen von der ersteren, keine selbstandige Be-
deutung. In «Der Mensch eine Maschine» ist zu lesen:
«Wenn... aber alle Eigenschaften der Seele von der eigen-
tumlichen Organisation des Gehirns und des ganzen Kor-
pers so sehr abhangen, daft sie sichtlich . . . nur diese Organi-
sation selbst sind, so liegt... hier eine sehr aufgeklarte
Maschine vor . . . Die Seele ist also nur ein nichtssagender
Ausdruck, von dem man gar keine Vorstellung hat und
den ein scharfer Kopf nur gebrauchen darf, um damit den
Teil, der in uns denkt, zu benennen. Nimmt man auch nur
das einfachste Prinzip der Bewegung in ihnen an, so ha-
ben die beseelten Korper alles, was sie brauchen, um sich
zu bewegen, zu empfinden, zu denken, zu bereuen, kurz,
um im Physischen und im Moralischen, welches davon ab-
hangt, ihren Weg zu finden» . . . «Wenn das, was in mei-
nem Gehirn denkt, nicht ein Teil dieses Eingeweides und
folglich des ganzen Korpers ist, warum erhitzt sich dann
mein Blut, wenn ich ruhig in meinem Bett den Plan zu
meinem Werke madie, oder einen abstrakten Gedanken-
gang verfolge.» (Vgl. de La Mettrie, Der Mensch eineMa-
sdiine. Philosophische Bibliothek Bd. 68.) In die Kreise,
in weldie diese Geister - audi Diderot, Cabanis und an-
dere gehoren nodi zu ihnen - wirkten, hat Voltaire (1694
bis 1778) die Lehren Lockes gebradit. Voltaire selbst ist
wohl niemals bis zu den letzten Konsequenzen der ge-
nannten Philosophen gescliritten. Er Heft sich aber selbst
von Lockes Gedanken anregen, und in seinen glanzenden
und blendenden Schriften ist vieles von diesen Anregun-
gen zu fuhlen. Materialist im Sinne der Genannten konnte
er selbst nicht werden. Er lebte in einem zu weiten Vor-
stellungshorizont, um den Geist abzuleugnen. Das Be-
diirfnis fiir Weltanschauungsfragen hat er in weitesten
Kreisen geweckt, weil er so schrieb, daft diese Weltanschau-
ungsfragen an die Interessen dieser Kreise ankniipften. -
Uber ihn ware viel zu sagen in einer Darstellung, welche
die Weltanschauungsstromungen in die Region der Zeit-
fragen verfolgen wollte. Das ist mit diesen Ausfuhrungen
nicht beabsichtigt. Es sollen nur die hoheren Weltanschau-
ungsfragen im engeren Sinne betrachtet werden; daher
kann uber Voltaire und audi uber den Gegner der Auf-
klarung, Rousseau, hier nichts weiter vorgebracht werden.
Verliert sich Locke im Sinnesdunkel, so David Hume
(171 1 — 1776) im Innern der selbstbewuftten Seele, deren
Erlebnisse ihm nicht von Kraften einer Weltordnung,
sondern von der Macht der menschlichen Gewohnung be-
herrscht scheinen. Warum spricht man davon, dafi ein Vor-
gang in der Natur Ursache, ein anderer Wirkung sei? so
fragt Hume. Der Mensch sieht, wie die Sonne den Stein
bescheint; er nimmt dann wahr, daft der Stein warm ge-
worden ist. Er sieht diese beiden Vorgange oft aufeinan-
der folgen. Deswegen gewohnt er sidi, sie als zusammen-
gehorig zu denken. Er macht den Sonnensdiein zur Ur-
sache, die Erwarmung des Steines zur Wirkung. Die Denk-
gewohnung verkniipft die Wahrnehmungen, nicht aber
gibt es aufierhalb in einer wirklichen Welt etwas, was sich
als ein soldier Zusammenhang selbst off enbart. Der Mensch
sieht auf einen Gedanken seiner Seele eine Bewegung sei-
nes Leibes folgen; er gewohnt sich, zu denken, der Ge-
danke sei die Ursache, die Bewegung die Wirkung. -
Denkgewohnheiten, nichts weiter - meint Hume - liegen
den Aussagen des Menschen iiber die Weltvorgange zu-
grunde. - Durch Denkgewohnheiten kann die selbstbe-
wufite Seele zu Richtlinien fiir das Leben kommen; sie
kann aber in diesen ihren Gewohnheiten nichts finden zum
Gestalten eines Weltbildes, das fiir die Wesenheit aufier
der Seele eine Bedeutung hatte. So bleibt fiir Humes Welt-
anschauung alles, was der Mensch sich an Vorstellungen
bildet iiber die Sinnes- und Verstandesbeobachtung hin-
aus, ein bloiKer Glaubensinhalt; es kann nie ein Wissen
werden. Uber das Schicksal der selbstbewufiten Menschen-
seele, iiber ihr Verhaltnis zu einer anderen als der Sinnes-
welt kann es nicht Wissenschaft, sondern nur Glauben
geben.
Leibniz' Weltanschauungsbild erfuhr eine in die Breite
gehende, verstandesmafiige Ausbildung durch Christian
Wolff (geb. 1679 in Breslau, Professor in Halle). Wolff
ist der Meinung, es lasse sich eine Wissenschaft begriinden,
welche durch reines Denken dasjenige erkennt, was mog-
lich ist, was zur Existenz berufen ist, weil es dem Denken
widerspruchsfrei erscheint, und so bewiesen werden kann.
Auf diesem Wege begriindet Wolff eine Welt-, Seelen-,
Gotteswissenschaft. Es beruht diese Weltanschauung auf
der Voraussetzung, dafi die selbstbewufite Menschenseele
in sich Gedanken bilden konne, die giiltig sind fur das-
jenige, was ganz und gar aufierhalb ihrer selbst liegt. Hier
liegt das Ratsel, das sich dann Kant aufgegeben f unite:
"Wie sind durch die Seele zustandegebrachte Erkenntnisse
moglich, die doch Geltung haben sollen fiir Weltwesen,
die aufierhalb der Seele liegen?
In der Weltanschauungsentwickelung seit dem fiinf-
zehnten, dem sechzehnten Jahrhundert driickt sich das Be-
streben aus, die selbstbewuftte Seele auf sich so zu stellen,
dafi sie sich als berechtigt anerkennen konne, iiber die Rat-
sel der Welt gultige Vorstellungen zu bilden. Aus dem
Bewulksein der zweiten Halfte des achtzehnten Jahrhun-
derts heraus empfindet Lessing (1729 — 178 1) dieses Be-
streben als den tiefsten Impuls der menschlichen Sehn-
sucht. Wenn man ihn hort, so hort man mit ihm viele
Personlichkeiten, welche in diesem Sehnen den Grund-
charakter dieses Zeitalters offenbaren. - Die Verwandlung
der religiosen Offenbarungswahrheiten in Vernunftwahr-
heiten, das strebt Lessing an. Sein Ziel ist in den mannig-
faltigen Wendungen und Ausblicken, welche sein Denken
nehmen mufi, doch deutlich erkennbar. Lessing fuhlt sich
mit seinem selbstbewufiten Ich in einer Entwickelungs-
epoche der Menschheit, welche durch die Kraft des Selbst-
bewufkseins erlangen soil, was ihr vorher von aufien -
durch OfFenbarung - zugeflossen ist. Was in der Geschichte
vorangegangen ist, wird damit fiir Lessing zum Vorberei-
tungsprozefi fiir den Zeitpunkt, in dem sich das Selbst-
bewufksein des Menschen allein auf sich stellt. So wird ihm
die Geschichte zu einer «Erziehung des Menschengeschlech-
tes». Und dies ist audi der Titel seines auf seiner Hohe
geschriebenen Aufsatzes, in dem er das Wesen der Men-
schenseele nicht auf ein Erdenleben beschrankt wissen will,
sondern es wiederholte Erdenleben durchmachen lafit. Die
Seele lebt durch Zwischenzeiten getrennte Leben in den
Perioden der Menschheitsentwickelung, nimmt in jeder
Periode auf, was diese ihr geben kann, und verkorpert
sich wieder in einer folgenden Periode, um da sich weiter-
zuen twickeln. Sie tragt also selbst aus einem Menschheits-
zeitalter die Friichte desselben in die folgenden hinuber
und wird so durch die Geschichte «erzogen». In Lessings
Anschauung wird das Ich also iiber das Einzelleben hinaus
erweitert; es wird eingewurzelt in eine geistig wirksame
Welt, die hinter der Sinneswelt liegt.
Damit steht Lessing auf dem Boden einer Weltanschau-
ung, welche dem selbstbewufiten Ich es durch dessen eigene
Natur fiihlbar machen will, wie das, was in ihm wirkt,
nicht in dem sinnlichen Einzelleben sich restlos zum Aus-
druck bringt.
In anderer Art, doch mit demselben Impuls suchte Her-
der (1744 — 1803) zu einem Weltbild zu kommen. Er wen-
det den Blick auf das gesamte physische und geistige Uni-
versum. Er sucht gewissermafien den Plan dieses Univer-
sums. Den Zusammengang und Zusammenklang der Na-
turerscheinungen, das Aufdammern und Aufleuchten der
Sprache und der Poesie, den Fortgang des geschichtlichen
Werdens: alles das la£t Herder auf seine Seele wirken,
durchdringt es mit oft genialischen Gedanken, um zu einem
Ziele zu kommen. In aller Aufienwelt - so kann man
sagen, stellt sich fiir Herder dieses Ziel dar - drangt sich
etwas zum Dasein, was zuletzt in der selbstbewufiten See-
le offenbar erscheint. Diese selbstbewufke Seele enthiillt
sich, indem sie sich im Universum gegriindet fiih.lt, nur den
Weg, den ihre eigenen Krafte in ihr genommen haben,
bevor sie Selbstbewufksein erlangt hat. Die Seele darf
sich - nach Herders Anschauung - in dem Weltall wurzelnd
fiihlen, denn sie erkennt in dem ganzen natiirlichen und
geistigen Zusammenhang des Universums einen Vorgang,
der zu ihr fiihren mufite, wie die Kindheit zum reifen
Menschenleben im personlichen Dasein fiihren mufi. Es
ist ein umfassendes Bild dieses seines Weltgedankens,
das Herder in seinen «Ideen zur Philosophic der Ge-
schichte der Menschheit» zur Darstellung bringt. Es ist der
Versuch, das Naturbild im Einklange mit dem Geistes-
bilde so zu denken, dafi in diesem Naturbilde audi ein
Platz ist fur die selbstbewuflte Menschenseele. - Man darf
nicht aufier adit lassen, dafi in Herders Weltanschauung
das Ringen sich zeigt, zugleidi mit der neueren naturwis-
senschaftlichen Vorstellungsart und mit den Forderungen
der selbstbewufiten Seele sich auseinanderzusetzen. Her-
der stand vor den modernen Weltanschauungsforderun-
gen wie Aristoteles vor den griechischen. Wie sich die bei-
den in verschiedener Art zu dem ihnen von ihrem Zeit-
alter gegebenen Bilde der Natur verhalten mufiten, das
gibt ihren Anschauungen die charakteristische Farbung.
Wie Herder im Gegensatz zu anderen seiner Zeitgenos-
sen sich zu Spinoza stellt, wirft Licht auf seine Stellung in
der Weltanschauungsentwickelung. Diese Stellung tritt in
ihrer Bedeutung hervor, wenn man sie vergleicht mit der-
jenigen Friedrich Heinrich Jacobis (1743 — 181 9). Jacobi
findet in Spinozas "Weltbild dasjenige, wozu der mensch-
liche Verstand kommen mufi, wenn er die Wege verfolgt,
welche ihm durch seine Krafte vorgezeichnet sind. Es er-
schopft dieses Weltbild den Umfang dessen, was der
Mensch iiber die Welt wissen kann. "Dber die Natur der
Seele, iiber den gottlichen Weltgrund, iiber den Zusam-
menhang der Seele mit diesem kann aber dieses Wissen
nichts entscheiden. Diese Gebiete erschliefien sidi dem Men-
schen nur, wenn er sich einer Glaubenserkenntnis hingibt,
die auf einer besonderen Seelenfahigkeit beruht. Das Wis-
sen mufi daher, im Sinne Jacobis, notwendig atheistisch
sein. Es kann in seinem Gedankenbau streng notwendige
Gesetzmafiigkeit, nicht aber gottliche Weltordnung haben.
So wird fur Jacobi der Spinozismus die einzig mogliche
wissenschaftliche Vorstellungsart; aber er sieht in diesem
zugleich einen Beweis fiir die Tatsache, dafi diese Vorstel-
lungsart den Zusammenhang mit der geistigen Welt nicht
finden kann. - Herder verteidigt 1787 Spinoza gegen den
Vorwurf des Atheismus. Er kann das. Denn er schreckt
nicht davor zuriick, das Erleben des Menschen in dem gott-
lidien Urwesen auf seine Art ahnlich zu empfinden wie
Spinoza. Nur spricht Herder dieses Erleben auf andere
Art aus als Spinoza. Dieser baut ein reines Gedanken-
gebaude auf; Herder sucht seine "Weltanschauung nicht
blofi durch Denken, sondern durch die ganze Fiille des
menschlichen Seelenlebens zu gewinnen. Fiir ihn ist ein
schrofFer Gegensatz von Glauben und Wissen dann nicht
vorhanden wenn die Seele sich klar wird iiber die Art, wie
sie sich selbst erlebt. Man spricht in seinem Sinne, wenn
man das seelische Erleben so ausdriickt: Wenn der Glaube
sich auf seine Griinde in der Seele besinnt, so kommt er
zu Vorstellungen, welche nicht ungewisser sind als diejeni-
gen, welche durch das blofie Denken gewonnen werden.
Herder nimmt alles, was die Seele in sich finden kann, in
gelauterter Gestalt als Krafte hin, die ein Weltbild liefern
konnen. So ist seine Vorstellung des gottlichen Welten-
grundes reicher, gesattigter als diejenige Spinozas; aber sie
setzt das menschlidie Ich zu diesem Weltgrunde in ein
Verhaltnis, das bei Spinoza nur als Ergebnis des Denkens
auftritt.
Wie in einem Knotenpunkte der mannigfaitigsten Fa-
den der neueren Weltanschauungsentwickelung stent man,
wenn man den Blick darauf riditet, wie in diese Ent-
wickelung der Gedankengang Spinozas in den achtziger
Jahren des achtzehnten Jahrhunderts eingreift. 1785 ver-
offentlicht Fr. H. Jacobi sein «Spinoza-Buchlein». Er teilt
darin ein Gesprach mit, das er mit Lessing vor dessen Le-
bensende gefuhrt hatte. Lessing hat sich, nach diesem Ge-
sprache, selbst zum Spinozismus bekannt. Fur Jacobi ist
damit zugleich Lessings Atheismus festgestellt. Man mufi,
wenn man das «Gesprach mit Jacobi» als mafigebend fiir
die intimen Gedanken Lessings anerkennt, diesen als eine
Personlichkeit ansehen, welche anerkennt, dafi der Mensch
eine seinem Wesen entsprechende Weltanschauung nur ge-
winnen konne, wenn er die feste Gewi£heit, welche die
Seele dem durch eigene Kraft lebenden Gedanken gibt,
zum Stutzpunkt seiner Anschauung nimmt. Mit einer sol-
chen Idee erscheint Lessing als ein prophetischer Vor-Fiih-
ler der Weltanschauungsimpulse des neunzehnten Jahr-
hunderts. Dafi er diese Idee erst in einem Gesprache kurz
vor seinem Tode auftert, und dafi sie in seinen eigenen
Schriften noch wenig zu bemerken ist, bezeugt, wie schwer
das Ringen, auch der freiesten Kopfe, geworden ist mit
den Ratselfragen, welche das neuere Zeitalter der Welt-
anschauungsentwickelung aufgegeben hat. - Die Weltan-
schauung muE sich doch in Gedanken aussprechen. Doch
die iiberzeugende Kraft des Gedankens, die im Platonis-
mus ihren Hdhepunkt, im Aristotelismus ihre selbstver-
standliche Entfaltung gefunden hatte, war aus den Seelen-
impulsen der Mensdien gewichen. Aus der mathematischen
Vorstellungsart sich die Kraft zu holen, den Gedanken zu
einem Weltenbilde auszubauen, das bis zum Weltengrunde
weisen sollte, vermochte nur die seelenkiihne Natur Spi-
nozas. - Den Lebenstrieb des Gedankens im Selbstbewufit-
sein zu erfuhlen, und ihn so zu erleben, dafi sidi durch ihn
der Mensdi in eine geistig-reale Welt sicher hineingestellt
fiihlt, vermochten die Denker des aditzehnten Jahrhun-
derts nodi nicht. Lessing stent unter ihnen wie ein Pro-
phet, indem er die Kraft des selbstbewufken Ich so emp-
findet, dafi er der Seele den Durchgang durch wiederholte
Erdenleben zuschreibt. - Was man, unbewuSt, wie einen
Alpdruck in "Weltanschauungsfragen fiihlte, war, dafi der
Gedanke fur den Menschen nicht mehr so auftrat wie fur
Plato, fur den er sich selbst in seiner stiitzenden Kraft und
mit seinem gesattigten Inhalte als wirksame Weltwesen-
heit offenbarte. Man fiihlte jetzt den Gedanken aus den
Untergriinden des Selbstbewufitseins heraufziehen; man
fiihlte die Notwendigkeit, ihm aus irgendwelchen Mach-
ten heraus eine Tragkraft zu geben. Man suchte diese
Tragkraft immer wieder bei den Glaubenswahrheiten
oder in den Tief en des Gemiites, welche man starker glaub-
te als den abgeblafiten, abstrakt empfundenen Gedanken.
Das i st fur viele Seelen immer wieder ihr Erlebnis mit dem
Gedanken, da$ sie diesen nur als blofien Seeleninhalt emp-
finden und aus ihm nicht die Kraft zu saugen vermogen,
die ihnen Gewahr leistet dafiir, dafi der Mensch mit sei-
nem Wesen sich im geistigen Weltengrunde eingewurzelt
wissen diirfe. Solchen Seelen imponiert die logische Natur
des Gedankens; sie erkennen ihn deshalb an als Kraft,
welche eine wissenschaftliche Weltansicht erbauen musse;
aber sie wollen eine fiir sie starker wirkende Kraft fiir
den Ausblick auf eine die hochsten Erkenntnisse umschlie-
fiende Weltanschauung. Es fehlt solchen Seelen die spino-
zistische Seelenkiihnheit, den Gedanken im Quell des
Weltschaffens zu empfinden und so sich mit dem Gedan-
ken im Weltengrunde zu wissen. Es riihrt von soldier See-
lenverfassung her, wenn oft der Mensch den Gedanken
beim Aufbau einer Weltanschauung gering achtet und
sein Selbstbewufitsein sicherer gestiitzt fiihlt im Dunkel
der Gemiitskrafte. Es gibt Personlicheiten, fiir welche eine
Anschauung um so weniger Wert fiir ihr Verhaltnis zu
den Weltenratseln hat, je mehr diese Anschauung aus dem
Dunkel des Gemtits in das Licht des Gedankens treten
will. Eine solche Seelenstimmung trifft man bei /. G. Ha-
mann (gest. 1788). Er war, wie manche Personlichkeiten
dieser Art, ein grower Anreger. 1st namlich ein soldier
Geist genial wie er, so wirken die aus den dunkeln Ge-
miitstiefen geholten Ideen energischer auf andere als die
in Verstandesform gebrachten Gedanken. Wie in Orakel-
spriichen driickte sich Hamann aus iiber die Fragen, wel-
che das Weltanschauungsleben seiner Zeit erfullten. Wie
auf andere wirkte er audi auf Herder anregend. - Ein my-
stisches Empfinden, oft mit pietistischer Farbung, lebt in
seinen Orakelspriichen. Chaotisch kommt in ihnen zum
Vorschein das Drangen der Zeit nach dem Erleben einer
Kraft der selbstbewu£ten Seele, welche Stiitzpunkt all dem
sein kann, was der Mensch sich iiber Welt und Leben zur
Vorstellung bringen will.
Es liegt in diesem Zeitalter, dafi die Geister fiihlen: Man
muft hinunter in die Seelentiefen, um den Punkt zu fin-
den, in dem die Seele mit dem ewigen Weltengrunde zu-
sammenhangt, und man mull aus der Erkenntnis dieses
Zusammenhangs heraus - aus dem Quell des Selbstbewufk-
seins - ein Weltbild gewinnen. Doch ist ein weiter Ab-
stand von dem, was der Mensch vermodite mit seinen
Geisteskraften zu umfassen, und dieser inneren Wurzel
des Selbstbewufltseins. Die Geister dringen mit ihrer Gei-
stesarbeit nicht zu dem vor, was ihnen in dunkler Ahnung
ihre Aufgabe stellt. Sie gehen gleichsam urn das herum,
was als Weltenratsel wirkt, und nahern sidi ihm nicht. So
empfindet mancher, der den Weitanschauungsfragen ge-
geniibersteht, als gegen Ende des achtzehnten Jahrhun-
derts Spinoza zu wirken beginnt. Lockesche, Leibnizsche
Ideen, diese auch in Wolflfscher Abschwachung, durchdrin-
gen die Kopfe; daneben wirkt neben dem Drange nach
Gedankenklarheit die Scheu vor dieser, so daft in das Welt-
bild immer wieder die aus den Tief en des Gemiites herauf-
geholten Anschauungen zur Ganzheit dieses Bildes zu Hilfe
gerufen werden. Ein solches spiegelt sich in Mendelssohn,
dem Freunde Lessings, der durch die Veroffentlichung des
Jacobischen Gespraches mit Lessing bitter beriihrt wor-
den ist. Er wollte nicht zugeben, daft dieses Gesprach von
seiten Lessings wirklich den von Jacobi mitgeteilten In-
halt gehabt habe. Es hatte sidi dann - so meinte er - sein
Freund wirklich zu einer Weltanschauung bekannt, wel-
che mit dem bloften Gedanken zur Wurzel der geistigen
Welt reichen will. Auf diese Art komme man aber nicht
zu einer Anschauung von dem Leben dieser Wurzel. Man
miisse sich dem Weltgeiste anders nahen, wenn man ihn in
der Seele als lebensvolle Wesenheit erfiihlen wolle. Und
das miisse doch Lessing getan haben. Dieser konne sich also
nur zu einem «gelauterten Spinozismus» bekannt haben,
zu einem solchen, der iiber das blofte Denken hinausgeht,
wenn er zu dem gottlichen Urgrund des Daseins kommen
will. In der Art, den Zusammenhang mit diesem Ur-
grunde zu empfinden, wie das der Spinozismus ermoglicht,
davor scheute Mendelssohn zuriick.
Herder brauchte nicht davor zuriickzuscheuen, weil er die
Gedankenlinien im Weltenbild des Spinoza ubermalte mit
den gehaltvollen Vorstellungen, weiche ihm die Betrach-
tung des Natur- und Geistesbildes ergab. Er hatte bei Spi-
nozas Gedanken nicht stehenbleiben konnen. So wie sie
von ihrem Urheber gegeben waren, waren sie ihm zu grau
in grau gemalt erschienen. Er betrachtete, was in der Na-
tur und Geschichte sich abspielt und stellte das Menschen-
wesen in diese Betrachtung hinein. Und was sich ihm so
offenbarte, das ergab ihm einen Zusammenhang des Men-
schenwesens mit dem gottlichen Urgrund der Welt und
mit der Welt selber, durch den er sich in der Gesinnung
mit Spinoza einig fiihlte. Herder war unmittelbar davon
uberzeugt, dafi die Beobachtung der Natur und der ge-
schichtlichen Entwickelung ein Weltbild ergeben mufi,
durch das der Mensch seine Stellung im Weltganzen be-
friedigend empfindet. Spinoza meinte zu einem solchen
Weltbild nur in der lichten Sphare der Gedankenarbeit zu
kommen, die nach dem Muster der Mathematik verrichtet
wird. Vergleicht man Herder mit Spinoza und bedenkt
man dabei die Zustimmung des ersteren zu der Gesin-
nung des lezteren, so mufi man anerkennen, dafi in der
neueren Weltanschauungsentwickelung ein Impuls wirkt,
der sich hinter dem verbirgt, was als "Weltanschauungsbil-
der zum Vorschein kommt. Es ist das Streben nach einem
Erleben dessen in der Seele, was das Selbstbewufitsein an
die Gesamtheit der Weltvorgange bindet. Man will ein
"Weltbild gewinnen, in dem die Welt so erscheint, dafi der
Mensch sich in ihr erkennen kann, wie er sich erkennen
mufi, wenn er die innere Stimme seiner selbstbewufiten
Seele zu sich sprechen lafit. - Spinoza will den Drang eines
solchen Erlebens dadurch befriedigen, dafi er die Gedan-
kenkraft ihre eigene Gewifiheit entfalten lafit; Leibniz
betrachtet die Seele und will die Welt so vorstellen, wie
sie vorgestellt werden mufi, wenn die richtig vorgestellte
Seele in das Weltbild richtig hineingestellt sich zeigen soil. -
Herder beobachtet die Weltvorgange und ist von vorn-
herein Uberzeugt, dafi im menschlichen Gemiite das rechte
Weltbild auftaucht, wenn dieses Gemiit sich mit aller sei-
ner Kraft gesund diesen Vorgangen gegeniiberstellt. Was
Goethe spater sagte, dafi alles Faktische schon Theorie sei,
das stent fiir Herder unbedingt fest. Er ist audi von Leib-
nizschen Gedankenkreisen angeregt; doch hatte er es nim-
mermehr vermocht, erst nach einer Idee des Selbstbewuftt-
seins in der Monade theoretisch zu sudien und dann mit
dieser Idee ein Weltbild zu erbauen. - Die Seelenentwicke-
lung der Menschheit stellt sich in Herder so dar, dafi durch
ihn besonders deutlich auf den ihr zugrunde liegenden Im-
puls in der neueren Zeit hingewiesen wird. Was in Grie-
chenland als Gedanke (Idee) gleich einer Wahrnehmung
behandelt worden ist, wird als Selbsterlebnis der Seele
gefiihlt. Und der Denker steht der Frage gegeniiber: Wie
mufi ich in die Tiefen der Seele dringen so, dafi ich er-
reiche den Zusammenhang der Seele mit dem Weltgrunde
und mein Gedanke zugleich der Ausdruck der weltschop-
ferischen Krafte ist? - Das Aufklarungszeitalter, das man
im achtzehnten Jahrhundert sieht, glaubte noch in dem
Gedanken selbst seine Rechtfertigung zu finden. Herder
wachst iiber diesen Gesichtspunkt hinaus. Er sucht nicht
den Punkt in der Seele, wo diese denkt, sondern den leben-
digen Quell, wo der Gedanke aus dem der Seele einwoh-
nenden Schopferprinzipe hervorquillt. Damit steht Her-
der dem nahe, was man das geheimnisvolle Erlebnis der
Seele mit dem Gedanken nennen kann. Eine Weltanschau-
ung mufi sich in Gedanken aussprechen. Doch gibt der Ge-
danke der Seele die Kraft, welche sie durch eine Welt-
anschauung im neueren Zeitalter sucht, nur dann, wenn
sie den Gedanken in seiner seelischen Entstehung erlebt.
1st der Gedanke geboren, ist er zum philosophischen Sy-
stem geworden, dann hat er bereits seine Zauberkraf t iiber
die Seele verloren. Damit hangt zusammen, warum der
Gedanke, warum das philosophische Weltbild so oft un-
terschatzt wird. Das geschieht durch alle diejenigen, wel-
che nur den Gedanken kennen, der ihnen von au£en zu-
gemutet wird, an den sie glauben, zu dem sie sich bekennen
sollen. Die wirkliche Kraft des Gedankens kennt nur der-
jenige, der ihn bei seiner Entstehung erlebt.
Wie in der neueren Zeit dieser Impuls in den Seelen
lebt, das tritt hervor an einer bedeutungsvollen Gestalt
der Weltanschauungsgeschichte, an Shaftesbury (1671 bis
171 3). Fur ihn lebt ein «innerer Sinn» in der Seele; durch
diesen dringen die Ideen, welche der Inhalt der Welt-
anschauung werden, in den Menschen, wie durch die aufte-
ren Sinne die au^eren Wahrnehlmmgen dringen. Nicht im
Gedanken selbst also sucht Shaftesbury dessen Rechtferti-
gung, sondern durch den Hinweis auf eine Seelentatsache,
welche dem Gedanken aus dem Weltengrunde heraus den
Eintritt in die Seele ermoglicht. So steht fur ihn eine zwei-
fache Aufienwelt dem Menschen gegeniiber: die «au£ere»
materielle AuEenwelt, die durch die «au£eren» Sinne in
die Seele eintritt, und die geistige Au&enwelt, welche durch
den «inneren Sinn» dem Menschen sich offenbart.
Es lebt in diesem Zeitalter der Drang, die Seele kennen-
zulernen. Denn man will wissen, wie in ihrer Natur das
Wesen emer Weltansicht verankert ist. Man sieht ein sol-
dies Streben in Nikolaus Tetens (gest. 1807). Er kam bei
seinen Forschungen iiber die Seele zu einer Unterscheidung
der Seelenfahigkeiten, welche gegenwartig in das allge-
meine Bewufitsein iibergegangen ist: Denken, Fuhlen und
Wollen. Vorher unterschied man nur das Denk- und das
Begehrungsvermogen.
Wie die Geister des achtzehnten Jahrhunderts die Seele
zu belauschen suchten da, wo sie an ihrem Weltenbilde
schafFend wirkt, das zeigt sich zum Beispiel an Hemster-
huis (172 1 -—1790). An ihm, den Herder fiir einen der
grolken Denker nacli Plato angesehen hat, zeigt sich an-
schaulich das Ringen des achtzehnten Jahrhunderts mit
dem Seelenimpuls der neueren Zeit. Man wird etwa Hem-
sterhuis* Gedanken treflfen, wenn man folgendes aus-
spricht: Konnte die Menschenseele durch ihre eigene Kraft,
ohne aufiere Sinne, die Welt betrachten, so lage vor ihr
ausgebreitet das Bild der Welt in einem einzigen Augen-
blicke. Die Seele ware also dann unendlich im Unend-
lichen. Hatte die Seele keine Moglichkeit, in sich zu leben,
sondern sie ware nur auf die aufieren Sinne angewiesen,
so ware vor ihr in endloser zeitlicher Ausbreitung die
Welt. Die Seele lebte dann, ihrer selbst nicht bewufk, im
Meer der sinnlichen Grenzenlosigkeit. Zwischen diesen bei-
den Polen, die nirgends wirklich sind, sondern wie zwei
Moglichkeiten das Seelenleben begrenzen, lebt die Seele
wirklich: sie durchdringt ihre Unendlichkeit mit der Gren-
zenlosigkeit.
An einigen Denkerpersonlichkeiten wurde hier versucht,
darzustellen, wie der Seelenimpuls der neueren Zeit im
aditzehnten Jahrhundert durdi die Weltanschauungsent-
wickelung stromt. In dieser Stromung leben die Keime,
aus denen fiir diese Entwickelung das «Zeitalter Kants
und Goethes» hervorgegangen ist.
DAS ZEITALTER KANTS UND GOETHES
Zu zwei geistigen Instanzen blickt am Ende des achtzehn-
ten Jahrhunderts derjenige auf, der nach Klarheit uber die
grofien Fragen der Welt- und Lebensanschauung rang, zu
Kant, und Goethe. Einer, der am gewaltigsten nach soldier
Klarheit rang, ist Johann Gottlieb Fichte. Als er Kants
«Kritik der praktischen Vernunft» kennengelernt hatte,
schrieb er: «Ich lebe in einer neuen Welt . . . Dinge, von
denen ich glaubte, sie konnten mir nie bewiesen werden,
zum Beispiel der Begrif f einer absoluten Freiheit, der Pf licht
usw., sind mir bewiesen, und ich fiihle mich darviber nur
um so froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung fiir die
Menschheit, welche Kraft uns dieses System gibt! . . . Welch
ein Segen fiir ein Zeitalter, in welchem die Moral von ihren
Grundfesten aus zerstort und der BegrifF Pflicht in alien
Worterbiichern durchstrichen war.» Und als er auf Grund-
lage der Kantschen die eigene Anschauung in seiner «Grund-
lage der gesamten Wissensdiaf tslehre» aufgebaut hatte, da
sandte er das Buch an Goethe mit den Worten: «Ich be-
trachte Sie, und habe Sie immer betrachtet, als den Repra-
sentanten der reinsten Geistigkeit des Gefuhls auf der ge-
genwartig errungenen Stufe der Humanitat. An Sie wen-
det mit Recht sich die Philosophic Ihr Gefiihl ist dersel-
ben Probierstein.» In einem ahnlichen Verhaltnis zu bei-
den Geistern stand Schiller. Uber Kant schreibt er am
28. Oktober 1794: «Es erschreckt mich gar nicht, zu den-
ken, dafi das Gesetz der Veranderung, vor welchem kein
menschliches und kein gottliches Werk Gnade findet, auch
die Form dieser (der Kantschen) Philosophic so wie jede
andere zerstoren wird; aber die Fundamente derselben
werden dies Schicksal nicht zu fiirchten haben, denn so alt
das Menschengeschlecht ist, und so lange es eine Vernunft
gibt, hat man sie stillschweigend anerkannt, und im gan-
zen danach gehandelt.» Goethes Anschauung schildert
Sdiiller am 23. August 1794 in einem Brief e an diesen:
«Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Feme, dem
Gang Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie sich
vorgezeichnet haben, mit immer erneuter Bewunderung
bemerkt. Sie suchen das Notwendige in der Natur, aber
Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede
schwachere Kraft sich wohl hiiten wird. Sie nehmen die
ganze Natur zusammen, urn iiber das Einzelne Licht zu
bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen
Sie den Erklarungsgrund fiir das Individuum auf . . .
Waren Sie als ein Grieche, ja nur als ein Italiener geboren
worden, und hatte schon von der Wiege an eine auserlesene
Natur und eine idealisierende Kunst Sie umgeben, so
ware Ihr Weg unendlich verkiirzt, vielleicht ganz iiber-
fliissig gemacht worden. Schon in die erste Anschauung der
Dinge hatten Sie dann die Form des Notwendigen auf-
genommen, und mit Ihren ersten Erfahrungen hatte sich
der groEe Stil in Ihnen entwickelt. Nun, da Sie als ein
Deutscher geboren sind, da Ihr griechischer Geist in diese
nordische Schopfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine
andere Wahl, als entweder selbst zum nordischen Kiinst-
ler zu werden, oder Ihrer Imagination das, was ihr die
Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhilfe der Denkkraft
zu ersetzen, und so gleichsam von innen heraus und auf
einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebaren.»
Kant und Goethe konnen, von der Gegenwart aus ge-
sehen, als Geister betrachtet werden, in denen die Welt-
anschauungsentwickelung der neueren Zeit sich wie in
einem wichtigen Momente ihres Werdeprozesses dadurch
n8
enthullt, daft von diesen Geistern die Ratselfragen des
Daseins intensiv empfunden werden, die sich vorher mehr
in den Untergriinden des Seelenlebens vorbereiten.
Um die Wirkung des ersteren auf sein Zeitalter zu ver-
anschaulichen, seien nodi die Ausspriiche zweier Manner
iiber ihn angefiihrt, die auf der vollen Bildungshohe ihrer
Zeit standen. Jean Paul schrieb im Jahre 1788 an einen
Freund: «Kaufen Sie sich um Himmels willen zwei Bii-
cher, Kants Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten
und Kants Kritik der praktischen Vernunft. Kant 1st kein
Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnen-
system auf einmal.» Und Wilhelm von Humboldt sagt:
«Kant unternahm und vollbrachte das grofite Werk, das
vielieicht je die philosophierende Vernunft einem einzelnen
Manne zu danken gehabt hat . . . Dreierlei bleibt, wenn man
den Ruhm, den Kant seiner Nation, den Nutzen, den er
dem spekulativen Denken verliehen hat, bestimmen will,
unverkennbar gewift: Einiges, was er zertrummert hat,
wird sich nie wieder erheben, einiges, was er begriindet
hat, wird nie wieder untergehen, und was das Wichtigste
ist, so hat er eine Reform gestiftet, wie die gesamte Ge-
schichte des menschlichen Denkens keine ahnliche auf-
weist.»
Man sieht, in Kants Tat sahen seine Zeitgenossen eine
erschutternde Wirkung innerhalb der Weltanschauungs-
entwickelung. Er selbst aber hielt sie fur diese Entwicke-
lung so wichtig, dafi er ihre Bedeutung derjenigen gleich-
setzte, die Kopernikus' Entdeckung der Planetenbewegung
fiir die Naturerkenntnis hatte.
Manche Erscheinungen der Weltanschauungsentwicke-
lung in den vorangegangenen Zeiten wirken in Kants
Denken weiter und bilden sich in diesem zu Ratselfragen
urn, welche den Charakter seiner Weltanschauung bestim-
men. Wer in den fur diese Anschauung bedeutsamsten
Schriften Kants die charakteristischen Eigentiimlichkeiten
empfindet, dem zeigt sich als eine derselben sogleich eine
besondere Schatzung, welche Kant der mathematischen
Denkungsart angedeihen lafit. Was so erkannt wird wie
das mathematische Denken erkennt, das tragt in sich die
Gewifiheit seiner Wahrheit, das empfindet Kant. Daft der
Mensch Mathematik haben kann, beweist, daft er Wahr-
heit haben kann. Was man auch alles bezweifeln mag: die
Wahrheit der Mathematik kann man nicht bezweifeln.
Mit dieser Schatzung der Mathematik tritt in Kants
Seele diejenige Gesinnung der neueren Weltanschauungs-
entwickelung auf, die den Vorstellungskreisen Spinozas
die Pragung gegeben hat. Spinoza will seine Gedanken-
reihen so aufbauen, daft sie sich wie die Glieder der mathe-
matischen Wissenschaft streng auseinander entwickeln.
Nichts anderes als das nach mathematischer Art Gedachte
gibt die feste Grundlage, auf der sich im Sinne Spinozas
das im Geiste der neueren Zeit sich fuhlende Menschen-
Ich sicher weift. So dachte auch schon Descartes, von dem
Spinoza viele Anregungen empfangen hat. Er muftte sich
aus dem Zweifel heraus eine Weltanschauungsstiitze ho-
len. In dem blofien Empfangen eines Gedankens in der.
Seele konnte Descartes eine solche Stiitze nicht sehen*
Diese griechische Art, sich zu der Gedankenwelt zu stellen,
ist dem Menschen der neueren Zeit nicht mehr moglich.
Es mufi sich in der selbstbewuftten Seele etwas finden, das
den Gedanken stiitzt. Fiir Descartes und wieder fiir Spi-
noza ist es die Erfiillung der Forderung, dafi sich die Seele
zum Gedanken verhalten musse, wie sie sich in der mathe-
matischen Vorstellungsart verhalt. Indem sich Descartes
aus dem Zweifel heraus sein «Ich denke, also bin idi» und
was damit zusammenhangt, ergab, fuhlte er sich in alle-
dem sicher, weii es ihm dieselbe Klarheit zu haben schien,
welche der Mathematik innewohnt. Dieselbe Gesinnung
hat Spinoza dazu gefiihrt, ein Weltbild sich auszugestal-
ten, in dem alles, wie die mathematischen Gesetze, mit
strenger Notwendigkeit wirkt. Die eine gottliche Sub-
stanz, welche sich mit mathematischer Gesetzmafiigkeit
in alle Weltenwesen ausgiefk, lafk das menschliche Ich nur
gelten, wenn dieses sich in ihr vollig verliert, wenn es sein
Selbstbewufitsein in ihrem Weltbewufitsein aufgehen lalk.
Diese mathematische Gesinnung, die aus der Sehnsucht
des «Ich» entspringt nach einer Sicherheit, die es fiir sich
braucht, fiihrt dieses «Ich» zu einem Weltbild, in dem es
durch das Streben nach seiner Sicherheit sich selbst, sein
selbstandiges Bestehen in einem geistigen Weltengrunde,
seine Freiheit und seine Hoffnung auf ein selbstandiges
ewiges Dasein verloren hat.
In der entgegengesetzten Richtung bewegte sich das
Denken Leibniz'. Fiir ihn ist die Menschenseele die selb-
standige, streng in sich abgeschlossene Monade. Aber diese
Monade erlebt nur, was in ihr ist; die Weltenordnung, die
sich «wie von aufien» darbietet, ist nur ein Scheinbild.
Hinter demselben liegt die wahre Welt, die nur aus Mo-
naden besteht, und deren Ordnung die nicht in der Be-
obachtung sich darbietende vorherbestimmte (prastabi-
lierte) Harmonie ist. Diese Weltanschauung lafit dermensch-
lichen Seele die Selbstandigkeit, das selbstandige Bestehen
im Weltall, die Freiheit und die Hoffnung auf eine ewige
Bedeutung in der Weltentwickelung; aber sie kann, wenn
sie sich selbst treu bleibt, im Grunde nicht anders, als be-
haupten, daft alles von ihr Erkannte nur sie selbst ist,
daft sie aus dem selbstbewufiten Ich nicht herauskommen
kann, und daft ihr das Weltall in seiner Wahrheit von
auften nicht offenbar werden kann.
Fiir Descartes und fur Leibniz waren die auf religiosem
Wege erlangten "Dberzeugungen noch so stark wirksam,
daft beide sie aus anderen Motiven in ihr Weltbild her-
ubernahmen, als ihnen die Stiitzen dieses Weltbildes selbst
gaben. Bei Descartes schlich sich in das Weltbild die An-
schauung von der geistigen Welt ein, die er auf religiosem
Wege erlangt hatte, sie durchdrang fiir inn unbewuftt die
starre mathematische Notwendigkeit seiner Weltordnung,
und so empfand er nicht, daft ihm sein Weltbild im Grunde
das «Ich» ausloschte. Ebenso wirkten bei Leibniz die reli-
giosen Impulse, und deshalb entging ihm, daft er in seinem
Weltbilde keine Moglichkeit hatte, etwas anderes als allein
den eigenen Seeleninhalt zu finden. Er glaubte doch, die
aufter dem «Ich» befmdliche geistige Welt annehmen zu
konnen. Spinoza zog durch einen groften Zug in seiner
Personlichkeit die Konsequenz aus seinem Weltbilde. Urn
die Sicherheit fiir dieses Weltbild zu haben, welche das
Selbstbewufttsein verlangte, resignierte er auf die Selb-
standigkeit dieses Selbstbewufttseins und fand die Selig-
keit darin, sich als Glied der einen gottlichen Substanz zu
fiihlen. - Auf Kant blickend, mufi man die Frage aufwer-
fen: Wie muftte er empfinden gegeniiber den Weltanschau-
ungsrichtungen, die sich in Descartes, Spinoza und Leib-
niz ihre hervorragenden Vertreter geschaffen hatten? Denn
alle die Seelenimpulse, welche in diesen dreien gewirkt
hatten, wirkten in ihm. Und sie wirkten in seiner Seele
aufeinander und bewirkten die ihm sich aufdrangenden
Welten- und Menschheitsratsel, Ein Blick auf das Geistes-
leben des Kantschen Zeitalters gibt die Richtung nach der
Art, wie Kant iiber diese Ratsel empfunden hat. In einem
bedeutsamen Symptom erscheint dieses Geistesleben in
Lessings (1729 — 1781) Stellung zu den Weltanschauungs-
f ragen. Lessing f afit sein Glaubensbekenntnis in die Worte
zusammen: «Die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in
Vernunftwahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn
dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll.»
Man hat das achtzehnte Jahrhundert das der Aufklarung
genannt. Die Geister Deutschlands verstanden die Auf-
klarung im Sinne des Lessingschen Ausspruches. Kant hat
die Aufklarung erklart als den «Ausgang des Menschen
aus seiner selbstversdiuldeten Unmundigkeit» und als
ihren Wahlspruch bezeichnet: «Habe Mut, dich deines
eigenen Verstandes zu bedienen.» Nun waren selbst so
hervorragende Denker wie Lessing zunachst durch die
Aufklarung nicht weiter gekommen als bis zu einer ver-
standesmafiigen Umf ormung der aus demZustande «selbst-
verschuldeter Unmiindigkeit» uberlief erten Glaubensleh-
ren. Sie sind nidit zu einer reinen Vernunftansicht vorge-
drungen wie Spinoza. Auf soldie Geister mufite die Lehre
des Spinoza, als sie in Deutschland bekannt wurde, einen
tiefen Eindruck machen. Spinoza hatte es wirklich unter-
nommen, sidi seines eigenen Verstandes zu bedienen, war
aber dabei zu ganz anderen Erkenntnissen gekommen als
die deutschen Aufklarer. Sein Einflufl mufite um so bedeut-
samer sein, als seine nach mathematischer Art festgebauten
Schlufifolgerungen eine viel grofiere iiberzeugende Kraft
hatten als die Weltanschauungsrichtung Leibniz*, welche
auf die Geister jenes Zeitalters in der Art wirkte, wie sie
durch Wolff «fortgebildet» worden war. Wie diese durch
"Wolffs Vorstellungen hindurch wirkende Gedankenrich-
tung auf tiefere Gemuter wirkte, davon erhalten wir eine
Vorstellung aus Goethes «Dichtung und Wahrheit». Er er-
zahlt von dem Eindruck, den Professor Winklers im Geiste
Wolffs gehaltene Vorlesungen in Leipzig auf ihn gemacht
haben: «Meine Kollegia besuchte idi anfangs emsig und
treulicli; die Philosophic wollte mich jedoch keineswegs
aufklaren. In der Logik kam es mir wunderlich vor, dafi
ich diejenigen Geistesoperationen, die ich von Jugend auf
mit der grofiten Bequemlichkeit verrichtete, so auseinander-
zerren, vereinzeln und gleichsam zerstoren sollte, um den
rechten Gebrauch derselben einzusehen. Von dem Dinge,
von der Welt, von Gott glaubte ich ungefahr so viel zu
wissen als der Lehrer selbst, und es schien mir an mehr als
einer Stelle gewaltig zu hapern.» Von seiner Beschafti-
gung mit Spinozas Schriften erzahlt uns dagegen der Dich-
ter: «Ich ergab mich dieser Lekture und glaubte, indem ich
mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt
zu haben. » Aber nur wenige vermochten sich der Den-
kungsart Spinozas so unbefangen hinzugeben wie Goethe.
Bei den meisten mufite sie einen tiefen Zwiespalt in die
Weltauffassung bringen. Fiir sie ist Goethes Freund Fr. H.
Jacobi ein Reprasentant. Er glaubte, zugeben zu mussen,
dafi die sich selbst uberlassene Vernunft nicht zu den Glau-
benslehren, sondern zu der Ansicht fiihre, zu der Spinoza
gekommen ist, dafi die Welt von ewigen, notwendigen
Gesetzen beherrscht wird. So stand Jacobi vor einer be-
deutsamen Entscheidung: entweder mufite er seiner Ver-
nunft vertrauen und die Glaubenslehren fallen lassen, oder
er mufke, um die letzteren zu behalten, der Vernunft
selbst die Moglichkeit absprechen, zu den hochsten Ein-
sichten zu kommen. Er wahlte das letztere. Er behauptete,
dafi der Mensch in seinem innersten Gemiite eine unmit-
telbare Gewifiheit habe, einen sicheren Glauben, vermoge
dessen er die Wahrheit der Vorstellung eines personlichen
Gottes, der Freiheit des Willens und der Unsterblichkeit
fiihle, so dafi diese Oberzeugung ganz unabhangig sei von
den auf logische Folgerungen gestiitzten Erkenntmssen der
Vernunft, die sich gar nicht auf diese Dinge beziehen,
sondern nur auf die aufteren Naturvorgange. Auf diese
Weise hat Jacobi das verniinftige Wissen abgesetzt, um
fur einen die Bediirfnisse des Herzens befriedigenden Glau-
ben Platz zu bekommen. Goethe, der von dieser Entthro-
nung desWissens wenig erbaut war,schreibt an denFreund:
«Gott hat Dich . . . mit der Metaphysik gestraft und Dir
einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich . . . mit der Physik ge-
segnet. Ich halte mich ... an die Gottesverehrung des Athe-
isten (Spinoza) und iiberlasse euch alles, was ihr Religion
heiftt und heiften muik. Du haltst aufs Glauben an Gott;
ich aufs Schauen.» Die Aufklarung hat zuletzt die Geister
vor die Wahl gestellt, entweder die geoffenbarten Wahr-
heiten durch die Vernunftwahrheiten im spinozistischen
Sinne zu ersetzen, oder dem vernunftgemafien Wissen
selbst den Krieg zu erklaren.
Und vor dieser Wahl stand auch Kant. Wie er sich zu
ihr stellte und uber sie entschied, das geht aus der klaren
Ausfiihrung im Vorworte zur zweiten Auflage seiner «Kri-
tik der reinen Vernunft» hervor: «Gesetzt nun, die Moral
setze notwendig Freiheit (im strengsten Sinne) als Eigen-
schaft unseres Willens voraus, indem sie praktische in un-
serer Vernunft liegende Grundsatze . . . anfiihrt, die ohne
Voraussetzung der Freiheit schlechterdings unmoglich wa-
ren, die spekulative Vernunft aber hatte bewiesen, da£
diese sich gar nicht denken lasse, so mufi notwendig jene
Voraussetzung, namlich die moralische, derjenigen wei-
chen, deren Gegenteil einen offenbaren Widerspruch ent-
halt, folglich Freiheit und mit ihr Sittlichkeit . . . dem
Naturmechanismus den Platz einraumen. So aber, da ich
zur Moral nichts weiter brauche, als daft Freiheit sich nur
nicht selbst widerspreche und sidi also doch wenigstens
denken lasse, ohne notig zu haben y sie weiter einzusehen,
dafi sie also dem Naturmechanismus ebenderselben Hand-
lung (in anderer Beziehung genommen) gar kein Hinder-
nis in den Weg lege; so behauptet die Lehre der Sitt-
lichkeit ihren Platz, . . . welches aber nicht stattgefunden
hatte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unver-
meidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich
selbst belebrt y und alles, was wir theoretisch erkennen kon-
nen, auf blofie Erscheinungen eingeschrankt hatte. Eben
diese Erorterung des positiven Nutzens kritischer Grund-
satze der reinen Vernunft lafk sich in Ansehung des Be-
grifTs von Gott und der einfachen Natur unserer Seele
zeigen, die ich aber der Kiirze halber vorbeigehe. Ich kann
also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des
notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht
einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Ver-
nunft zugleich ihre Anmafiung uberschwenglicher Einsich-
ten benehme. . . Ich mufite also das Wissen aufheben,
um zum Glauben Platz zu bekommen ...» Man sieht,
Kant steht gegeniiber Wissen und Glauben auf einem ahn-
lichen Boden wie Jacobi.
Der Weg, auf dem Kant zu seinen Ergebnissen gekom-
men ist, war durch die Gedankenwelt Humes gegangen.
Bei diesem fand er die Ansicht, dafi die Dinge und Vor-
gange der Welt der menschlichen Seele gar keine gedank-
Hchen Zusammenhange offenbaren, da£ der menschliche
Verstand sich nur gewohnheitsmafiig solche Zusammen-
hange vorstelle, wenn er die Weltdinge und Weltvor-
gange in Raum und Zeit nebeneinander und nacheinander
wahrnehme. Dafi der menschliche Verstand das, was ihm
Erkenntnis scheint, nicht aus der "Welt erhalte: diese Mei-
nung Humes machte auf Kant Eindruck. Es ergab sich fiir
ihn der Gedanke als eine Moglichkeit: die Erkenntnisse
des menschlichen Verstandes kommen nicbt aus der Welt-
wirklidieit.
Durch die Ausfiihrungen Humes ist Kant aus dem
Schlummer erweckt worden, in den ihn, nach seinem eige-
nen Bekenntnis, die Wolffsche Ideenricbtung versetzt hat-
te. Wie kann die Vernunf t Urteile iiber Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit fallen, wenn ihre Aussagen iiber die ein-
fachsten Begebenheiten auf soldi unsicheren Grundlagen
ruhen? Der Ansturm, den nun Kant gegen das vernunf tige
"Wissen unternehmen mufite, war ein viel weitergehender
als derjenige Jacobis. Dieser hatte dem Wissen wenigstens
die Moglichkeit lassen konnen, die Natur in ihrem not-
wendigen Zusammenhange zu begreifen. Nun hat Kant
auf dem Gebiete der Naturerkenntnis eine wichtige Tat
mit seiner 1755 erschienenen «Allgemeinen Naturgeschich-
te und Theorie des Himmels» vollbracht. Er glaubte ge-
zeigt zu haben, dafi man sich unser ganzes Planetensystem
aus einem Gasball entstanden denken konne, der sich um
seine Achse bewegt. Durch streng notwendige mathemati-
sche und physikalische Krafte haben sich innerhalb dieses
Balles Sonne und Planeten verdichtet und die Bewegun-
gen angenommen, die sie in GemaEheit der Lehren Koper-
nikus' und Keplers haben. Kant glaubte also die Frucht-
barkeit der spinozistischen Denkart, nach welcher alles mit
strenger mathematischer Notwendigkeit sich abspielt, durch
eine eigene grofie Entdeckung auf einem speziellen Gebie-
te erwiesen. Er war von dieser Fruchtbarkeit so uberzeugt,
dafi er in dem genannten Werke zu dem Ausrufe sich ver-
steigt: «Gebt mir Materie, und idi will euch eine Welt
daraus bauen.» Uncf die unbedingte Gewiftheit der mathe-
matischen Wahrheiten stand fiir ihn so fest, dafi er in sei-
nen « Anf angsgrunden der Naturwissenschaf t» die Behaup-
tung aufstellt, eine eigentliche Wissenschaft sei nur eine
solche, in welcher die Anwendung der Mathematik moglich
ist. Hatte Hume recht, so konnte von einer Gewifiheit der
mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse
nidit die Rede sein. Denn dann waren diese Erkenntnisse
nichts als Denkgewohnheiten, die sich der Mensch angeeig-
net hat, weil er den Weltenlauf in ihrem Sinne sich hat ab-
spielen sehen. Aber es bestiinde nicht die geringste Sicher-
heit dariiber, dafi diese Denkgewohnheiten mit dem ge-
setzma£igen Zusammenhang der Dinge etwas zu tun ha-
ben. Hume zieht aus seinen Voraussetzungen die Folge-
rung: «Die Erscheinungen wechseln fortwahrend in der
Welt, und eines folgt dem anderen in ununterbrochener
Folge; aber die Gesetze und die Krafte, welche das Welt-
all bewegen, sind uns vollig verborgen und zeigen sich in
keiner wahrnehmbaren Eigenschaft der Korper ...» Riickt
man also die Weltanschauung Spinozas in die Beleuchtung
der Humeschen Ansicht, so mufi man sagen: Nach dem
wahrgenommenen Verlauf der Weltvorgange hat sich der
Mensch gewohnt, sie in einem notwendigen, gesetzmafii-
gen Zusammenhange zu denken; er darf aber nicht be-
haupten, dafi dieser Zusammenhang mehr ist als eine blo£e
Denkgewohnheit. Trafe das zu, dann ware es nur eine
Tauschung der menschlichen Vernunft, dafi sie uber das
Wesen der Welt durch sich selbst irgendwelchen Aufschlufi
gewinnen konne. Und Hume konnte nicht widersprochen
werden, wenn er von jeder Weltanschauung, die aus der
reinen Vernunft gewonnen ist, sagt: «Werft sie ins Feuer,
denn sie ist nichts als Trug und Blendwerk.»
Diese Folgerung Humes konnte Kant unmoglich zu der
seinigen machen. Denn fiir ihn stand die Gewifiheit der
naturwissenschaftlidien und mathematischen Erkenntnisse,
wie wir gesehen haben, unbedingt fest. Er wollte sich diese
Gewiftheit nicht antasten lassen, konnte sidi aber dennoch
der Einsicht nicht entziehen, daft Hume recht hatte, wenn
er sagte: Alle Erkenntnisse iiber die wirklichen Dinge
gewinnen wir nur, indem wir diese beobachten und auf
Grund der Beobachtung uns Gedanken iiber ihren Zusam-
menhang bilden. Liegt in den Dingen ein gesetzmaftiger
Zusammenhang, dann miissen wir ihn auch aus den Din-
gen herausholen. Was wir aber aus den Dingen heraus-
holen, davon wissen wir nicht mehr, als daft es bis jetzt
so gewesen ist; wir wissen aber nicht, ob ein soldier Zu-
sammenhang wirklich so mit dem Wesen der Dinge ver-
wachsen ist, daft er sich nicht in jedem Zeitpunkt andern
kann. Wenn wir uns heute auf Grund unserer Beobachtun-
gen eine Weltanschauung bilden, so konnen morgen Er-
scheinungen eintreten, die uns zu einer ganz anderen zwin-
gen. Holten wir alle unsere Erkenntnisse aus den Dingen,
so gabe es keine Gewiftheit. Aber es gibt eine Gewifiheit,
sagt Kant. Die Mathematik und die Naturwissenschaft
beweisen es. Die Ansicht, dafi die Welt dem menschlichen
Verstande seine Erkenntnisse nicht gibt, wollte Kant von
Hume annehmen; die Folgerung, daft diese Erkenntnisse
nicht Gewifiheit und Wahrheit enthalten, wollte er nicht
Ziehen. So stand Kant vor der ihn erschiitternden Frage:
Wie ist es moglich, daft der Mensch wahre und gewisse
Erkenntnisse habe und trotzdem von der Wirklichkeit der
Welt an sich nichts wissen konne? Und Kant fand eine
Antwort, welche die Wahrheit und Gewifiheit mensch-
lidier Erkenntnisse dadurch rettete, daft sie die mensch-
liche Einsidit in die Weltengriinde opferte. Von einer Welt,
die aufier uns ausgebreitet liegt und die wir nur durch Be-
obaditung auf uns einwirken lassen, konnte unsere Ver-
nunft niemals behaupten, daft etwas in ihr gewifi sei. Folg-
lich kann unsere Welt nur eine solche sein, die wir selbst
aufbauen: eine Welt, die innerhalb unseres Geistes liegt.
Was aufter mir vorgeht, wahrend ein Stein fallt und die
Erde aushohlt, weifS ich nicht. Das Gesetz dieses ganzen
Vorganges spielt sich in mir ab. Und es kann sich in mir
nur so abspielen, wie es ihm die Gesetze meines eigenen
geistigen Organismus vorschreiben. Die Einrichtung mei-
nes Geistes fordert, dafi jede Wirkung eine Ursache habe,
und dafi zweimal zwei vier sei. Und gemafS dieser Ein-
richtung baut sich. der Geist eine Welt auf. Moge nun die
au£er uns liegende Welt wie immer gebaut sein, moge sie
sogar heute in keinem Zuge der gestrigen gleichen: uns
kann das nicht beriihren; denn unser Geist schafft sich eine
eigene Welt nach seinen Gesetzen. Solange der menschliche
Geist derselbe ist, wird er bei Erzeugung seiner Welt audi
in gleicher Weise verfahren. Mathematik und Naturwis-
senschaft enthalten nicht Gesetze der Aufienwelt, sondern
solche unseres geistigen Organismus. Deshalb brauchen wir
nur diesen zu erforschen, wenn wir das unbedingt Wahre
kennen lernen wollen. «Der Verstand schopft seine Ge-
setze... nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.»
In diesem Satze falk Kant seine "Uberzeugung zusammen.
Der Geist erzeugt aber seine Innenwelt nicht ohne Anstofi
oder Eindruck von aufien. Wenn ich eine rote Farbe emp-
finde, so ist das «Rot» allerdings ein Zustand, ein Vor-
gang in mir; aber ich mufi eine Veranlassung haben, dafi
ich «rot» empfinde. Es gibt also «Dinge an sich». Wir wis-
sen jedodi von ihnen nichts, als dafi es sie gibt. Alles, was
wir beobachten, sind Erscheinungen in uns. Kant hat also,
urn die Gewi£heit der mathematischen und naturwissen-
schaftlichen Wahrheiten zu retten, die ganze Beobachtungs-
welt in den menschlichen Geist hineingenommen. Damit
hat er aber audi allerdings dem Erkenntnisvermogen un-
ijbersteigliche Grenzen gesetzt. Denn alles, was wir erken-
nen konnen, bezieht sidi nidit auf Dinge au£er uns, son-
dern auf Vorgange in uns, auf Erscheinungen, wie er sich
ausdriickt. Nun konnen aber die Gegenstande der hochsten
Vernunftsfragen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, nie-
mals in die Erscheinung treten. Wir sehen Erscheinungen
in uns; ob diese auEer uns von einem gottlichen Wesen
herriihren, konnen wir nicht wissen. Wir konnen unsere
eigenen Seelenzustande wahrnehmen. Aber audi diese sind
nur Erscheinungen. Ob hinter ihnen eine freie unsterbliche
Seele waltet, bleibt unserer Erkenntnis verborgen. Ober
diese «Dinge an sich» sagt unsere Erkenntnis gar nichts
aus. Sie bestimmt nichts dariiber, ob die Ideen von ihnen
wahr oder falsch sind. Wenn wir nun von einer anderen
Seite her iiber diese Dinge etwas vernehmen, so liegt nichts
im Wege, ihre Existenz anzunehmen. Nur wissen konnen
wir nichts iiber sie. Es gibt nun einen Zugang zu diesen
hochsten Wahrheiten. Und das ist die Stimme der Pflicht,
die in uns laut und deutlich spricht: Du sollst dies und das
tun. Dieser «kategorische Imperativ» legt uns eine Ver-
bindlichkeit auf, der wir uns nicht entziehen konnen. Aber
wie waren wir imstande, einer solchen Verbindlichkeit
nachzukommen, wenn wir nicht einen freien Willen hat-
ten? Wir konnen die Beschaffenheit unserer Seele zwar
nicht erkennen, aber wir miissen glauben, da!5 sie frei sei,
damit sie ihrer inneren Stimme der Pflicht nachkommen
konne. Wir haben somit iiber die Freiheit keine Erkennt-
nisgewifiheit wie iiber die Gegenstande der Mathematik
und der Naturwissenschaft; aber wir haben dafiir eine
moraliscbe Gewifiheit. Die Befolgung des kategorischen
Imperativs fiihrt zur Tugend. Durch die Tugend allein
kann der Mensch seine Bestimmung erreichen. Er wird der
Gliickseligkeit wiirdig. Ermufi also die Gliickseligkeit auch
erreichen konnen. Denn sonst ware seine Tugend ohne
Sinn und Bedeutung. Damit aber sidi an die Tugend die
Gliickseligkeit kniipfe, mufi ein Wesen da sein, das diese
Gliickseligkeit zur Folge der Tugend macht. Das kann nur
ein intelligentes, den hochsten Wert der Dinge bestimmen-
des Wesen, Gott, sein. Durch das Vorhandensein der Tu-
gend wird uns deren Wirkung, die Gliickseligkeit, ver-
biirgt und durch diese wieder das Dasein Gottes. Und wevl
ein sinnliches Wesen, wie es der Mensch ist, die vollendete
Gliickseligkeit nicht in dieser unvollkommenen Welt er-
reichen kann, so mufi sein Dasein iiber dies Sinnendasein
hinausreichen, das heifk die Seele mufi unsterblich sein.
Woriiber wir also nichts wissen konnen: das zaubert Kant
aus dem moralischen Glauben an die Stimme der Pflicht
hervor. Die Hochachtung vor dem Pflichtgefiihl war das,
was ihm eine wirkliche Welt wieder aufrichtete, als unter
Humes' Einflufi die Beobachtungswelt zur blofien Innen-
welt herabsank. In schonen Worten kommt in seiner «Kri-
tik der praktischen Vernunft» diese Hochachtung zum
Ausdruck: « Pflicht! du erhabener, grower Name, der du
nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich fiihrt, in
dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst», der du «ein
Gesetz aufstellst . . . vor dem alle Neigungen verstum-
men, wenn sie gleich im Geheimen ihm entgegenwir-
ken ...» Daft die hochsten Wahrheiten keine Erkennt-
niswahrheiten, sondern moralische Wahrheiten seien, das
hielt Kant fur seine Entdeckung. Auf Einsichten in eine
iibersinnliche Welt muft der Mensch verzichten; aus seiner
moralischen Natur entspringt ihm Ersatz fiir die Erkennt-
nis. Kein Wunder, daft Kant in der unbedingten, ruckhalt-
losen Hingabe an die Pflicht die hochste Forderung an den
Menschen sieht. Eroffnete diesem die Pflicht nicht einen
Ausblick aus der Sinnenwelt hinaus: er ware sein ganzes
Leben hindurch in diese eingeschlossen. Was also audi die
Sinnenwelt verlangt: es muft zuriicktreten hinter den An-
forderungen der Pflicht. Und die Sinnenwelt kann aus
sich selbst heraus nicht mit der Pflicht ubereinstimmen. Sie
will das Angenehme, die Lust. Ihnen muft die Pflicht ent-
gegentreten, damit der Mensch seine Bestimmung erfiille.
Was der Mensch aus Lust vollbringt, ist nicht tugendhaft;
nur was er in der selbstlosen Hingabe an die Pflicht voll-
fiihrt. Unterwerfe deine Begierden der Pflicht: das ist die
strenge Aufgabe der Kantschen Sittenlehre. Wolle nichts,
was dich in deiner Selbstsucht befriedigt, sondern handle
so, daft die Grundsatze deines Handelns die aller Men-
schen werden konnen. In der Hingabe an das Sittengesetz
erreicht der Mensch seine Vollkommenheit. Der Glaube,
daft dieses Sittengesetz in erhabener Hohe iiber allem an-
deren Weltgeschehen schwebe und durch ein gottliches We-
sen in der Welt verwirklicht werde, das ist nach Kants
Meinung wahre Religion. Sie entspringt aus der Moral.
Der Mensch soli nicht gut sein, weil er an einen Gott glaubt,
der das Gute will; er soil gut einzig und allein aus Pflicht-
gefuhl sein; aber er soil an Gott glauben, weil Pflicht ohne
Gott sinnlos ist. Das ist «Religion innerhalb der Grenzen
der bloften Vernunft»; so nennt Kant sein Buch uber reli-
giose Weltanschauung.
Seit dem Aufbluhen der Naturwissenschaften hat der
Weg, den diese genommen haben, bei vielen Menschen das
Gefuhl hervorgerufen, aus dem Bilde, das sich das Denken
von der Natur gestaltet, miisse alles entfernt werden, was
nicht den Charakter strenger Notwendigkeit tragt. Auch
Kant hatte dieses Gefuhl. Er hatte in seiner «Natur-
geschichte des Hirnmels» sogar fur ein bestimmtes Natur-
gebiet ein solches Bild entworfen, das diesem Gefuhl ent-
spricht. - In einem solchem Bilde hat keinen Platz die Vor-
stellung des selbstbewulken Ich, welche sich der Mensch
des achtzehnten Jahrhunderts machen mufke. Der plato-
nische, auch der aristotelische Gedanke konnte als die Of-
fenbarung sowohl der Natur, wie diese im Zeitalter seiner
Wirksamkeit genommen werden mulke, wie auch der
menschlichen Seele angesehen werden. Im Gedankenleben
trafen sich da Natur und Seele. Von dem Bilde der Natur,
wie es die Forschung der neuen Zeit zu fordern scheint,
fiihrt nichts zu der Vorstellung der selbstbewufiten Seele. -
Kant hatte die Empfmdung: es biete sich ihm in dem
Naturbilde nichts dar, worauf er die Gewlfihek des Selbst-
bewufttseins begriinden konne. Diese Gewi£heit muSte ge-
schafFen werden. Denn die neuere Zeit hatte dem Men-
schen das selbstbewufke Ich als Tatsache hingestellt. Es
mu£te die Moglichkeit geschafFen werden, diese Tatsache
anzuerkennen. Aber alles, was der Verstand als Wissen
anerkennen kann, verschlingt das Naturbild. So fiihlt sich
Kant gedrangt, fiir das selbstbewufke Ich und auch fur die
damit zusammenhangende Geisteswelt etwas zu schaffen,
was kein Wissen ist und doch GewiEheit gibt.
Die selbstlose Hingabe an die Stknme des Geistes hat
Kant zur Grundlage der Moral gemacht. Auf dem Gebiete
des tugendhaften Handelns vertragt sich eine solche Hin-
gabe nidit mit derjenigen an die Sinnenwelt. Es gibt aber
ein Feld, auf dem das Sinnliche so erhoht ist, daft es wie
ein unmittelbarer Ausdruck des Geistigen erscheint. Dies
ist das Gebiet des Schonen und der Kunst. Im alltaglichen
Leben verlangen wir das Sinnliche, weil es unser Begeh-
ren, unser selbstsiichtiges Interesse erregt. Wir tragen Ver-
langen nadi dem, was uns Lust macht. Wir konnen aber
audi ein selbstloses Interesse an einem Gegenstande haben.
Wir konnen bewundernd vor ihm stehen, voll von seliger
Lust, und diese Lust kann ganz unabhangig von dem Be-
sitz der Sadie sein. Ob ich ein schones Haus, an dem ich
voriibergehe, audi besitzen mochte, das hat mit dem selbst-
losen Interesse an seiner Schonhek nichts zu tun. Wenn
ich alles Begehren aus meinem Gefuhle ausscheide, so bleibt
noch etwas zuriick, eine Lust, die sich rein an das schone
Kunstwerk kniipft. Eine solche Lust ist eine asthetische.
Das Schone unterscheidet sich von dem Angenehmen und
dem Guten. Das Angenehme erregt mein Interesse, weil es
meine Begierde erweckt; das Gute interessiert mich, weil
es durch mich verwirklicht werden soil. Dem Schonen stehe
ich ohne irgendein solches Interesse, das mit meiner Person
zusammenhangt, gegeniiber, Wodurch kann das Schone
mein selbstloses Wohlgef alien an sich ziehen? Mir kann
ein Ding nur gef alien, wenn es seine Bestimmung erfullt,
wenn es so beschafFen ist, dafi es einem Zwecke dient. Ich
mufi also an dem Schonen einen Zweck wahrnehmen. Die
Zweckmafiigkeit gefallt; die Zweckwidrigkeit mififallt.
Da ich aber an der Wirklichkeit des schonen Gegenstandes
kein Interesse habe, sondern die blofie Anschauung des-
selben mich befriedigt, so braucht das Schone auch nicht
wirklidi einem Zwecke zu dienen. Der Zweck ist mir gleich-
gUltig, nur die Zweckmafiigkeit verlange ich. Deshalb
nenntKant «schon» dasjenige, woran wir Zweckmafiigkeit
wahrnehmen, ohne daft wir dabei an einen bestimmten
Zweck denken.
Es ist nicht nur eine Erklarung, es ist audi eine Recht-
fertigung der Kunst, die Kant damit gegeben hat. Man
sieht das am besten, wenn man sich vergegenwartigt, wie
er sich mit seinem Gefuhle zu seiner Weltanschauung stell-
te. Er driickt das in tiefen, schonen Worten aus: «Zwei
Dinge erfullen das Gemiit mit immer neuer und zuneh-
mender Bewunderung und Ehrfurcht . . . : der bestirnte
Himmel iiber mir und das moralische Gesetz in mir. . . .
Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernich-
tet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Ge-
schopfes, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten,
(einem blo£en Punkt im Weltall), wieder zuriickgeben muE,
nachdem es eine kurze Zeit (man weifi nicht wie) mit Le-
benskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen
meinen Wert als einer Intelligenz unendlich durch meine
[selbstbewuEte und freie] Personlichkeit, in welcher das
moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von
der ganzen Sinnenwelt unabhangiges Leben ofTenbart, we-
nigstens so viel sich aus der zweckmdfiigen Bestimmung
meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf die
Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschrankt ist,
sondern ins Unendliche geht, abnehmen iaik.» Der Kiinst-
ler pflanzt nun diese zweckmaflige Bestimmung, die in
Wirklichkeit nur im moralischen Weltreiche waltet, der
Sinnenwelt ein. Dadurch steht das Kunstwerk zwischen
dem Gebiet der Beobachtungswelt, in der die ewigen eher-
nen Gesetze der Notwendigkeit herrschen, die der mensch-
liche Geist erst selbst in sie hineingelegt hat, und dem
Reiche der f reien Sittlidikeit, in der Pflichtgebote als Aus-
flufi emer weisen gottlichen Weltordnung Richtung und
Ziel angeben. Zwischen beide Reiche hinein tritt der Kiinst-
ler mit seinen Werken. Er entnimmt dem Reich des Wirk-
lichen seinen Stoff ; aber er pragt diesen Stoff zugleich so
um, dafi er der Trager einer zweckma£igen Harmonie ist,
wie sie im Reiche der Freiheit angetroffen wird. Der
menschliche Geist fiihlt sich also unbefriedigt an dem Rei-
che der aufieren Wirklichkeit, die Kant mk dem gestirn-
ten Himmel und den zahllosen Weltendingen meint, und
dem der moralischen Gesetzmafiigkeit. Er schafft sich des-
halb ein schones Reich des Schemes, das starre Naturnot-
wendigkeit mit freier Zweckmafiigkeit verbindet. Nun
findet man das Schone nicht nur in menschlichen Kunst-
werken, sondern auch in der Natur. Es gibt ein Natur-
schones neben dem Kunstschonen. Dieses Naturschone ist
ohne menschliches Zutun da. Es scheint also, als wenn in
der Wirklichkeit doch nicht blofi die starre gesetzmafiige
Notwendigkeit, sondern eine freie weise Tatigkeit zu be-
obachten ware. Das Schone zwingt aber zu einer solchen
Anschauung doch nicht. Denn es bietet ja die Zweckmafiig-
keit, ohne dafi man an einen wirklichen Zweck zu denken
hatte. Und es bietet nicht blofi Zwedkma&g- Schones, son-
dern auch Zweckmafiig-HafiHches. Man kann also anneh-
men, dafi unter der Fiille der Naturerscheinungen, die
nach notwendigen Gesetzen zusammenhangen, wie durch
Zufall auch solche sind, in denen der menschliche Geist
eine Analogie mit seinen eigenen Kunstwerken wahr-
nimmt. Da an einen wirklichen Zweck nicht gedacht zu
werden braucht, so geniigt eine solche gleichsam zufallig
vorhandene Zweckmafiigkeit fur die asthetische Natur-
betrachtung.
Anders wird die Sache, wenn wir Wesen in der Natur
antreff en, die den Zweck nicht blofi zuf allig, sondern wirk-
lich in sich tragen. Und audi solche gibt es nach Kants
Meinung. Es sind die organischen Wesen. Zu ihrer Erkla-
rung reichen die notwendigen, gesetzmafiigen Zusammen-
hange, in denen sich Spinozas Weltanschauung erschopft
und die Kant als diejenigen des menschlichen Geistes an-
sieht, nicht aus. Denn ein «Organismus ist ein Naturpro-
dukt, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mit-
tel», Ursache und wechselseitig auch Wirkung ist. Der Or-
ganismus kann also nicht so wie die unorganische Natur
durch blofi notwendig wirkende eherne Gesetze erklart
werden. Deshalb meint Kant, der in seiner «Allgemeinen
Naturgeschichte undTheorie des Himmels» selbst den Ver-
such unternommen hat, die «Verfassung und den mecha-
nischen Ursprung des ganzen Weltgebaudes nach New-
tonschen Grundsatzen abzuhandeln», dafi ein gleicher Ver-
such fiir die organischen Wesen mifilingen miisse. In sei-
ner «Kritik der Urteilskraft» behauptet er: «Es ist nam-
lich ganz gewifi, dafi wir die organisierten Wesen und
deren innere Moglichkeit nach blofi mechanischen Prinzi-
pien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel
weniger tins erklaren konnen; und zwar so gewifi, dafi
man dreist sagen kann, es ist fiir den Menschen ungereimt,
auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen,
dafi noch etwa dereinst ein Newton aufstehen konne, der
auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgeset-
zen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen
werde; sondern man mufi diese Einsicht dem Menschen
schlechthin absprechen.» Mit der Kantschen Ansicht, dafi
der menschliche Geist die Gesetze, die er In der Natur vor-
findet, selbst erst in sie hineinlege, lafit sich audi eine an-
dere Meinung iiber ein zweckmafiig gestaltetes Wesen nicht
vereinigen. Denn der Zweck deutet auf denjenigen hin,
der ihn in die Wesen gelegt hat, auf den intelligenten
Welturheber. Konnte der menschliche Geist ein zweck-
mafiiges Wesen ebenso erklaren wie ein blofi naturnot-
wendiges, dann miifite er audi die Zweckgesetze aus sich
heraus in die Dinge hineinlegen. Er miifite also den Din-
gen nicht blofi Gesetze geben, die fur -sie gelten, insoweit
sie Erscheinungen seiner Innenwelt sind; er miifite ihnen
audi ihre eigene, von ihm ganzlich unabhangige Bestim-
mung vorschreiben konnen. Er miifite also nicht nur ein
erkennender, sondern ein schaffender Geist sein; seine Ver-
nunft miifite, wie die gottliche, die Dinge schaffen.
Wer die Struktur der Kantschen Weltauffassung, wie
sie hier skizziert worden ist, sich vergegenwartigt, wird
die starke Wirkung derselben auf die Zeitgenossen und
audi auf die Nachwelt begreiflich finden. Denn sie tastet
keine der Vorstellungen, die sich im Laufe der abendlan-
dischen Kulturentwickelung dem menschlichen Gemiite
eingepragt haben, an. Sie lafit dem religiosen Geiste Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit. Sie befriedigt das Erkennt-
nisbediirfnis, indem sie ihm ein Gebiet abgrenzt, innerhalb
dessen sie unbedingt gewisse Wahrheiten anerkennt. Ja,
sie lafit sogar die Meinung gelten, dafi die menschliche
Vernunft ein Recht habe, sich zur Erklarung lebendiger
Wesen nicht blofi der ewigen, ehernen Naturgesetze, son-
dern des Zweckbegriffs zu bedienen, der auf eine absicht-
liche Ordnung im Weltwesen deutet.
Aber um welchen Preis hat Kant alles dieses erreicht!
Er hat die ganze Natur in den menschlichen Geist hinein-
versetzt, und ihre Gesetze zu solchen dieses Geistes selbst
gemacht. Er hat die hohere Weltordnung ganz aus der
Natur verwiesen und sie auf eine rein moralische Grund-
lage gestellt. Er hat zwischen das unorganische und das
organische Reich eine scharfe Grenzlinie gesetzt, und jenes
nach rein mechanischen, streng notwendigen Gesetzen, die-
ses nach zweckvollen Ideen erklart. Endlich hat er das
Reich des Schonen und der Kunst vollig aus seinem Zu-
sammenhange mit der ubrigen Wirklichkeit herausgeris-
sen. Denn die Zweckmafiigkeit, die im Schonen beobach-
tet wird, hat mit wirklichen Zwecken nichts zu tun. Wie
ein schoner Gegenstand in den Weltzusammenhang hin-
einkommt, das ist gleichgiiltig; es geniigt, daft er in uns die
Vorstellung des Zweckmafiigen errege und dadurch unser
Wohlgefallen hervorrufe.
Kant vertritt nicht nur die Anschauung, daft des Men-
schen Wissen insofern mbglich sei, als die Gesetzmafiig-
keit dieses Wissens aus der selbstbewufiten Seele selbst
stamme, und daft die Gewifiheit iiber diese Seele aus einer
anderen Quelle als aus dem Naturwissen komme: er deu-
tet auch darauf hin, dafi das menschliche Wissen vor der
Natur da haltmachen miisse, wo wie im lebendigen Orga-
nismus der Gedanke in den Naturwesen selbst zu walten
scheint. Kant spricht damit aus, dafi er sich Gedanken nicht
denken konne, welche als wirkend in den Wesen der Na-
tur selbst vorgestellt werden. Die Anerkennung solcher
Gedanken setzt voraus, dafi die Menschenseele nicht blofi
denkt, sondern denkend miterlebt das Leben der Natur.
Fande jemand, dafi man Gedanken nicht blofi als "Wahr-
nehmung empfangen konne, wie es bei den platonischen
und aristotelischen Ideen der Fall ist, sondern dafi man
Gedanken erleben konne, indem man in die Wesen der
Natur untertaucht, dann ware wieder ein Element gefun-
den, welches sowohl in das Bild der Natur wie in die Vor-
stellung des selbstbewuftten Ich aufgenommen werden
konnte. Das selbstbewuftte Ich fur sidi findet in dem Na-
turbilde der neueren Zeit keinen Platz. Erfullt sidi das
selbstbewuftte Ich nicht nur so mit dem Gedanken, daft es
weift: ich habe diesen gebildet, sondern so, daft es an ihm
ein Leben erkennt, von dem es wissen kann: es vermag
sidi audi aufter mir zu verwirklichen, - dann kann es sich
sagen: Ich trage etwas in mir, was ich audi aufter mir fin-
den kann. Die neuere Weltanschauungsentwickelung drangt
also zu dem Schritt: in dem selbstbewuftten Ich den Ge-
danken zu finden, der als lebendig empfunden wird. Die-
sen Schritt hat Kant nicht gemacht: Goethe hat ihn ge-
macht.
Den Gegensatz zur Kantschen Auffassung der "Welt bil-
dete in alien wesentlichen Dingen die Goethesche. Unge-
fahr um dieselbe Zeit, als Kant seine «Kritik der reinen
Vernunft» erscheinen lieft, legte Goethe sein Glaubens-
bekenntnis in dem Hymnus in Prosa «Die Natur» nieder,
in dem er den Menschen ganz in die Natur hineinstellte
und sie, die unabhangig von ihm waltende, zu ihrer eige-
nen und seiner Gesetzgeberin zugleich machte. Kant nahm
die ganze Natur in den menschlichen Geist herein, Goethe
sah alles Menschliche als ein Glied dieser Natur an; er
fiigte den menschlichen Geist der natiirlichen Weltord-
nung ein. «Natur! Wir sind von ihr umgeben und um-
schlungen - unvermogend, aus ihr herauszutreten, und un-
vermogend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und
ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes
auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermiidet sind und
ihrem Arme entf alien. . . . Die Menschen sind alle in ihr,
und sie in alien. . . . Audi das Unnatiirlichste ist Natur,
audi die plumpeste Philisterei hat etwas von ihrem Genie.
. . . Man gehorcht ihren Gesetzen, audi wenn man ihnen
widerstrebt; man wirkt mit ihr, audi wenn man gegen sie
wirken will. . . . Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und
bestraft sidi selbst, erfreut und qualt sich selbst. ... Sie
hat mich hereingestellt, sie wird mich audi herausfiihren.
Idi vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten; sie wird
ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr; nein, was
wahr 1st und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles
ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst.» Das ist der Gegen-
pol der Kantschen "Weltanschauung. Bei Kant ist die Na-
tur ganz im menschlichen Geiste; bei Goethe ist der mensch-
liche Geist ganz in der Natur, weil die Natur selbst Geist
ist. Es ist demnach nur zu verstandlich, wenn Goethe in
dem Aufsatze «Einwirkung der neueren Philosophie» er-
zahlt: «Kants Kritik der reinen Vernunft . . . lag vollig
aufierhalb meines Kreises. Ich wohnte jedoch manchem
Gesprach daruber bei, und mit einiger Aufmerksamkeit
konnte ich bemerken, dafi die alte Hauptfrage sich er-
neuere, wie viel unser Selbst und wie viel die Aufienwelt
zu unserem geistigen Dasein beitrage? Ich hatte beide nie-
mals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise iiber Ge-
genstande philosophierte, so tat ich es mit unbewufiter
Naivitat und glaubte wirklich, ich sahe meine Meinungen
vor Augen.» In dieser Auffassung der Stellung Goethes
zu Kant braucht uns audi nicht zu beirren, dafi der erstere
manches giinstige Urteil iiber den Konigsberger Philoso-
phen abgegeben hat. Denn ihm selbst ware dieser Gegen-
satz nur dann ganz klar geworden, wenn er sich auf ein
genaues Studium Kants eingelassen hatte. Das hat er
aber nicht. In dem obengenannten Aufsatz sagt er: «Der
Eingang war es, der mir gefiel; ins Labyrinth selbst konn-
te ich rnich nicht wagen; bald hinderte mich die Dichtungs-
gabe, bald der Menschenverstand, und ich fiihlte mich nir-
gends gebessert.» Scharf aber hat er doch einmal den Ge-
gensatz ausgesprochen in einer Aufzeichnung, die erst
durch die Weimarische Goethe-Ausgabe aus dem Nachlafi
veroffentlicht worden ist fWeimarische Ausgabe, 2. Abtei-
lung, Band XI, S. 376). Der Grundirrtum Kants, meint
Goethe, bestiinde darin, dafi dieser «das subjektive Er-
kenntnisvermogen . . . selbst als Objekt betrachtet und den
Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentrefTen, zwar
scharf, aber nicht ganz richtig sondert». Goethe ist eben
der Ansicht, dafi in dem sub jektiven menschlichen Erkennt-
nisvermogen nicht blofi der Geist als soldier sich ausspricht,
sondern dafi die geistige Natur es selbst ist, die sich in dem
Menschen ein Organ geschaffen hat, durch das sie ihre Ge-
heimnisse offenbar werden la£t. Es spricht gar nicht der
Mensch iiber die Natur; sondern die Natur spricht im
Menschen iiber sich selbst. Das ist Goethes Uberzeugung.
So konnte Goethe sagen: Sobald der Streit iiber die Weit-
ansicht Kants «zur Sprache kam, mochte ich mich gern auf
diejenige Seite stellen, welche dem Menschen am meisten
Ehre macht, und gab alien Freunden vollkommen Beifall,
die mit Kant behaupteten, wenngleich alle unsere Erkennt-
nis mit der Erfahrung angehe, so entspringe sie darum
doch nicht eben alle aus der Erfahrung». Denn Goethe
glaubte, dafi die ewigen Gesetze, nach denen die Natur
verfahrt, im menschlichen Geiste offenbar werden; aber
fur ihn waren sie deshalb doch nicht die subjektiven Ge-
setze dieses Geistes, sondern die objektiven der Natur-
ordnung selbst. Deshalb konnte er audi Schiller nicht bei-
stimmen, als dieser unter Kants Einfluft eine schroffe
Scheidewand zwischen dem Reiche der Naturnotwendig-
keit und dem der Freiheit aufrichtete. Er spridit sich dar-
iiber aus in dem Aufsatz «Erste Bekanntschaft mit Schil-
ler»: «Die Kantsche Philosophic, welche das Subjekt so
hoch erhebt, indem sie es einzuengen scheint, hatte er mit
Freuden in sich aufgenommen; sie entwickelte das Aufier-
ordentliche, was die Natur in sein Wesen gelegt, und er,
im hochsten Gefuhl der Freiheit und Selbstbestimmung,
war undankbar gegen die grofie Mutter, die ihn gewift
nicht stiefmutterlich behandelte. Anstatt sie als selbstan-
dig, lebendig, vom Tiefsten bis zum Hochsten gesetzlich
hervorbringend zu betrachten, nahm er sie von der Seite
einiger empirischen menschlichen Naturlichkeiten.» Und
in dem Aufsatz «Einwirkung der neueren Philosophie»
deutet er den Gegensatz zu Schiller mit den Worten an:
«Er predigte das Evangelium der Freiheit, ich wollte die
Rechte der Natur nicht verkiirzt wissen.» In Schiller steck-
te eben etwas von Kantscher Vorstellungsart; fiir Goethe
ist es aber richtig, was er im Hinblick auf Gesprache sagt,
die er mit Kantianern gefuhrt hat: «Sie horten mich wohl,
konnten mir aber nichts erwidern, noch irgend forderlich
sein. Mehr als einmal begegnete es mir, dafi einer oder der
andere mit lachelnder Verwunderung zugestand: es sei
freilich ein Analogon Kantscher Vorstellungsart, aber ein
seltsames.»
In der Kunst und dem Schonen sah Goethe nicht ein aus
dem wirklichen Zusammenhange herausgerissenes Reich,
sondern eine hohere Stufe der natiirlichen Gesetzmafiig-
keit. Beim Anblicke von kunstlerischen Schopfungen, die
ihn besonders interessieren, schreibt er wahrend seiner ita-
lienisciien Reise dieWorte nieder: «Die hohen Kunstwerke
sind zugleich als die hochsten Naturwerke von Mensdien
nach wahren und naturlichen Gesetzen hervorgebradit
worden. Alles Willkiirliche, Eingebildete fallt zusammen;
da ist Notwendigkeity da ist Gott.» Wenn der Kiinstler
im Sinne der Griechen verfahrt, namlich «nach den Geset-
zen, nach weldien die Natur selbst verfahrt», dann liegt
in seinen Werken das Gottliche, das in der Natur selbst
zu finden ist. Fur Goethe ist die Kunst «eine Manifesta-
tion geheimer Naturgesetze» ; was der Kiinstler schafft,
sind Naturwerke auf einer hoheren Stufe der Vollkom-
menheit. Kunst ist Fortsetzung und menschlicher Abschlufi
der Natur, denn «indem der Mensch auf den Gipfel der
Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze
Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubrin-
gen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit alien Voll-
kommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ord-
nung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich
bis zur Produktion des Kunstwerks erhebt». Alles ist Na-
tur, vom unorganischen Stein bis zu den hochsten Kunst-
werken des Mensdien, und alles in dieser Natur ist von
den gleichen «ewigen, notwendigen, dergestalt gottlichen
Gesetzen» beherrscht, dafi «die Gottheit selbst daran nichts
andern konnte». (Dichtung und Wahrheit, 16. Buch.)
Als Goethe im Jahre 1811 Jacobis Buch «Von den gott-
lichen Dingen» las, machte es ihn «nicht wohl». «Wie
konnte mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes
willkommen sein, worin ich die These durchgefiihrt sehen
sollte: die Natur verberge Gott! Mufite bei meiner reinen,
tiefen, angeborenen und geiibten Anschauungsweise, die
mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen un-
verbriichlich gelehrt hatte, so daft diese Vorstellungsart
den Grund meiner ganzen Existenz machte, mufite nicht
ein so seltsamer, einseitig beschrankter Aussprudi mich
dem Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen Herz
ich verehrend liebte, fiir ewig entfernen? Doch ich hing
meinem schmerzlichen Verdrusse nicht nach, ich rettete
mich vielmehr zu meinem alten Asyl und fand in Spino-
zas Ethik auf mehrere Wochen meine tagliche Unterhal-
tung, und da sich indes meine Bildung gesteigert hatte,
ward ich im schon Bekannten gar mancheSj das sich neu
und anders hervortat, audi ganz eigen frisch auf mich ein-
wirkte, zu meiner Verwunderung gewahr.»
Das Reich der Notwendigkeit im Sinne Spinozas ist fiir
Kant ein Reich innerer menschlicher GesetzmaEigkeit; fur
Goethe ist es das Universum selbst, und der Mensch mit
all seinem Denken, Fiihlen, Wollen und Tun ist ein Glied
innerhalb dieser Kette von Notwendigkeiten. Innerhalb
dieses Reiches gibt es nur eine Gesetzmafiigkeit, von wel-
cher die naturliche und die moralische Gesetzmafiigkeit
die zwei Seiten ihres Wesens sind. «Es leuchtet die Sonne
tiber Bose und Gute; und dem Verbrecher glanzen, wie
dem Besten, der Mond und die Sterne. » Aus einer Wurzel,
aus den ewigen Triebkraften der Natur lafit Goethe alles
entspringen: die unorganischen, die organischen Wesen-
heiten, den Menschen mit alien Ergebnissen seines Geistes:
seiner Erkenntnis, seiner Sittlichkeit, seiner Kunst.
Was war ein Gott, der nur von aufien stieSe,
Im Kreis das All am Finger laufen liefie!
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So dafi, was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermilk.
In solche Worte fafit Goethe sein Bekenntnis zusam-
men. Gegen Haller, der das Wort gesprochen hat: «Ins
Innere der Natur dringt kein ersdiaffener Geist», wendet
sich Goethe mit den scharfsten Worten:
«Ins Innere der Natur -»
O, du Philister! -
«Dringt kein erschafPner Geist.»
Midi und Geschwister
Mogt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern;
Wir denken: Ort fiir Ort
Sind wir im Innern.
«Gluckselig, wem sie nur
Die aufi're Schale weist»,
Das hor ich sechzig Jahre wiederholen,
Und fluche drauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend tausendmale:
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Nodi Schale,
Alles ist sie mit einem Male;
Dich priife du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist.
Im Sinne dieser seiner Weltanschauung konnte Goethe
audi den Unterschied zwischen anorganischer und orga-
nischer Natur nicht anerkennen, den Kant in seiner «Kri-
tik der Urteilskraft» festgestellt hatte. Sein Streben ging
dahin, die belebten Organismen in dem Sinne nach Ge-
setzen zu erklaren, wie audi die leblose Natur erklart
wird. Der tonangebende Botaniker der damaligen Zeit,
Linne, sagt iiber die mannigfaltigen Arten in der Pflan-
zenwelt, es gebe soldier Arten so viele, als «verschiedene
Formen im Prinzip geschaffen worden sind». Wer eine
solche Memung hat, der kann sich nur bemiihen, die Eigen-
schaf ten der einzelnen Formen zu studieren und diese sorg-
faltig voneinander zu unterscheiden. Goethe konnte sidi
mit einer solchen Naturbetrachtung nicht einverstanden
erklaren. «Das, was er (Linne) mit Gewalt auseinanderzu-
halten suchte, muftte, nadi dem innersten Bediirfnis mei-
nes "Wesens, zur Vereinigung anstreben.» Er suchte das-
jenige auf, was alien Pflanzenarten gemeinsam ist. Auf
seiner Reise in Italien wird ihm dieses gemeinsame Urbild
in alien Pflanzenformen immer klarer: «Die vielen Pflan-
zen, die ich sonst nur in Kiibeln und Topfen, ja die grofke
Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt
war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel, und
in dem sie ihre Bestimmung vollkommen erfullen, werden
sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und er-
neuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich
nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken konnte.
Eine solche mufi es denn dock geben: woran wiirde ich
sonst erkennen, daft dieses oder jenes Gebilde eine Pfianze
sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet w'd-
renf » Ein anderes Mai driickt er sich iiber diese Urpflanze
aus: Sie «wird das wunderlichste Geschopf von der Welt,
um welches mich die Natur selbst beneiden soli. Mit die-
sem Modell und dem Schliissel dazu kann man alsdann
noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent
sein mussen, das hei&t, die, wenn sie auch nicht existieren,
doch existieren konnten, und nicht etwa malerische oder
dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine inner-
liche Wahrheit und Notwendigkeit haben.» Wie Kant in
seiner «Naturgeschichte und Theorie des Himmels» aus-
ruft: «Gebt mir Materie; ich will eudi eine Welt daraus
bauen», well er den gesetzmafiigen Zusammenhang dieser
Welt einsieht, so sagt hier Goethe: mit Hilfe der Urpflanze
konne man existenzfahige Pflanzen ins Unendliche erfin-
den, weil man das Gesetz der Entstehung und des Wardens
derselben innehat. Was Kant nur von der unorganisdien
Natur gelten lassen wollte, dafi man ihre Ersclieinungen
nach notwendigen Gesetzen begreifen kann, das dehnte
Goethe auch auf die Welt der Organismen aus. Er fiigt in
dem Briefe, in dem er Herder seine Entdeckung der Ur-
pflanze mitteilt, hinzu: «Dasselbe Gesetz wird sich auf
alles iibrige Lebendige anwenden lassen. » Und Goethe hat
es auch angewendet. Seine emsigen Studien iiber die Tier-
welt brachten ihn 1795 dazu, «ungescheut behaupten zu
diirfen, daft alle vollkommenen organischen Naturen, wor-
unter wir Fische, Amphibien, Vogel, Saugetiere und an
der Spitze der letzteren den Menschen sehen, alle nach
einem Urbilde geformt seien y das nur in seinen sehr bestan-
digen Teilen mehr oder weniger hin und her weicht und
sich noch taglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet».
Goethe stent also auch in der NaturaufFassung im vollsten
Gegensatz zu Kant. Dieser nannte es ein gewagtes «Aben-
teuer der Vernunft», wenn diese es unternehmen wollte,
das Lebendige seiner Entstehung nach zu erklaren. Er halt
das menschliche Erkenntnisvermogen zu einer solchen Er-
klarung fur ungeeignet. «Es liegt der Vernunft unendlich
viel daran, den Mechanismus der Natur in ihren Erzeu-
gungen nicht fallen zu lassen und in der Erklarung der-
selben nicht vorbeizugehen; weil ohne diesen keine Ein-
sieht in die Natur der Dinge erlangt werden kann. Wenn
man uns gleich einraumt: dafi ein hochster Architekt die
Formen der Natur, so wie sie von jeher da sind, unmittel-
bar geschaffen, oder die, so sich in ihrem Laufe konti-
nuierlich nach eben demselben Muster bilden, pradetermi-
niert habe, so ist doch dadurch unsere Erkenntnis der Na-
tur nicht im mindesten gefordert; weil wir jenes Wesens
Handlungsart und die Ideen desselben, welche die Prin-
zipien der Moglichkeit der Naturwesen enthalten sollen,
gar nicht kennen, und von demelben als von oben herab
die Natur nicht erkldren kdnnen.» Auf solche Kantsche
Ausfiihrungen erwidert Goethe: «Wenn wir ja im Sitt-
lichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterbiich-
keit uns in eine obere Region erheben und an das erste
Wesen annahern sollen, so diirfte es wohl im Intellektuel-
len derselbe Fall sein, daft wir uns durch das Anschauen
einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme
an ihren Produktionen wiirdig machten. Hatte ich doch
erst unbewufk und aus innerem Trieb auf jenes Urbild-
liche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar ge-
gliickt, eine naturgemafie Darstellung aufzubauen, so
konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Aben-
teuer der Vernunft, wie es der Alte vom Konigsberge
selbst nennt, mutig zu bestehen.»
Goethe hatte in der «Urpflanze» eine Idee erfafk, «mit
der man . . . Pflanzen ins Unendliche erjfinden» kann, die
«konsequent sein miissen, das heifit, die, wenn sie auch
nicht existieren, doch existieren konnten, und nicht etwa
malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind,
sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit ha-
ben». Damit ist er auf dem Wege, in dem selbstbewufiten
Ich nicht nur die wahrnehmbare, die gedachte, sondern die
lebendige Idee zu finden. Das selbstbewufke Ich erlebt in
sich ein Reich, das sich selbst sowohl als auch der Aufien-
welt angehorig erweist, weil seine Gebilde sich als Ab-
bilder der schopferischen Machte bezeugen. Damit ist fiir
das selbstbewufite Ich dasjenige gefunden, was es als wirk-
liches Wesen ersdieinen lafk. Goethe hat eine Vorstellung
entwickelt, durch welche das selbstbewuftte Ich sich belebt
erfiihlen kann, weil es sich mit den schaffenden Natur-
wesenheiten eins fiihlt. Die neueren Weltanschauungen
such ten das Ratsel des selbstbewulken Ich zu bewaltigen;
Goethe versetzt in dieses Ich die lebendige Idee; und mit
dieser in ihm waltenden Lebenskraft erweist sich dieses
Ich selbst als lebensvolle Wirklichkeit. Die griechische Idee
ist mit dem Bilde verwandt; sie wird betrachtet wie das
Bild. Die Idee der neueren Zeit mufi mit dem Leben, dem
Lebewesen selbst verwandt sein; sie wird erlebt. Und
Goethe wufite davon, dafi es ein solches Erleben der Idee
gibt. Er vernahm im selbstbewufiten Ich den Hauch der
lebendigen Idee.
Von der «Kritik der Urteilskraft» Kants sagt Goethe,
dafi er ihr «eine hochst frohe Lebensepoche schuldig» sei.
«Die grofien Hauptgedanken des Werks waren meinem
bisherigen SchafTen, Tun und Denken ganz analog. Das
innere Leben der Kunst so wie der Natur, ihr beiderseiti-
ges Wirken von innen heraus, war in dem Buche deutlich
ausgesprochen.» Audi dieser Ausspruch Goethes kann iiber
seinen Gegensatz zu Kant nicht hinwegtauschen. Denn in
dem Aufsatz, dem er entnommen ist, heilk es zugleich:
«Leidenschaftlich angeregt, ging ich auf meinen Wegen
nur desto rascher fort, weil ich selbst nicht wufite, wohin
sie fuhrten, und fiir das, was und wie ich mir's zugeeignet
hatte, bei den Kantianern wenig Anklang fand. Denn ich
sprach nur aus, was in mir aujgeregt war, nicht aber, was
ich gelesen hatte. »
Eine streng einheitliche Weltanschauung ist Goethe
eigen; er will einen Gesichtspunkt gewinnen, von dem aus
das ganze Universum seine Gesetzmafiigkeit offenbart,
«vom Ziegelstein, der dem Dach entsturzt, bis zum leuch-
tenden Geistesblitz, der dir aufgeht und den du mitteilst».
Denn «alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir
in der Erfahrung bemerken, hangen auf die stetigste Weise
zusammen, gehen ineinander iiber». «Ein Ziegelstein lost
sich vom Dache los: wir nennen dies im gemeinen Sinne
zufallig; er trifft die Schultern eines Voriibergehenden,
doch wohl mechanisch; allein nicht ganz mechanisch, er
folgt den Gesetzen der Schwere, und so wirkt er physisch.
Die zerrissenen Lebensgefafie geben sogleich ihre Funk-
tion auf; im Augenblick wirken die Safte chemiscb, die ele-
mentaren Eigenschaften treten hervor. Allein das gestorte
organische Leben widersetzt sich ebenso schnell und sucht
sich herzustellen; indessen ist das menschliche Ganze mehr
oder weniger bewufklos und psychisch zerriittet. Die sich
wiedererkennende Person fiihlt sich ethisch im tiefsten
verletzt; sie beklagt ihre gestorte Tatigkeit, von welcher
Art sie auch sei, aber ungern ergabe der Mensch sich in
Geduld. Reiigids hingegen wird ihm leicht, diesen Fall
einer hoheren Schickung zuzuschreiben, ihn als Bewahrung
vor grolterem Ubel, als Einleitung zu hoherem Guten an-
zusehen. Dies reicht hin fur den Leidenden; aber der Ge-
nesende erhebt sich genial, vertraut Gott und sich selbst
und fiihlt sich gerettet, ergreift auch wohl das Zufallige,
wendet's zu selnem Vorteil, um einen ewig frischen Le-
benskreis zu beginnen.» So erlautert Goethe an dem Bei-
spiei eines fallenden Ziegelsteins den Zusammenhang aller
Art en von Naturwirkungen. Eine Erklarung in seinem
Sinne ware es, wenn man auch ihren streng gesetzmaiSigen
Zusammenhang aus einer Wurzel herleiten konnte.
Wie zwei geistige Antipoden stehen Kant und Goethe
an der bedeutsamsten Stelle der neueren Weltanschau-
ungsentwickelung. Und grundverschieden war die Art,
wie sich diejenigen zu ihnen stellten, die sich fiir hochste
Fragen interessierten. Kant hat seine Weltanschauung mit
alien Mitteln einer strengen Schulphilosophie aufgebaut;
Goethe hat naiv, sich seiner gesunden Natur iiberlassend,
philosophiert. Deshalb glaubte Fichte, wie oben erwahnt,
sich an Goethe nur «als den Reprasentanten der reinsten
Geistigkeit des Gefilhls auf der gegenwartig errungenen
Stuf e der Humanitat» wenden zu konnen, wahrend er von
Kant der Ansicht ist, dafi «kein menschlicher Vers tan d
weiter als bis zu der Grenze vordringen konne, an der Kant,
besonders in seiner Kritik der Urteilskraft, gestanden».
Wer in die in naivem Gewande gegebene Weltanschauung
Goethes eindringt, wird in ihr allerdings eine sichere
Grundlage finden, die auf klare Ideen gebracht werden
kann. Goethe selbst brachte sich diese Grundlage aber
nicht zum Bewufitsein. Deshalb findet seine Vorstellungs-
art nur allmahlich Eingang in die Entwickelung der Welt-
anschauung; und im Eingang des Jahrhunderts ist es zu-
nacfost Kant, mit dem sich die Geister auseinanderzusetzen
versuchten.
So grofi aber auch die Wirkung war, die von Kant aus-
ging: es konnte den Zeitgenossen nicht verborgen bleiben,
dafi ein tieferes Erkenntnisbedurfnis durch ihn doch nicht
befriedigt werden kann. Ein solches Erkenntnisbedurfnis
dringt auf eine einheitliche Weltansicht, wie das bei Goethe
der Fall war. Bei Kant stehen die einzelnen Gebiete des
Daseins unvermittelt nebeneinander. Aus diesem Grunde
konnte es sich Fichte, trotz seiner unbedingten Verehrung
Kants, nicht verbergen, dafi «Kant die Wahrheit blofi
angedeutet, aber weder dargestellt noch bewiesen» habe.
«Dieser wunderbare einzige Mann bat entweder ein Divi-
nationsvermogen der Wahrheit, ohne sicb ihrer Griinde
selbst bewulk zu sein, oder er hat sein Zeitalter nicht hoch
genug geschatzt, um sie ihm mitzuteilen, oder er hat sich
gescheut, bei seinem Leben die ubermenschliche Verehrung
an sich zu reifien, die ihm iiber kurz oder lang . . . nochzuteil
werden miiftte. Noch hat keiner ihn verstanden, . . . keiner
wird es, der nicht auf seinem eigenen Wege zu Kants Re-
sultaten kommen wird, und dann wird die Welt erst stau-
nen.» «Aber ich glaube ebenso sicher zu wissen, dafi Kant
sich ein solches System gedacht habe; daft alles, was er
wirklich vortragt, Bruchstiicke und Resultate dieses Sy-
stems sind, und daft seine Behauptungen nur unter dieser
Voraussetzung Sinn und Zusammenhang haben.» Denn
ware das nicht der Fall, so wolle Fichte «die Kritik der
reinen Vernunft eher fur das Werk des sonderbarsten Zu-
falls halten, als fiir das eines Kopfes».
Auch andere haben das Unbefriedigende der Kantschen
Gedankenkreise eingesehen. Lichtenberg, einer der geist-
vollsten und zugleich unabhangigsten Kopfe aus der zwei-
ten Halfte des achtzehnten Jahrhunderts, der Kant schatz-
te, konnte sich doch nicht versagen, gewichtige Einwande
gegen dessen Weltanschauung zu machen. Er sagt einer-
seits: «Was heifit mit Kantiscbem Geist denken? Ich glau-
be, es heilk die Verhaltnisse unseres Wesens, es sei nun
was es wolle, gegen die Dinge, die wir aufier uns nennen,
ausfindig machen; das heiftt die Verhaltnisse des Subjekti-
ven gegen das Objektive bestimmen. Dieses ist freilich im-
mer der Zweck aller griindlichen Naturforscher gewesen,
allein die Frage ist, ob sie es je so wahrhaft philosophisch
angefangen haben, als Herr Kant. Man hat das, was doch
schon subjektiv ist und sein mufi, fiir objektiv gehalten.»
Anderseits bemerkt Lichtenberg aber: «Sollte es denn so
ganz ausgemacht sein, daiS unsere Vernunf t von dem Uber-
sinnlichen gar nidits wissen konne? Sollte nidit der Mensdi
seine Ideen von Gott ebenso zweckm'dfiig weben konnen
wie die Spinne ihr Netz zum Fliegenfang? Oder mit an-
deren Worien: Sollte es nicht Wesen geben, die uns we-
gen unserer Ideen von Gott und Unsterblichkeit ebenso
bewundern, wie wir die Spinne und den Seidenwurm?»
Aber man konnte einen noch viel gewichtigeren Einwand
machen. Wenn es riditig ist, dafi sich die Gesetze der
menschlichen Vernunft nur auf die innere Welt des Gei-
stes beziehen, wie kommen wir dazu, iiberhaupt von Din-
gen aufier uns zu spredien? - Wir mufiten uns dann doch
vollig in unsere Innenwelt einspinnen. Einen solchen Ein-
wand machte Gottlob Ernst Schulze in seiner 1792 anonym
erschienenen Schrift «Aenesidemus». Er behauptet darin,
dafi alle unsere Erkenntnisse bio fie Vorstellungen seien,
und dafi wir iiber unsere Vorstellungswelt in keiner Weise
hinausgehen konnen. Damit waren im Grunde audi Kants
moralische Wahrbeiten widerlegt. Denn lafk sich nicht
einmal die Moglichkeit denken, iiber die Innenwelt hin-
auszugehen, so kann uns in eine unmoglich zu denkende
Welt auch keine moralische Stimme leiten. So entwickelte
sich aus Kants Ansicht zunachst ein neuer Zweifel an aller
Wahrheit, der Kritizismus wurde zum Skeptizismus.
Einer der konsequentesten Anhanger des Skeptizismus ist
Salomon Maimon, der seit 1790 verschiedene Schriften
verfafke, die unter dem Einflufi Kants und Schulzes stan-
den, und in denen er mit aller Entschiedenheit dafur ein-
trat, daft von dem Dasein aufterer Gegenstande, wegen
der ganzen Einrichtung unseres Erkenntnisvermogens, gar
nicht gesprochen werden diirfe. Ein anderer Schiller Kants,
Jacob Sigismund Beck, ging sogar so weit, zu behaupten,
Kant habe in Wahrheit selbst keine Dinge aufier uns an-
genommen, und es beruhe nur auf einem Mifiverstandnis,
wenn man ihm eine solche Vorstellung zuschreibe.
Eines ist gewiiS: Kant bot semen Zeitgenossen unzahlige
Angriffspunkte zu Auslegungen und zum Widerspruche
dar. Gerade durch seine Unklarheiten und Widerspriiche
wurde er der Vater der klassischen deutschen Weltanschau-
ungen Fichtes, Schellings, Schopenhauers, Hegels, Herbarts
und Schleiermachers. Seine Unklarheiten wurden fur sie
zu neuen Fragen. So sehr er sich bemuht hatte, das Wissen
einzuschranken, um fur den Glauben Platz zu erhalten:
der menschliche Geist kann sich im wahrsten Sinne des
Wortes doch nur durch das Wissen, durch die Erkenntnis
befriedigt erklaren. So kam es denn, daft Kants Nachfol-
ger die Erkenntnis wieder in ihre vollen Rechte einsetzen
wollten; daft sie mit ihr die hochsten geistigen Bediirfnisse
des Menschen erledigen wollten. Zum Fortsetzer Kants in
dieser Richtung war Johann Gottlieb Fichte wie geschaf-
fen, er, der da sagte: «Die Liebe der Wissenschaft und
ganz besonders der Spekulation, wenn sie den Menschen
einmal ergriffen hat, nimmt ihn so ein, dafi er keinen an-
deren Wunsch iibrig behalt als den, sich in Ruhe mit ihr
zu beschaftigen.» Einen Enthusiasten der Weltanschauung
darf man Fichte nennen. Er mufi durch diesen seinen En-
thusiasmus bezaubernd auf seine Zeitgenossen und seine
Schiiler gewirkt haben. Horen wir, was einer der letzte-
ren, For berg, iiber ihn sagt: «Sein offentlicher Vortrag
rauscht daher wie ein Gewitter, das sich seines Feuers in
einzelnen Schlagen entladet; . . . er erhebt die Seele.» Er
will nicht blofi gute, sondern grofie Menschen machen. Sein
«Auge ist strafend und sein Gang trotzig, ... er will durch
seine Philosophic den Geist des Zeitalters leiten. ... Seine
Phantasie ist nicht bltihend, aber energisch und machtig;
seine Bilder sind nicht reizend, aber . . . kiihn und grofi. Er
dringt in die innersten Tief en seines Gegenstandes und schal-
tet imReiche derBegriffe mit einer Unbef angenheit . . ,wel-
che verrat, daft er in diesem unsichtbaren Lande nicht blofi
wohnt, sondern herrscht.» Das hervorstechendste Merkmal
in Fichtes Personlichkeit ist der grofie, ernste Stil in seiner
Lebensauffassung. Die hochsten Mafistabe legt er an alles.
Er schildert z. B. den Beruf des Schriftstellers: «Die Idee
mufi selber reden, nicht der Schriftsteller. Alle Willkiir
des letzteren, seine ganze Individualitat, seine ihm eigene
Art und Kunst muE erstorben sein in seinem Vortrage,
damit allein die Art und Kunst seiner Idee lebe, das hoch-
ste Leben, welches sie in dieser Sprache und in diesem Zeit-
alter gewinnen kann. So wie er frei ist von der VerpfKch-
tung des mundlichen Lehrers, sich der Empfanglichkeit
anderer zu fugen, so hat er audi nicht dessen Entschuldi-
gung fiir sich. Er hat keinen gesetzten Leser im Auge, son-
dern er konstruiert seinen Leser und gibt ihm das Gesetz,
wie es sein miisse.» - «Das Werk des Schriftstellers aber
ist in sich selber ein Werk fiir die Ewigkeit. Mogen kiinf-
tige Zeitalter einen hoheren Schwung nehmen in der Wissen-
schaft, die er in seinem Werke niedergelegt hat; er hat nicht
nur die Wissenschaft, er hat den ganz bestimmten und voll-
endeten Charakter eines Zeitalters in Beziehung auf diese
Wissenschaft in seinem Werke niedergelegt, und dieser be-
halt sein Interesse, solange es Menschen auf der Welt geben
wird. Unabhangig von der Wandelbarkeit, spricht sein
Buchstabe in alien Zeitaltern an alle Menschen, welche
diesen Buchstaben zu beleben vermogen, und begeistert,
erhebt, und veredelt bis an das Ende der Tage.» So spricht
ein Mann, der sich seines Berufes als geistiger Lenker seines
Zeitalters bewufit ist, dem es voller Ernst war, wenn er - in
den Vorlesungen iiber die Bestimmung des Gelehrten-sagte:
An meiner Person liegt nichts, alles aber an der Wahrheit,
denn «ich bin ein Priester der Wahrheit ». Von einem
Manne, der so im Reiche der «Wahrheit» lebte, verstehen
wir es, da$ er andere nicht bloS zum Verstehen anleiten,
sondern zwingen wollte. Er durfte einer seiner Schriften
den Titel geben «Sonnenklarer Bericht an das grofiere Pu-
blikum iiber das eigentliche Wesen der neuesten Philoso-
phic Ein Versuchy die Leser zum Verstehen zu zwingen.y>
Eine Personlichkeit, welche der Wirklichkeit und deren
Tatsachen nicht zu bediirfen glaubt, um den Lebensweg
zu gehen, sondern die das Auge unverwandt auf die Ideen-
welt richtet, ist Fichte. Gering denkt er von denjenigen,
die eine solche ideale Richtung des Geistes nicht verstehen.
«Indes man in demjenigen Umkreise, den die gewohnliche
Erfahrung um uns gezogen, allgemeiner selbst denkt und
richtiger urteilt, als vielleicht je, sind die mehrsten vdllig
irre und geblendet, sobald sie auch nur eine Spanne iiber
denselben hinausgehen sollen. Wenn es unmoglich ist, in
diesen den einmal ausgeloschten Funken des hoheren Ge-
nius wieder anzufachen, muft man sie ruhig in jenem
Kreise bleiben, und insofern sie in demselben niitzlich und
unentbehrlich sind, ihnen ihren Wert in und fur denselben
ungeschmalert lassen. Aber wenn sie darum nun selbst
verlangen, alles zu sich herabzuziehen, wozu sie sich nicht
erheben konnen, wenn sie zum Beispiel fordern, dafi alles
Gedruckte sich als ein Kochbuch, oder als ein Rechenbuch,
oder als ein Dienstreglement solle gebraudben lassen, und
alles verschreien, was sich nicht so brauchen laik, so haben
sie selbst um ein Grofies unrecht. - Dafi Ideale in der wirk-
lichen Welt sidi nicht darstellen lassen, wissen wir anderen
vielleicht so gut als sie, vielleicht besser. Wir behaupten
nur, daft nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt, und von
denen, die dazu Kraft in sich fiihlen, modifiziert werden
miisse. Gesetzt, sie konnten audi davon sich nicht iiber-
zeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind,
was sie sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts
dabei. Es wird dadurch bloft das klar, dafi nur auf sie
nicht im Plane der Veredlung der Menschheit gerechnet
ist. Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fortsetzen; uber
jene wolle die giitige Natur walten und ihnen zu rechter
Zeit Regen und Sonnenschein, zutragliche Nahrung und
ungestorten Umlauf der Safte, und dabei - kluge Gedan-
ken verleihen!» Diese Worte setzte er dem Dmck der Vor-
lesungen voraus, in denen er den Jenenser Studenten die
«Bestimmung des Gelehrten» auseinandersetzte. Aus einer
grofien seelischen Energie heraus, die Sicherheit fiir die
Erkenntnis der Welt und fiir das Leben gibt, sind An-
schauungen wie die Fichtes erwachsen. Riicksichtslose Wor-
te hatte dieser fiir alle, die in sich nicht die Kraft zu sol-
dier Sicherheit verspurten. Als der Philosoph Reinhold
au£erte, da£ die innere Stimme des Menschen doch auch
irren konne, erwiderte ihm Fichte: «Sie sagen . . , der Philo-
soph... solle denken, dafi er als Individuum irren konne,
dafi er als solches von anderen lernen konne und miisse.
Wissen Sie, welche Stimmung Sie da beschreiben? Die eines
Menschen, der in seinem Leben noch nie von etwas iiber-
zeugt gewesen.»
Dieser kraf tvollen Personlichkeit, deren Blick ganz nach
innen gerichtet war, wider strebte es, das Hochste, was der
Mensch erreichen kann, eine Weltanschauung, anderswo
als audi im Innern zu suchen. «Alle Kultur soil sein Obung
aller Krafte auf den einen Zweck der volligen Freiheit,
das heifit der volligen Unabhangigkeit von allem, was
nicht wir selbst, unser reines Selbst (Vernunft, Sitten-
gesetz) ist, denn nur dies ist unser. ...» So urteilt Fichte
in den 1793 erschienenen «Beitragen zur Berichtigung der
Urteile des Publikums iiber die franzosische Revolution».
Und die wertvollste Kraft im Menschen, die Erkenntnis-
kraft, sollte nicht auf diesen einen Zweck des volligen Un-
abhangigseins von allem, was nicht wir selbst sind, gerich-
tet sein? Konnten wir denn uberhaupt je zu einem volli-
gen Unabhangigsein kommen, wenn wir in der Weltan-
schauung von irgendwelchem Wesen abhangig waren?
Wenn es durch ein solches aufier uns gelegenes Wesen aus-
gemacht ware, was die Natur, was unsere Seele, welches
unsere Pflichten sind, und wir dann binterher von einer
solchen fertigen Tatsache aus uns ein Wissen verschafften?
Sind wir unabhangig, dann miissen wir es auch in bezug
auf die Erkenntnis der Wahrheit sein. Wenn wir etwas
empfangen, das ohne unser Zutun entstanden ist, dann
sind wir von diesem abhangig. Die hochste Wahrheit kon-
nen wir also nicht empfangen. Wir miissen sie schaffen;
sie rauE durch uns entstehen. Fichte kann somit an die
Spitze der Weltanschauung nur etwas stellen, was durch
uns erst sein Dasein erlangt. Wenn wir von irgendeinem
Dinge der Auftenwelt sagen: Es ist, - so tun wir dies des-
halb, weil wir es wahrnehmen. Wir wissen, daE wir einem
anderen Wesen das Dasein zuerkennen. Was dieses andere
Ding ist, das hangt nicht von uns ab. Seine Beschaffenheit
konnen wir nur erkennen, wenn wir unser Wahrneh-
mungsvermogen darauf richten. Wir wiirden niemals wis-
sen, was «rot», «warm», «kalt» ist, wenn wir es nicht
durch die Wahrnehmung wiilken. Wir konnen zu diesen
Beschaffenheiten der Dinge nichts hinzutun, nichts von
ihnen wegnehmen. Wir sagen «Sie sind». Was sie sind:
das sagen sie uns. Ganz anders ist es mit unserem eigenen
Dasein. Zu sich selbst sagt der Mensch nicht: «Es ist», son-
dern: «Icb bin». Damit bat er aber nicbt blofi gesagt: dajl
er ist, sondern audi: was er ist, namlich ein «Icb». Nur ein
anderes Wesen konnte von mir sagen: «Es ist». Ja, es
miifite so sagen. Denn selbst, wenn dieses andere Wesen
mich geschafTen hatte, konnte es von meinem Dasein nicht
sagen: Ich bin. Der Ausspruch: «Icb bin» verliert alien
Sinn, wenn ihn das Wesen, das von seinem Dasein spricbt,
nicht selbst tut. Es gibt somit nichts in der Welt, was mich
mit «ich» ansprechen kann als allein mich selbst. Diese
Anerkennung meiner als eines «Ich» muE demnach meine
ureigenste Tat sein. Kein Wesen aufter mir kann darauf
EinfluiS haben.
Hier fand Fichte etwas, wo er sich ganz unabhangig sah
von jeglicher fremden Wesenheit. Ein Gott konnte mich
schaffen; aber er miifke es mir iiberlassen, mich als ein
«Ich» anzuerkennen. Mein Ichbewufitsein gebe ich mir
selbst. In ihm habe ich also nicht ein Wissen, ein Erken-
nen, das ich empfangen habe, sondern ein solches, das ich
selbst gemacht habe. So hat sich Fichte einen festen Punkt
fur die Weltanschauung geschafifen, etwas, wo Gewiftheit
ist. Wie steht es nun aber mit dem Dasein anderer Wesen?
Ich lege ihnen ein Dasein bei. Aber ich habe dazu nicht ein
gleiches Recht, wie bei mir selbst. Sie mussen zu Teilen
meines «Ich» werden, wenn ich ihnen mit gleichem Rechte
ein Dasein beilegen soil. Und das werden sie, indem ich
sie wahrnehme. Denn sobald das der Fall ist, sind sie fiir
mich da. Ich kann nur sagen: Mein Selbst fuhlt «rot», mein
Selbst empfindet «warm». Und so wahr ich mir selbst ein
Dasein beilege, so wahr kann ich dies audi meinem Fiihlen
und meinem Empfinden beilegen. Wenn idi mich also selbst
redit verstehe, so kann idi nur sagen: Idi bin und idi lege
selbst audi einer AuiSenwelt ein Dasein bei.
Auf diese Weise verlor fur Fichte die Welt au£er dem
«Ich» ihr selbstandiges Dasein; sie hat nur ein ihr vom
Idi beigelegtes, ein also zu ihr hinzugediditetes Dasein. In
seinem Streben, dem eigenen Selbst die hochstmogliche
Unabhangigkeit zu geben, hat Fichte der Aufienwelt jede
Selbstandigkeit genommen. Wo nun eine solche selbstan-
dige Aufienwelt nicht vorhanden gedacht wird, da ist es
audi begreiflich, dafi das Interesse an dem Wissen, an der
Erkenntnis dieser Aufienwelt aufhort. Damit ist das In-
teresse an dem eigentlichen Wissen uberhaupt erloschen.
Denn das Ich erfahrt durch ein solches Wissen im Grunde
nlchts, als was es selbst hervorbringt. In allem Wissen halt
das menschliche Ich gleichsam nur Monologe mit sich selbst.
Es geht nicht iiber sich selbst hinaus. Wodurch es aber dies
letztere doch vollbringt: das ist die lebendige Tat. Wenn
das Ich handelt, wenn es in der Welt etwas vollbringt:
dann ist es nicht mehr monologisierend mit sich allem.
Dann Uiefien seine Handlungen hinaus in die Welt. Sie er-
langen ein selbstandiges Dasein. Ich vollbringe etwas; und
wenn ich es vollbracht habe, dann wirkt es fort, audi wenn
ich mich an seiner Wirkung nicht mehr beteilige. Was ich
weifi, hat ein Dasein nur durch mich; was ich tue, ist Be-
standteil einer von mir unabhangigen moralischen Welt-
ordnung. Was bedeutet aber alle GewijSheit, die wir aus
dem eigenen Ich ziehen, gegeniiber dieser allerhochsten
Wahrheit einer moralischen Weltordnung, die doch unab-
hangig von uns sein mufi, wenn das Dasein einen Sinn
haben soil? Alles Wissen ist doch nur etwas fiir das eigene
Ich; diese Weltordnung mufi aber sein aufier dem Ich. Sie
mufi sein, trotzdem wir von ihr nidits wissen konnen. Wir
miissen sie also glauben. So kommt audi Fichte iiber das
Wissen hinaus zu einem Glauben. Wie der Traum gegen-
iiber der Wirklichkeit, ist alles Wissen gegeniiber dem
Glauben. Audi das eigene Ich hat nur ein solches Traum-
dasein, wenn es sich selbst blofi betrachtet. Es macht sich
ein Bild von sich, das nichts weiter zu sein braucht, als ein
voriiberschwebendes Bild; allein das Handeln bleibt. Mit
bedeutsamen Worten schildert Fichte dieses Traumdasein
der Welt in seiner «Bestimmung des Menschen»: «Es gibt
iiberall kein Dauerndes, weder aufier mir, noch in mir,
sondern nur einen unaufhorlichen Wedisel. Idi weifi iiber-
all von keinem Sein, und audi nicht von meinem eigenen.
Es ist kein Sein. - Ich selbst weifi iiberhaupt nicht, und bin
nicht. Bilder sind: sie sind das einzige, was da ist, und sie
wissen von sich, nach Weise der Bilder: - Bilder, die vor-
uberschweben; ohne dafi etwas sei, dem sie voriibersdiwe-
ben, die durch Bilder von den Bildern zusammenhangen,
Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung
und Zweck. Idi selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin
selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von
Bildern. - Alle Realitat verwandelt sich in einen wunder-
baren Traum, ohne ein Leben, von welchem getraumt
wird, und ohne einen Geist, dem da traumt; in einen
Traum, der in einem Traume von sich zusammenhangt.
Das Anschauen ist der Traum; das Denken - die Quelle
alles Seins und aller Realitat, die ich mir einbilde, meines
Seins, meiner Kraft, meiner Zwecke - ist der Traum von
jenem Traume. » Wie anders erscheint Fichte die morali-
sche Weltordnung, die Welt des Glaubens: «Mein Wille
soli schlechthin durch sich selbst, ohne alles seinen Aus-
druck schwachende Werkzeug, in einer ihm vollig gleich-
artigen Sphare, als Vernunft auf Vernunft, als Geistiges
auf Geistiges wirken; - in einer Sphare, der er jedoch das
Gesetz des Lebens, der Tatigkeit, des Fortiaufens nicht
gebe, sondern die es in sich selbst habe; also auf selbst-
tatige Vernunft. Aber selbsttatige Vernunft ist Wille. Das
Gesetz der ubersinnlichen Welt ware sonach ein Wille. . . .
Jener erhabene Wille geht sonach nicht abgesondert von
der iibrigen Vernunftwelt seinen Weg fiir sich. Es ist zwi-
schen ihm und alien endlichen verniinftigen Wesen ein
geistiges Band, und er selbst ist dieses geistige Band der
Vernunftwelt. . . . Ich verhiille vor dir mein Angesicht und
lege die Hand auf den Mund. Wie du fiir dich selbst bist
und dir selbst erscheinest, kann ich nie einsehen, so gewifi
ich nie du selbst werden kann. Nach tausendmal tausend
durchlebtenGeisterwelten werde ich dich nochebensowenig
begreifen als jetzt in dieser Hiitte von Erde. - Was ich be-
greife, wird durch mein blofies Begreifen zum Endlichen;
und dieses lafk audi durch unendliche Steigerung und Er-
hohung sich nie ins Unendliche umwandeln. Du bist vom
Endlichen nicht dem Grade, sondern der Art nach verschie-
schieden. Sie machen dich durch jene Steigerung nur zu
einem groEeren Menschen und immer zu einem grofteren;
nie aber zum Gotte, zum Unendlichen, der keines Mafies
fahig ist.»
Weil das Wissen ein Traum, die moralische Weltord-
nung fiir Fichte das einzige wahrhaft Wirkliche ist, des-
halb stellt er audi das Leben, durch das sich der Mensch
in den sittlichen Weltzusammenhang hineinstellt, iiber das
blofte Erkennen, iiber das Betrachten der Dinge. «Nichts»
- sagt er - «hat unbedingten Wert und Bedeutung als das
Leben; alles iibrige, Denken, Diditen und Wissen, hat nur
Wert, insofern es auf irgendeine Weise sidi auf das Le-
bendige bezieht, von ihm ausgeht und in dasselbe zuriick-
zulaufen beabsiditigt.»
Der ethische Grundzug in Fichtes Persdnlichkeit ist es,
der in seiner Weltanschauung alles ausgeloscht oder in sei-
ner Bedeutung herabgedriickt hat, was nicht auf die mora-
lische Bestimmung des Menschen hinauslauf t. Er wollte die
groEten, die reinsten Forderungen fur das Leben aufstel-
len; und dabei wollte er durch kein Erkennen, das viel-
leicht in diesen Zielen Widerspriiche mit der naturlichen
Gesetzmafiigkeit der Welt entdecken konnte, beirrt sein.
Goethe hat gesagt: «Der Handelnde ist immer gewissen-
los; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.» Da-
mit meinte er, dafi der Betrachtende alles nach seinem wah-
ren, wirklichen Werte abschatzt und jedes Ding an seinem
Platze begreift und gelten la£t. Der Handelnde hat es vor
alien Dingen darauf abgesehen, seine Forderungen in Er-
fiillung gehen zu sehen; ob er dabei den Dingen unrecht
tut oder nicht: das ist ihm gleich. Fichte war es vor alien
Dingen urns Handeln zu tun; er wollte sich aber dabei von
der Betrachtung nicht Gewissenlosigkeit vorwerfen lassen.
Deshalb bestritt er den Wert der Betrachtung.
Ins unmittelbare Leben einzugreifen war Fichtes fort-
wahrendes Bemuhen. Wo er glaubte, dafi seine Worte bei
anderen zur Tat werden konnten, da fiihlte er sich am
zufriedensten. Aus diesem Drang heraus hat er die Schrif-
ten verfalk «Zuriickforderung der Denkfreiheit von den
Fiirsten Europas, die sie bisher unterdriickten. Heliopolis,
im letzten Jahre der alten Finsternis i792»; «Beitragezur
Berichtigung der Urteile des Publikums iiber die franzo-
sische Revolution i793.» Aus diesem Drange heraus hat
er seine hinreifienden Reden gehalten «Die Grundziige
des gegenwartigen Zeitalters, dargestellt in Vorlesungen,
gehalten zu Berlin im Jahre 1804 — i8c>5»; «Die Anwei-
sung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre, in
Vorlesungen, gehalten zu Berlin im Jahre i8o£» und end-
lidi seine «Reden an die deutsche Nation i8o8».
Bedingungslose Hingabe an die moralische Weltord-
nung, Handeln aus dem tiefsten Kern der ethisdien Na-
turanlage des Menschen heraus: das sind die Forderungen,
durch die das Leben Wert und Bedeutung erhalt. Diese
Ansicht zieht sich als Grundmotiv durch alle diese Reden
und Schriften hindurch. In den «Grundziigen des gegen-
wartigen Zeitalters » warf er diesem Zeitalter in flammen-
den Worten seine Selbstsucht vor. Jeder gehe nur den
Weg, den ihm seine niederen Triebe vorschreiben. Aber
diese Triebe fiihren ab von dem grofien Ganzen, das die
menschliche Gemeinschaft als moralische Harmonie um-
schliefit. Ein solches Zeitalter miisse diejenigen, die in sei-
nem Sinne leben, dem Untergange entgegenfuhren. Die
Pflicht wollte Fichte in den menschlichen Gemiitern be-
leben.
Fichte wollte in solcher Art mit seinen Ideen gestaltend
in das Leben seiner Zeit eingreifen, weil er diese Ideen
kraftvoll durchlebt dachte von dem Bewufitsein, dafi dem
Menschen der hochste Inhalt seines Seelenlebens aus einer
Welt zukommt, welche er erreicht, wenn er mit seinem
«Ich» ganz allein sich auseinandersetzt, und in dieser Aus-
einandersetzung sich in seiner wahren Bestimmung erf iihlt.
Aus solchem Bewufitsein heraus pragt Fichte Worte wie
dieses: «Ich selbst und mein notwendiger Zweck sind das
Obersinnliche.»
Sich im Ubersinnlichen erleben, ist fiir Fichte eine Er-
fahrung, welche der Mensdi machen kann. Madit er sie,
so erlebt er in sich das «Ich». Und erst dadurch wird er
zum Philosopher!. «Beweisen» kann man diese Erfahrung
demjenigen nicht, der sie nicht machen will. Wie wenig
Fichte einen solchen «Beweis» fiir moglich halt, bezeugen
Ausspriiche wie dieser: «Zum Philosophen mufi man ge-
boren sein, dazu erzogen werden, und sich selbst dazu
erziehen; aber man kann durch keine menschlidie Kunst
dazu gemacht werden. Darum verspricht audi diese Wis-
senschaft sich unter den schon gemachten Mannern wenige
Proselyten. ...»
Es kommt Fichte darauf an, eine Seelenverfassung zu
finden, durch welche das menschliche Ich sich erleben kann.
Das Wissen von der Natur erscheint ihm untauglich, von
dem Wesen des Ich etwas zu offenbaren. Vom fiinfzehn-
ten bis zum achtzehnten Jahrhundert traten Denker auf,
denen die Frage sich ergab: Was kann in dem Bilde der
Natur gefunden werden, um innerhalb dieses Bildes das
menschliche Wesen erklarlich zu finden? Goethe empfand
die Frage nicht in dieser Art. Er fiihlte hinter der aufier-
lich offenbaren Natur eine geistige. In der Menschenseele
sind ihm Erlebnisse moglich, durch welche diese Seele nicht
in dem aufterlich Offenbaren allein, sondern innerhalb der
schaffenden Krafte lebt. Goethe suchte die Idee, welche die
Griechen suchten, aber er suchte sie nicht als wahrnehm-
bare Idee, sondern in einem Miterleben der Weltvorgange,
da, wo diese nicht mehr wahrnehmbar sind. Er suchte in
der Seele das Leben der Natur. - Fichte suchte in der Seele
selbst; aber er suchte nicht da, wo in der Seele die Natur
lebt, er suchte ganz unmittelbar da, wo die Seele ihr eige-
nes Leben entziindet fiihlt, gleichgiiltig, an welche sonsti-
gen Weltvorgange und Weltwesen sich dieses Leben an-
schliefit. Mit Fichte ist eine Weltanschauung heraufgezo-
gen, die ganz darinnen aufgeht, em mneres Seelenleben zu
finden, das sich zum Gedankenleben der Griechen verhalt
wie dieses Gedankenleben zum Bildervorstellen der Vor-
zeit. In Fidites Weltanschauung wird der Gedanke zum
Ich-Erlebnis, wie in den griechischen Denkern das Bild
zum Gedanken wurde. Mit Fichte will die Weltanschau-
ung das Selbstbewufitsein erleben; mit Plato und Aristote-
les wollte sie das Seeleribewufitsein denken.
Wie Kant das Wissen entthront hat, um fur den Glau-
ben Platz zu bekommen, so hat Fichte das Erkennen fur
blofie Erscheinung erklart, um fur das lebendige Handeln,
fur die moralische Tat freie Bahn vor sich zu haben. Ein
Ahnliches hat auch Schiller versucht. Nur nahm bei ihm
die Stelle, die bei Kant der Glaube, bei Fichte das Han-
deln beanspruchte, die Schdnheit ein. Die Bedeutung Schil-
ler s fiir die Weltanschauungsentwickelung wird gewohn-
lich unterschatzt. Wie Goethe sich dariiber zu beklagen
hatte, dafi man ihn als Naturforscher nicht gelten lassen
wollte, weil man einmal gewohnt war, ihn als Dichter zu
nehmen, so miissen diejenigen, die sich in Schillers philo-
sophische Ideen vertiefen, bedauern, da& er von denen, die
sich mit Weltanschauungsgeschichten befassen, so wenig
gewiirdigt wird, weil ihm sein Feld im Reiche der Dich-
tung angewiesen ist.
Als eine durchaus selbstandige Denkerpersonlichkeit
stellt sich Schiller seinem Anreger Kant gegeniiber. Die
Hoheit des moralischen Glaubens, zu der Kant den Men-
schen zu erheben suchte, schatzte der Dichter, der in den
«Raubern» und in «KabaIe und Liebe» seiner Zeit einen
Spiegel ihrer Verderbtheit vorgehalten hat, wahrlich nidit
gering. Aber er sagte sidi: Sollte es durdiaus notwendig
sein, dafi der Mensch nur im Kampfe gegen seine Nei-
gung, gegen seine Begierden und Triebe sich zu der Hbhe
des kategoriscben Imperativs emporheben kann? Kant
wollte ja der sinnlidien Natur des Menschen nur den Hang
zum Niederen, zum Selbstsuchtigen, zum Sinnlich-Ange-
nehmen beilegen; und nur, wer sich emporschwingt iiber
diese sinnliche Natur, wer sie ertdtet und die rein geistige
Stimme der Pflicht in sich sprechen lafit: der kann tugend-
haf t sein. So hat Kant den natiirlichen Menschen erniedrigt,
um den moralischen um so hoher heben zu konnen. Schil-
ler schien darin etwas des Menschen Unwiirdiges zu liegen.
Soli ten denn die Triebe des Menschen nicht so veredelt
werden konnen, dafi sie aus sich selbst heraus das Pflicht-
mafiige, das Sittliche tun? Dann brauchten sie, um sittlich
zu wirken, nicht unterdriickt zu werden. Schiller stellte
deshalb der strengen Kantschen Pflichtforderung seine An-
sicht in dem folgenden Epigramm gegenuber:
Gewissensskmpel.
Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit
Neigung,
Und so wurmt es mir oft, dafi ich nicht tugendhaft bin.
Entscheidung.
Da ist kein anderer Rat, du mufit suchen, sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.
Schiller suchte diese «Gewissensskrupel» auf seine Art
zu losen. Zwei Triebe walten tatsachlich im Menschen: der
sinnliche Trieb und der Vernunftstrieb. Oberlafit sich der
Mensch dem sinnlichen Trieb, so ist er ein Spielball seiner
Begierden und Leidenschaften, kurz seiner Selbstsucht.
Gibt er sich ganz dem Vernunftstrieb hin, so ist er ein
Sklave seiner strengen Gebote, seiner unerbittlichen Lo-
gik, seines kategorischen Imperativs. Ein Mensch, der blofi
dem sinnlichen Triebe leben will, muft die Vernunft in
sich zum Schweigen bringen; ein soldier, der nur der Ver-
nunft dienen will, mufi die Sinnlichkeit ertdten. Hort der
erstere doch die Vernunft, so unterwirft er sich ihr nur
unfreiwillig; vernimmt der letztere die Stimme seiner Be-
gierden, so empfindet er sie als Last auf seinem Tugend-
wege. Die physische und die geistige Natur des Menschen
scheinen also in einem verhangnisvollen Zwiespalt zu le-
ben. Gibt es nicht einen Zustand im Menschen, in dem
beide Triebe, der sinnliche und der geistige, in Harmonie
stehen? Schiller beantwortet die Frage mit « Ja». Es ist der
Zustand, in dem das Schdne geschaffen und genossen wird.
Wer ein Kunstwerk schafFt, der folgt einem freien Natur-
trieb. Er tut es aus Neigung. Aber es sind keine physischen
Leidenschaften, die ihn antreiben; es ist die Phantasie, der
Geist. Ebenso ist es mit demjenigen, der sich dem Genusse
eines Kunstwerkes hingibt. Es befriedigt seinen Geist zu-
gleich, indem es auf seine Sinnlichkeit wirkt. Seinen Be-
gierden kann der Mensch nachgehen, ohne die hoheren Ge-
setze des Geistes zu beachten; seine Pflicht kann er erfiil-
len, ohne sich um die Sinnlichkeit zu kummern; ein scho-
nes Kunstwerk wirkt auf sein Wohlgefallen, ohne seine
Begierde zu erwecken; und es versetzt ihn in eine geistige
Welt, in der er aus Neigung verweilt. In diesem Zustande
ist der Mensch wie das Kind, das bei seinen Handlungen
seiner Neigung folgt und nicht fragt, ob diese den Ver-
nunftgesetzen widerstrebt: «Durch die Schonheit wird der
sinnliche Mensch . . . zum Denken geleitet; durch die Schon-
heit wird der geistige Mensch zur Materie zurikkgefiihrt
und der Sinnenwelt wiedergegeben.» (18. Brief iiber die
asthetische Erziehung des Mensdien.) «Die hohe Gleich-
miitigkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und Riistig-
keit verbunden, ist die Stimmung, in der uns ein echtes
Kunstwerk entlassen soil, und es gibt keinen sichereren
Probierstein der wahren asthetischen Giite. Finden wir uns
nach einem Genufi dieser Art zu irgendeiner besonderen
Empfindungsweise oder Handlungsweise vorzugsweise auf-
gelegt, zu einer anderen hingegen ungeschickt und verdros-
sen, so dient dies zu einem untruglichen Beweise, dafi wir
keine rein asthetische Wirkung erfahren haben, es sei nun,
dafi es an dem Gegenstand oder an unserer Empfindungs-
weise oder (wie fast immer der Fall ist) an beiden zugleidi
gelegen habe.» (22. Brief.) Weil der Mensch durch die
Schonheit weder ein Sklave der Sinnlichkeit ist noch der
Vernunft, sondern durch sie beide zusammen in seiner
Seele wirken, vergleicht Schiller den Trieb zur Schonheit
demjenigen des Kindes, das in seinem Spiel seinen Geist
nicht Vernunftgesetzen unterwirft, sondern ihn frei seiner
Neigung nach gebraucht. Deshalb nennt er diesen Trieb
zur Schonheit Spieltrieb: «Mit dem Angenehmen, mit dem
Guten, mit dem Vollkommenen ist es dem Mensdien nur
Ernst; aber mit der Schonheit spielt er. Freilich diirfen wir
uns hier nicht an die Spiele erinnern, die in dem wirklichen
Leben im Gange sind und die sich gewohnlich nur auf sehr
materielle Gegenstande richten; aber in dem wirklichen
Leben wiirden wir auch die Schonheit vergebens suchen,
von der hier die Rede ist. Die wirklich vorhandene Schon-
heit ist des wirklich vorhandenen Spieltriebs wert; aber
durch das Ideal der Schonheit, welches die Vernunft auf-
stellt, ist auch ein Ideal des Spieltriebs aufgegeben, das der
Mensch in alien seinen Spielen vor Augen haben soll,» (15.
Brief.) In der Erfullung dieses idealen Spieltriebs fmdet
der Mensch die Wirklichkeit der Freiheit. Er gehorcht nun
nicht mehr der Vernunft; und er folgt nicht mehr der sinn-
Hchen Neigung. Er handelt aus Neigung so, wie wenn er
aus Vernunft handelte. «Der Mensch soil mit der Schon-
heit nur spielen, und er soli nur mit der Schdnheit spie-
len . . . Denn, um es endlich . . . herauszusagen, der Mensch
spielt nur, wo er in voller Bedeutung des "Wortes Mensch
ist, und er ist nur da gam Mensch, wo er spielt. » Schiller
hatte auch sagen konnen: Im Spiel ist der Mensch frei; in
der Erfiillung der Pflicht und in der Hingabe an die Sinn-
lichkeit ist er unfrei. Will der Mensch nun auch in seinem
moralischen Handeln in voller Bedeutung des Wortes
Mensch sein, das heiftt, will er frei sein, so muft er zu sei-
nen Tugenden dasselbe Verhaltnis haben wie zur Schdn-
heit. Er mu£ seine Neigungen zu Tugenden veredeln; und
er muft sich mit seinen Tugenden so durchdringen, daft er,
seiner ganzen Wesenheit nach, gar keinen anderen Trieb
hat, als ihnen zu folgen. Ein Mensch, der diesen Einklang
zwischen Neigung und Pflicht hergestellt hat, kann in je-
dem Augenblick auf die Giite seiner Handlungen wie auf
etwas Selbstverstandhches rechnen.
Man kann von diesem Gesichtspunkte aus auch das ge-
sellschaftliche Zusammenleben der Menschen betrachten.
Der Mensch, der seinen sinnlichen Trieben folgt, ist selbst-
siichtig* Er ginge stets nur seinem eigenen Wohlsein nach,
wenn nicht der Staat das Zusammensein durch Vernunft-
gesetze regelte. Der freie Mensch vollbringt aus eigenem
Antriebe, was der Staat von dem selbstsiichtigen Menschen
fordern muE, In einem Zusammensein von freien Men-
schen bedarf es keiner Zwangsgesetze. «Mitten in dem
furchtbaren Reich der Krafte und mitten in dem heiligen
Reidi der Gesetze baut der asthetische Bildungstrieb un-
vermerkt an einem dritten, frohlichen Reiche des Spiels
und des Sdieins, worin er dem Menschen die Fesseln aller
Verhaltnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang
heifit, sowohl im Physischen als im Moralischen entbin-
det.» (27. Brief.) «Dieses Reich erstreckt sich aufwarts, bis
wo die Vernunft mit unbedingter Notwendigkeit herrscht
und alle Materie aufhort; es erstreckt sich niederwarts, bis
wo der Naturtrieb mit blinder Notigung waltet.» So be-
trachtet Schiller ein moralisches Reich als Ideal, in dem
die tugendhafte Gesinnung mit derselben Leichtigkeit und
Freiheit waltet wie der Geschmack im Reiche des Schonen.
Er macht das Leben im Reiche des Schonen zum Muster
einer vollkommenen, den Menschen in jeder Richtung be-
freienden sittlichen gesellschaftlichen Ordnung. Er schliefit
die schone Abhandlung, in der er dieses sein Ideal dar-
stellt, mit der Frage, ob eine solche Ordnung irgendwo
existiere, und beantwortet sie damit: «Dem Bedurfnis
nach existiert (sie) in jeder feingestimmten Seele; in der
Tat mochte man sie wohl nur wie die reine Kirche und die
reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln
finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sit-
ten, sondern eigene schone Natur das Betragen lenkt, wo
der Mensch durch die verwickeltsten Verhaltnisse mit kiih-
ner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder notig
hat, fremde Freiheit zu kranken, um die seinige zu be-
haupten, noch seine Wiirde wegzuwerfen, um Anmut zu
zeigen.»
In dieser zur Schonheit veredelten Tugendhaftigkeit hat
Schiller eine Vermittelung zwischen der Weltanschauung
Kants und derjenigen Goethes gefunden. Wie grofi auch
der Zauber war, den Kant auf Schiller ausiibte, als dieser
selbst das Ideal des reinen Menschentums gegeniiber der
wirklich herrschenden moralischen Ordnung verteidigte:
Schiller wurde, als er Goethe naher kennen lernte, ein Be-
wunderer von dessen Welt- und Lebensbetrachtung, und
sein stets nach reinster Gedankenklarheit drangender Sinn
lieft ihn nicht eher Ruhe hnden, bis es ihm gelungen war,
diese Goethesche Weisheit audi begrifflich zu durchdrin-
gen. Die hohe Befriedigung, die Goethe aus seinen An-
schauungen iiber Schonheit und Kunst auch fur seine Le-
bensfiihrung zog, ftihrte Schiller mehr und mehr zu der
Vorstellungsart des ersteren hiniiber. Als er Goethe fiir
Ubersendung des «Wilhelm Meister» dankt, tut er dies
mit den Worten: «Ich kann Ihnen nicht ausdrucken, wie
peinlich mir das Gefuhl oft 1st, von einem Produkt dieser
Art in das philosophische Wesen hineinzusehen. Dort ist
alles so heiter, so lebendig, so harmonisch aufgelost und
so menschlich wahr; hier alles so strenge, so rigid und
abstrakt, und so hochst unnatiirlich, weil alle Natur nur
Synthesis und alle Philosophic Antithesis ist. Zwar darf
ich mir das Zeugnis geben, in meinen Spekulationen der
Natur so treu geblieben zu sein, als sich mit dem Begriff
der Analysis vertragt; ja vielleicht bin ich ihr treuer ge-
blieben als unsere Kantianer fiir erlaubt und ftir moglicb
hielten. Aber dennoch fiihle ich nicht weniger lebhaft den
unendlichen Abstand zwischen dem Leben und dem Ra-
sonnement - und kann mich nicht enthalten, in einem sol-
chen melancholischen Augenblicke fiir einen Mangel in
meiner Natur auszulegen, was ich in einer heiteren Stunde
bloft fiir eine natiirliche Eigenschaft der Sache ansehen
muE. So viel ist indes gewi$, der Dichter ist der einzig
wabre Mensch, und der beste Philosoph ist nur eine Kari-
katur gegen ihn.» Dieses Urteil Schiller s kann sich nur auf
die Kantsche Philosophic beziehen, an der Schiller seine
Erfahrungen gemacht hat. Sie entfernt den Menschen in
vieler Beziehung von der Natur. Sie bringt dieser keinen
Glauben entgegen, sondern lafit als gultige Wahrheit nur
gelten, was aus der eigenen geistigen Organisation des
Menschen genommen ist. Dadurch entbehren alle ihre Ur-
teile jener frischen, inhaltvollen Farbigkeit, die alles hat,
was wir durch unmittelbare Anschauung der natiirlichen
Vorgange und Dinge selbst gewinnen. Sie bewegt sich in
blutleeren, grauen, kalten Abstraktionen. Sie gibt die
Warme hin, die wir aus der unmittelbaren Beriihrung mit
den Dingen und Wesen gewinnen und tauscht dafiir die
Kalte ihrer abstrakten Begriffe ein. Und auch im Morali-
schen zeigt die Kantsche Weltanschauung dieselbe Gegen-
satzlichkeit gegen die Natur. Der rein vernunftige Pflicht-
begriff schwebt ihr als Hochstes vor. Was der Mensch liebt,
wozu er Neigung hat: alles das Unmittelbar-Naturliche
im Menschenwesen mufi diesem Pflichtideal untergeordnet
werden. Sogar bis in die Region des Schonen hinein ver-
tilgt Kant den Anteil, den der Mensch seinen ursp rung-
lichen Empfindungen und Gefiihlen nach haben mufi. Das
Schone soil ein vollig «interesseloses» Wohlgef alien her-
vorrufen. Horen wir, wie hingebend, wie «interessiert»
Schiller dem Werke, an dem er die hochste Stuf e des Kiinst-
lerischen bewundert, gegeniibersteht. Er sagt iiber «Wil-
helm Meister»: «Ich kann das Gefiihl, das mich beim Le-
sen dieser Schrift, und zwar im zunehmenden Grade, je
weiter ich darin komme, durchdringt und besitzt, nicht bes-
ser als durch eine siifte und innige Behaglichkeit, durch ein
Gefiihl geistiger und leiblicher Gesundheit ausdriicken,
und ich wollte dafiir biirgen, da£ es dasselbe bei alien
Lesern im ganzen sein mufi. - Ich erklare mir dieses Wohi-
sein von der durchgangig darin herrsdienden ruhigen Klar-
heit, Glatte und Durchsichtigkeit, die audi nicht das ge-
ringste zuriicklaftt, was das Gemiit unbefriedigt und un-
ruhig lafit, und die Bewegung desselben nicht weiter treibt
als notig ist, um ein frohliches Leben in dem Mensdien
anzufachen und zu erhalten.» So spricht nicht jemand, der
an das interesselose Wohlgefallen glaubt, sondern einer,
der die Lust an dem Schonen einer solchen Veredelung fur
fahig halt, daft es keine Erniedrigung bedeutet, sich dieser
Lust vollig hinzugeben. Das Interesse soil nicht erloschen,
wenn wir dem Kunstwerk gegeniiberstehen; wir sollen
vielmehr imstande sein, unser Interesse audi dem ent-
gegenbringen zu konnen, was Ausflufi des Geistes ist. Und
diese Art des Interesses fur das Schone soil der «wahre»
Mensch audi den moralischen Vorstellungen gegeniiber
haben. In einem Brief e an Goethe schreibt Schiller: «Es ist
wirklidi der Bemerkung wert, dafi die Schlaffheit uber
asthetisdie Dinge immer sich mit der moralischen Schlaff-
heit verbunden zeigt, und dafi das reine strenge Streben
nach dem hohen Schonen, bei der hochsten Liberalitat ge-
gen alles, was Natur ist, den Rigorism im Moralischen bei
sich fiihren wird.»
Die Entfremdung von der Natur empfand Schiller in
der Weltanschauung, in der ganzen Zeitkultur, innerhalb
derer er lebte, so stark, daft er sie zum Gegenstande einer
Betrachtung in dem Aufsatze «t)ber naive und sentimen-
talische Dichtung» machte. Er vergleicht die Lebensansicht
seiner Zeit mit derjenigen der Griechen und fragt sich:
«Wie kommt es, daft wir, die in allem, was Natur ist, von
den Alten so unendlich weit ubertroffen werden, . . . der
Natur in einem hoheren Grade huldigen, mit Innigkeit
an ihr hangen und selbst die leblose Welt mit der warm-
sten Empfindung umfassen konnen?» Und er beantwortet
diese Frage: «Daher kommt es, weil die Natur bei uns aus
der Menschheit verschwunden ist und wir sie nur aufter-
halb dieser in der unbeseelten Welt, in ihrer Wahrheit
wieder antreffen. Nicht unsere groftere Naturmafiigkeit,
ganz im Gegenteil die Naturwidrigkeit unserer Verhalt-
nisse, Zustande und Sitten treibt uns an, dem erwachen-
den Triebe nach Wahrheit und Simplizitat, der, wie die
moralisdie Anlage, aus welcher er fliefiet, unbestechlich
und unaustilgbar in alien menschlichen Herzen liegt, in
der physischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen, die
in der moralischen nicht zu hoffen ist. Deswegen ist das
Gefuhl, womit wir an der Natur hangen, dem Gefuhle so
nahe verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kind-
heit und der kindlichen Unschuld beklagen. Unsere Kind-
heit ist die einzige unverstiimmelte Natur, die wir in der
kultivierten Menschheit noch antreffen, daher es kein
Wunder ist, wenn uns jede Fufitapfe der Natur aufier uns
auf unsere Kindheit zuriickfuhrt.» Das war nun bei den
Griechen ganz anders. Sie lebten ein Leben innerhalb des
Natiirlichen. Alles, was sie taten, kam aus ihrem natiir-
lichen Vorstellen, Fiihlen und Empfmden heraus. Sie wa-
ren innig verbunden mit der Natur. Der moderne Mensch
fiihlt in seinem Wesen einen Gegensatz zur Natur. Da
aber der Drang nach dieser Urmutter des Daseins doch
nicht ausgetilgt werden kann, so wird er sich in der mo-
dernen Seele in eine Sehnsucht nach der Natur, in ein Su-
chen derselben verwandeln. Der Grieche hatte Natur; der
Moderne sucht Natur. «Solange der Mensch noch reine,
es versteht sich nicht rohe, Natur ist, wirkt er als unge-
teilte sinnliche Einheit und als ein harmonierendes Ganzes.
Sinne und Vernunft, empfangendes und selbsttatiges Ver-
mogen, haben sich in ihrem Geschafte nodi nicht getrennt,
viel weniger stehen sie im Widerspruch miteinander. Seine
Empfindungen sind nicht das formlose Spiel des Zufalls,
seine Gedanken nicht das gehaltlose Spiel der Vorstel-
lungskraft; aus dem Gesetz der Notwendigkeit gehen jene,
aus der Wirklichkeit gehen diese hervor. 1st der Mensch
in den Stand der Kultur getreten und hat die Kunst ihre
Hand an ihn gelegt, so ist jene sinnlicbe Harmonie in ihm
aufgehoben, und er kann nur noch als moralische Einheit,
das heilk als nach Einheit strebend sich aufiern. Die Ober-
einstirnmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die
in dem ersten Zustande wirklicb stattfand, existiert jetzt
bloiS idealisch; sie ist nicht mehr in ihm, sondern aufier
ihm, als ein Gedanke, der erst realisiert werden soli, nicht
mehr als Tatsache seines Lebens.» Die Grundstimmung des
griechischen Geistes war naiv } die des modernen ist senti-
mentalise!?; die Weltanschauung des ersten durfte daher
realistisch sein. Denn er hatte das Geistige von dem Natiir-
lichen noch nicht getrennt; die Natur schlofi fur ihn den
Geist noch mit ein. OberlieJS er sich der Natur, so geschah
es der geisterfiillten Natur gegenviber. Anders der Mo-
derne. Er hat den Geist von der Natur losgelost, in das
graue Reich der Abstraktion erhoben. Gabe er sich seiner
Natur hin, so tate er es der geistentblofiten Natur gegen-
iiber. Deshalb mufi sein hochstes Streben dem Ideal zuge-
wandt sein; durch das Streben nach diesem wird er Geist
und Natur wieder versohnen. In Goethes Geistesart fand
nun Schiller etwas der griechischen Art Verwandtes. Goethe
glaubte, seine Ideen und Gedanken mit Augen zu sehen,
weil er die Wirklichkeit als ungetrennte Einheit von Geist
und Natur empfand. Er hatte sich nach Schillers Meinung
etwas erhalten, zu dem der sentimentalische Mensdi erst
wieder kommt, wenn er den Gipfel seines Strebens erreicht.
Und einen solchen Gipfel erklimmt er eben in dem von
Schiller beschriebenen asthetischen Zustand, in dem Sinn-
lichkeit und Vernunft ihren Einklang gefunden haben.
Mit dem Aussprudie, den Schiller Goethe gegenuber in
seinem Brief e am 23. August 1794 tut, ist das Wesen der
neueren Weltanschauungsentwickelung bedeutungsvoll ge-
kennzeichnet: «Waren Sie als ein Grieche . . . geboren wor-
den und hatte schon von der Wiege an eine auserlesene
Natur und eine idealisierende Kunst Sie umgeben, so ware
Ihr Weg unendlich verkiirzt, vielleicht ganz uberflussig
gemacht worden. Schon in die erste Anschauung der Dinge
hatten Sie dann die Form des Notwendigen aufgenom-
men, und mit Ihren ersten Erfahrungen hatte sich der
grofie Stil in Ihnen entwickelt. Nun ... da Ihr griechischer
Geist in diese nordische Schopfung geworfen wurde, so
blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder selbst zum
nordischen Kiinstler zu werden oder Ihrer Imagination
das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhilfe
der Denkkraft zu ersetzen, imd so gleichsam von innen
heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland
zu gebaren.» - Schiller empfindet - das offenbaren diese
Satze - den Gang der Entwickelung des Seelenlebens von
der griechischen Zeit bis in die seinige. Im Gedanken-
leben enthiillte sich fur den Griechen das Seelenleben; und
er konnte diese Enthiillung hinnehmen, denn der Gedanke
war fiir ihn eine "Wahrnehmung, wie Farben oder Tone
es sind. Dieser Gedanke ist fiir den neueren Menschen ver-
blafit; von ihm mufi im Innern der Seele erlebt werden,
was schaffend die "Welt durchwebt; und damit das un-
wahrnehmbare Gedankenleben doch Anschaulichkeit hat,
mufi es von der Imagination erfiillt werden. Von einer
solchen Imagination, welche sich eins fiihlt mit den schaf-
f enden Machten der Natur.
Weil in dem modernen Mensdien das Seelenbewujltsein
sidi in Selbstbewufitsein gewandelt hat, entsteht die Frage
der Weltanschauung: Wie erlebt das Selbstbewufitsein sich
lebendig so, dafi sein Erleben in dem Schaffen der leben-
digen Weltenkrafte sidi darinnen weifi? Schiller hat diese
Frage in seiner Art beantwortet, indem er das Leben im
kiinstlerischen Empfinden als Ideal fur sich in Anspruch
nahm. In diesem Empfinden fiihlt das menschliche Selbst-
bewufitsein seine Verwandtschaft mit dem, was iiber das
blofie Naturbild hinausliegt. In ihm fiihlt der Mensch sich
vom Geiste erf a fit, indem er als Natur- und Sinnenwesen
sich an die Welt hingibt. - Leibniz sucht die Menschenseele
als Monade zu begreifen; Fichte geht nicht von einer blo-
fien Idee aus, durch welche klar werden sollte, was die
Menschenseele ist; er sucht ein Erleben, in dem diese Seele
sich in ihrem Wesen ergreift; Schiller fragt: Gibt es ein Er-
leben der Menschenseele, in dem sie fiihlen kann, wie sie
in dem Geistig-Wirklichen wurzelt? Goethe erlebt in sich
Ideen, die zugleich Naturideen fur ihn darstellen. - In
Goethe, Fichte, Schiller ringt sich die erlebte Idee, man
konnte auch sagen: das ideelle Erlebnis in die Seele her-
ein; im Griechentum vollzog sich dies mit der wahrge-
nommenen Idee, der ideellen Wahrnehmung.
Die Welt- und Lebensanschauung, die in Goethe auf
naive Weise vorhanden war, und nach der Schiller auf
alien Umwegen des Denkens strebte, hat nicht das Bedurf-
nis nach jener allgemein giiltigen Wahrheit, die in der
Mathematik ihr Ideal erblickt; sie ist befriedigt von der
anderen Wahrheit, die unserem Geiste sich aus dem unmit-
telbaren Verkehre mit der wirklichen Welt ergibt. Die Er-
kenntnisse, die Goethe aus der Betrachtung der Kunst-
werke in Italien schopfte, waren gewifi nicht von jener
unbedingten Sidierheit wie die Satze der Mathematik. Da-
fiir waren sie audi weniger abstrakt. Aber Goethe stand
vor ihnen mit der Empfindung «Da ist Notwendigkeit, da
ist Gott». Eine Wahrheit in dem Sinne, dafi -sie etwas an-
deres sei, als dasjenige, was sich audi in dem vollkomme-
nen Kunstwerk offenbart, war fiir Goethe nicht vorhan-
den. Was die Kunst mit ihren technisdien Mitteln: Ton,
Marmor, Farbe, Rhythmus usw. verkorpert, das ist dem-
selben Wahrheitsquell entnommen, aus dem audi der Phi-
losoph schopft, der allerdings nicht die unmittelbar an-
schaulichen Mittel der Darstellung hat, sondern dem ein-
zig und allein der Gedanke, die Idee selbst, zur Verfugung
steht, «Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und
sucht sie durchs Bild zu losen. Pbilosopbie deutet auf die
Geheimnisse der Vernunft und sucht sie durchs Wort zu
losen», sagt Goethe. Aber die Vernunft und die Natur
sind ihm zuletzt eine untrennbare Einheit, denen dieselbe
Wahrheit zugrunde liegt. Ein Erkenntnisstreben, das, von
den Dingen losgelost, in einer abstrakten Welt lebt, gilt
ihm nicht als das Hochste. «Das Hochste ware, zu begrei-
fen, dafi alles Faktische schon Theorie ist.» Die Blaue des
Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Farbenersdiei-
nungen. «Man suche nur nichts hinter den Phanomenen;
sie selbst sind die Lehre.» Der Psychologe Heinroth be-
zeichnete in seiner Anthropologic das Denken, durch das
Goethe zu seinen Einsiditen in die naturgemafie Bildung
der Pflanzen und Tiere gelangte, als «gegenstandliches
Denken». Er meinte damit, dalS sich dieses Denken von
den Gegenstanden nicht sondere; dafi die Gegenstande, die
Anschauungen in inniger Durchdringung mit dem Denken
stehen, dafi Goethes Denken zugleich ein Ansdiauen, sein
Anschauen zugleich ein Denken sei. Schiller ist ein f einer
Beobachter und Schilderer dieser Geistesart geworden. Er
schreibt iiber sie in einem Brief e an Goethe: «Ihr beobach-
tender Blick, der so still und rein auf den Dingen ruht,
setzt Sie nie in Gefahr, auf den Abweg zu geraten, in den
sowohl die Spekulation als die willkurliche und blofi sich
selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt.
In Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollstan-
diger, was die Analysis miihsam sucht, und nur, weil es
als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reich-
turn verborgen; denn leider wissen wir nur das, was wir
scheiden. Geister Ihrer Art wissen daher selten, wie weit
sie gedrungen sind, und wie wenig Ursache sie haben, von
der Philosophic zu borgen, die nur von ihnen lernenkann.»
Fur die Goethesche und Schillersche Weltanschauung ist
Wahrheit nicht blofi innerhalb der Wissenschaft vorhan-
den, sondern auch innerhalb der Kunst. Goethes Meinung
ist diese: «Ich denke, Wissenschaft konnte man die Kennt-
nis des Allgemeinen nennen, das abgezogene Wissen; Kunst
dagegen ware Wissenschaft zur Tat verwendet; Wissen-
schaft ware Vernunft, und Kunst ihr Mechanismus, des-
halb man sie auch praktische Wissenschaft nennen konnte.
Und so ware denn endlich Wissenschaft das Theorem,
Kunst das Problem. » Die Wechselwirkung des wissen-
schaftlichen Erkennens und des kiinstlerischen Gestaltens
der Erkenntnis schildert Goethe: «Es ist offenbar, daS ein
. . . Kiinstler nur desto grower und entschiedener werden
mufi, wenn er zu seinem Talente noch ein unterrichteter
Botaniker ist, wenn er von der Wurzel an den Einflufl der
verschiedenen Teile auf das Gedeihen und das Wachstum
der Pflanze, ihre Bestimmung und wechselseitigen Wir-
kungen erkennt, wenn er die sukzessive Entwickelung der
Blatter, Blumen, Befruchtung, Frucht und des neuen Kei-
mes einsieht und iiberdenkt. Er wird alsdann nidit blo£
durch die Wahl aus den Erscheinungen seinen Geschmack
zeigen, sondern er wird uns audi durch eine richtige Dar-
stellung der Eigenschaften zugleich in Verwunderung set-
zen.» So waltet im kiinstlerischen Erzeugen die Wahrheit,
denn der Kunststil ruht nach dieser AufFassung auf «den
tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der
Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greif-
lichen Gestalten zu erkennen». Eine Folge dieser Ansicht
iiber die Wahrheit und ihre Erkenntnis ist, daft man der
Phantasie ihren Anteil beim Zustandekommen des Wis-
sens zugestand und nicht blofi in dem abstrakten Verstand
das einzige Erkenntnisvermogen sah. Die Vorstellungen,
die Goethe seinen Betrachtungen iiber Pflanzen- und Tier-
bildung zugrunde legte, waren nicht graue, abstrakte Ge-
danken, sondern aus der Phantasie heraus erzeugte sinn-
lich-iibersinnliche Bilder. Nur das Beobachten mit Phan-
tasie kann wirklich in das "Wesen der Dinge fiihren, nicht
die blutleere Abstraktion: dies ist Goethes Uberzeugung.
Deshalb hebt er an Galilei hervor, da£ dieser beobachtete
als Genie, dem «em Fall fiir tausend gilt», indem «er sich
aus schwingenden Kirchenlampen die Lehre des Pendels
und des Falles der Korper entwickelte». Die Phantasie
schafFt an dem einen Falle ein inhaltvolles Bild des ¥e-
sentlichen in den Erscheinungen; der abstrahierende Ver-
stand kann nur aus der Kombination, Vergleichung und
Berechnung der Erscheinungen eine allgemeine Regel ihres
Verlaufes gewinnen. Dieser Glaube Goethes an die Er-
kenntnisfahigkeit der Phantasie, die sich zu einem Mit-
erleben der schaflFenden Weltkrafte erhebt, ruht auf seiner
ganzen Weltauffassung. Wer wie er das Naturwirken in
allem sieht, der kann in dem geistigen Inhalt der mensch-
lidien Phantasie audi nichts sehen als hohere Naturpro-
dukte. Die Phantasiebilder sind Naturprodukte; und da
sie die Natur wiedergeben, konnen sie nur die Wahrheit
enthalten, denn sonst wiirde die Natur sich selbst mit die-
sen Abbildern belugen, die sie von sich schafft. Nur Men-
schen mit Phantasie konnen die hochste Stufe des Erken-
nens erreichen. Sie nennt Goethe die «Umfassenden» und
«Anschauenden» im Gegensatz zu den blofi «Wifibegieri-
gen», die auf einer niedrigeren Erkenntnisstufe stehen blei-
ben. «Die Wifibegierigen bediirfen eines ruhigen, uneigen-
niitzigen Blickes, einer neugierigen Unruhe, eines klaren
Verstandes . . .; sie verarbeiten audi nur im wissenschaft-
lichen Sinne dasjenige, was sie vorfinden.» «Die Anschau-
enden verhalten sich schon produktiv, und das "Wissen,
indem es sich selbst steigert, fordert, ohne es zu bemer-
ken, das Anschauen und geht dahin iiber; und so sehr sich
audi die Wissenden vor der Imagination kreuzigen und
segnen, so miissen sie doch, ehe sie sichs versehen, die pro-
duktive Einbildungskraft zu Hilfe rufen . . . Die Umf as-
senden, die man in einem stolzeren Sinne die ErschafFen-
den nennen konnte, verhalten sich im hochsten Grade pro-
duktiv; indem sie namlich von Ideen ausgehen, sprechen
sie die Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewisser-
mafien nachher die Sadie der Natur, sich in diese Idee zu
fiigen.» Wer an eine solche Erkenntnisart glaubt, dem
kann es nicht beikommen, iiber die Eingeschranktheit der
menschlichen Erkenntnis in Kantscher Weise zu sprechen.
Denn das, wessen der Mensch als seine Wahrheit bedarf ,
das erlebt er in seinem Innern. Der Kern der Natur liegt
im Innern des Mensdien. Die Weltanschauung Goethes
und Schillers verlangt gar nicht von der Wahrheit, daft
sie eine Wiederholung der Welterscheinungen in der Vor-
stellung sei, daft also die letztere im wortlichen Sinne mit
etwas aufier dem Mensdien Ubereinstimme, Das, was im
Menschen erscheint, ist als solches, als Ideelles, als geisti-
ges Sein, in keiner Aufienwelt vorhanden; aber es ist das-
jenige, was als Gipfel alles Werdens zuletzt erscheint.
Deshalb braucht fiir diese Weltanschauung die Wahrheit
nicht alien Menschen in der gleichen Gestalt zu erscheinen.
Sie kann in jedem einzelnen ein individuelles Geprage tra-
gen. Wer die Wahrheit in der Obereinstimmung mit einem
Aufteren sucht, fiir den gibt es nur eine Form derselben,
und er wird mit Kant nach derjenigen «Metaphysik» su-
chen, die allein «als Wissenschaft wird auftreten konnen».
Wer in der Wahrheit die hochste Frucht alles Daseins
sieht, dasjenige, in dem das «Weltall, wenn es sich selbst
empfinden konnte, als an sein 2iel gelangt, auf jauchzen
und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewun-
dern» wiirde (Goethe, in seinem Aufsatz iiber Winkel-
mann), der kann mit Goethe sagen: «Kenne ich mein Ver-
haltnis zu mir selbst und zur Aufienwelt, so heifi ich's
Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit ha-
ben, und es ist doch immer dieselbige.» Nicht in dem, was
uns die Auftenwelt liefert, liegt das Wesen des Seins, son-
dern in dem, was der Mensch in sich erzeugt, ohne daft
es schon in der Aufienwelt vorhanden ist. Goethe wendet
sich daher gegen diejenigen, die durch Instrumente und
objektive Versuche in das sogenannte «Innere der Nature
dringen wollen, denn «der Mensch an sich selbst, insofern
er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der grofite und
genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und
das ist eben das groftte Unheil der neueren Physik, daft
man die Experimente gleichsam vom Menschen abgeson-
dert hat, und blofi in dem, was kunstliche Instrumente
zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, da-
durch beschranken und beweisen will.» Dafiir «steht ja
aber der Mensch so hoch, daft sich das sonst Undarstell-
bare in ihm darstellt. "Was ist denn eine Saite und alle
medianisdie Teilung derselben gegen das Ohr des Musi-
kers? Ja, man kann sagen, was sind die elementaren Er-
scheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie
alle erst bandigen und modifizieren muft, um sie sich eini-
germaften assimilieren zu konnen.»
Goethe spricht seinem Weltbilde gegeniiber weder von
einem bloften begrifflichen Erkennen, noch von einem
Glauben, sondern von einem Schauen im Geiste. An Ja-
cobi schreibt er: «Du haltst aufs Glauben an Gott; ich
aufs Schauen.» Dieses Schauen im Geiste tritt so, wie es
hier gemeint ist, in die Weltanschauungsentwickelung ein
als diejenige Seelenkraf t, welche einem Zeitalter entspricht,
dem der Gedanke nicht mehr das ist, was er dem griechi-
schen Denker war; dem er vielmehr als ein Erzeugnis des
Selbstbewufttseins sich zu erkennen gibt; aber als ein sol-
ches, welches dadurch gewonnen wird, daft sich dieses
Selbstbewufttsein innerhalb der geistig in der Natur schaf-
fenden Machte weifi. Goethe ist der Reprasentant einer
Weltanschauungsepoche, welche sich gedrangt fiihlt, vom
bloften Denken zum Schauen uberzugehen. Schiller be-
miiht sich, diesen Ubergang Kant gegeniiber zu recht-
fertigen.
Der innige Bund, der durch Goethe, Schiller und ihre
Zeitgenossen zwischen Dichtung und Weltanschauung ge-
schlossen wurde, hat der letzteren im Anfange unseres
Jahrhunderts das leblose Geprage genommen, in das sie
kommen mufi, wenn sie sich allein in der Region des ab-
strahierenden Verstandes bewegt. Dieser Bund hat als sein
Ergebnis den Glauben gezeitigt, dafi es ein personliches,
ein individuelles Element in der Weltanschauung gibt.
Dem Menschen ist moglich, sich sein Verhaltnis zur Welt
seiner Eigenart gemaft zu schaffen, und doch in die Wirk-
Hchkeit, nicht in eine blofi phantastische Schemenwelt un-
terzutauchen. Sein Ideal braucht nicht das Kantsche, eine
ein fiir allemal abgeschlossene theoretische Anschauung
nach dem Muster der Mathematik, zu sein. Nur aus der
geistigen Atmosphare einer solchen, die menschliche Indi-
vidualist erhebenden Oberzeugung kann eine Vorstellung
wie diejenige Jean Pauls (1763 — 1825) geboren werden:
«Das Herz des Genies, welchem alle anderen Glanz- und
Hilfskrafte nur dienen, hat und gibt ein echtes Kennzei-
chen, namlich neue Welt- und Lebensanschauung.» Wie
konnte es das Kennzeichen des hochst entwickelten Men-
schen, des Genies, sein, eine neue Welt- und Lebensanschau-
ung zu schaffen, wenn es nur eine wahre, allgemein giil-
tige Weltanschauung gabe, wenn die Vorstellungswelt nur
eine Gestalt hatte? Jean Paul ist auf seine Art ein Vertei-
diger der Goetheschen Ansicht, dafi der Mensch im Innern
die hochste Form des Daseins erlebt. Er schreibt an Jacobi:
«Eigentlich glauben wir doch nicht das Gottliche (Freiheit,
Gott, Tugend), sondern wir schauen es wirklich als schon
gegeben oder sich gebend, und dieses Schauen ist eben ein
Wissen, nur ein hoheres, indes das Wissen des Verstandes
sich blofi auf ein niederes Schauen bezieht. Man konnte
die Vernunft das Bewufitsein des alleinigen Positiven nen-
nen, denn alles Positive der Sinnlichkeit lost sich zuletzt
in das der Geistigkeit auf, und der Verstand treibt sein
Wesen ewig blofi mit dem Relativen, das an sich nichts ist,
daher vor Gott das Mehr oder Minder und alle Vergleichs-
stufen wegf alien. » Das Recht, die Wahrheit im Innern zu
erleben und dazu alle Seelenkrafte, nicht blofi den logi-
schen Verstand in Bewegung setzen zu diirfen, will sich
Jean Paul durch nichts rauben lassen. «Das Herz, die le-
bendige Wurzel des Menschen, soli mir die Transzenden-
talphilosophie (Jean Paul meint die an Kant sich anschlie-
fiende Weltansicht) nicht aus der Brust reifien und einen
reinen Trieb der Ichheit an die Stelle setzen, ich lasse mich
nicht befreien von der Abhangigkeit der Liebe, um allein
durch Hochmut selig zu werden.» So weist er die welt-
fremde moralische Ordnung Kants zuriick. «Ich bleibe da-
bei, dafi es, wie vier letzte, so vier erste Dinge gebe: Schon-
heit, Wahrheit, Sittlichkeit, Seligkeit, und da£ die Syn-
these davon nicht nur notwendig, sondern auch schon ge-
geben sei, nur aber (und darum ist sie eben eine) in . . . un-
faftbarer geistig-organischer Einheit, ... ohne welche wir
an diesen vier Evangelisten oder Weltteilen gar kein Ver-
standnis und keinen Ubergang finden konnten.» Die mit
aufierster logischer Strenge verfahrende Kritik des Ver-
standes war in Kant und Fichte so weit gekommen, die
selbstandige Bedeutung des Wirklichen, Lebensvollen zu
einem blofien Schein, zu einem Traumbild herabzusetzen.
Diese Anschauung war fur phantasievolle Menschen, die
das Leben um die Gestalten ihrer Einbildungskraft berei-
cherten, unertraglich. Diese Menschen empfanden dieWirk-
lichkeit, sie war in ihrem Wahrnehmen, in ihrer Seele ge-
genwartig; und sie sollten sich deren blofie Traumhaftig-
keit beweisen lassen. «Die Fenster der philosophischen
Auditorien sind zu hoch, ak da£ sie auf die Gassen des
wirklichen Lebens eine Aussicht gewahren», sagt daher
Jean Paul.
Fichte strebte nach reinster, hochster erlebter Wahrheit.
Er entsagte allem Wissen, das nidit aus dem eigenen In-
nern entspringt, weil nur aus diesem Gewifiheit entsprin-
gen kann. Die Gegenstromung zu seiner Weltanschauung
bildet die Romantik. Fichte lafit nur die Wahrheit gelten,
und das Innere des Menschen nur insof ern, als es die Wahr-
heit offenbart; die romantische Weltanschauung lafit nur
das Innere gelten, und erklart alles fiir wahrhaft wertvoll,
was aus diesem Innern entspringt. Das Ich soil durch nichts
Au£eres gefesselt sein. Alles was es schafft, hat seine Be-
rechtigung.
Man darf von der Romantik sagen, dafi sie den Schil-
lerschen Satz: «Der Mensch spielt nur, wo er in voller Be-
deutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt» bis zu seinen aufiersten Konsequen-
zen verfolgte. Sie will die ganze Welt zu einem Reich des
Kunstlerischen machen. Der vollentwickelte Mensch kennt
keine andere Norm als die Gesetze, die er mit frei waiten-
der Einbildungskraft ebenso schafft wie der Kunstler die-
jenigen, die er seinem Werke einpragt. Er erhebt sich
iiber alles, was ihn von aufien bestimmt, und lebt ganz
aus sich heraus. Die ganze Welt ist ihm nur ein Stoff fiir
sein asthetisches Spiel. Der Ernst des Alltagsmenschen ist
nicht in der Wahrheit wurzelnd. Die erkennende Seele
kann die Dinge nicht an sich ernst nehmen, denn sie sind
ihr nicht an sich wertvoll. Sie ist es vielmehr selbst, die
ihnen einen Wert verleiht. Die Stimmung des Geistes, der
sich dieser seiner Souveranitat gegeniiber den Dingen be-
wufit ist, nennen die Romantiker die ironische. Karl Wil-
helm Ferdinand Solger (1780 — 18 19) hat von der roman-
tischen Ironie die Erklarung gegeben: «Es mufi der Geist
des Kiinstlers alle Richtungen in einem alles iiberschauen-
den Blick zusammenfassen, und diesen iiber allem schwe-
benden, alles vernichtenden Blick nennen wir Ironies
Friedrich Schlegel (1772 — 1829), einer der Stimmfuhrer
der romantischen Geistesriditung, sagt von der ironischen
Stimmung, dafi sie « alles iibersieht und sich iiber alles Be-
dingte unendlich erhebt, audi iiber einige Kunst, Tugend
oder Genialitat». Wer in dieser Stimmung lebt, fiihlt sich
durch nichts gebunden; nichts bestimmt ihm die Richtung
seines Tuns. Er kann «nach Belieben philosophisch oder
philologisch, kritisch oder poetisch, historiscli oder rheto-
risch, antik oder modern sich stimmen». Der ironische
Geist erhebt sich iiber eine Wahrheit, die sich von der Lo-
gik fesseln lassen will; er erhebt sich aber audi iiber eine
ewige, moralisdie Weltordnung. Denn nichts sagt ihm,
was er tun soil, als allein er selbst. Was ihm gefallt, soil
der Ironiker tun; denn seine Sittlichkeit kann nur eine
asthetische sein. Die Romantiker sind die Erben des Fichte-
schen Gedankens von der Einzigkeit des Ich. Aber sie woll-
ten dieses Ich nicht mit Vernunftideen und mit einem mo-
ralischen Glauben erfullen wie Fichte, sondern beriefen
sich vor allem auf die f reieste, durch nichts gebundene See-
lenkraft, auf die Phantasie. Das Denken wurde bei ihnen
vollig von dem Dichten aufgesogen. Novalis sagt: «Es ist
recht iibel, dafi die Poesie einen besonderen Namen hat
und die Dichter eine besondere Zunft ausmachen. Es ist
gar nichts Besonderes. Es ist die eigentiimlicke Handlungs-
weise des menschlichen Geistes. Dichtet und trachtet nicht
jeder Mensch in jeder Minute? » Das allein mit sich be-
schaftigte Ich kann zu der hochsten Wahrheit kommen:
«Es diinkt dem Menschen, als sei er in einem Gesprach be-
griffen und irgendein unbekanntes geistiges Wesen veran-
lasse ihn auf eine wunderbare Weise zur Entwicklung der
evidentesten Gedanken.y> Im Grunde wollten die Roman-
tiker nidits anderes, als was auch Goethe und Schiller zu
ihrem Bekenntnis gemacht haben: eine Ansicht iiber den
Menschen, die diesen so vollkommen, so frei wie moglich
erscheinen lafit. Novalis erlebt seine Dichtungen und Be-
trachtungen aus einer Seelenstimmung heraus, welche sich
zum Bilde der Welt verhalt wie die Fichtesche. Aber Fich-
tes Geist wirkt in den scharfen Konturen reiner Begriffe;
der Novalis* aus der Fiille eines Gemiites, welches da emp-
rindet, wo andere denken, da in Liebe lebt, wo andere in
Ideen die Wesen und Vorgange der Welt umfassen wol~
len. Das Zeitalter sucht in seinen Reprasentanten die ho-
here Geistnatur hinter der aufSeren Sinnenwelt, jene Geist-
natur, inwelcher die selbstbewufite Seele wurzelt, dienicht
in der aufieren Sinnenwirklichkeit wurzeln kann. Novalis
erfiihlt, erlebt sich in der hoheren Geistnatur. Was er aus-
spricht, fuhlt er durch die ihm ursprungliche Genialitat
wie die Oifenbarungen dieser Geistnatur selbst. Er notiert
sich: «Einem gelang es - er hob den Schleier der Gottin
zu Sais - aber was sah er? er sah - Wunder des Wunders -
sich selbst.» Novalis gibt sich, wie er das geistige Geheim-
nis hinter der Sinnenwelt fuhlt und das menschliche Selbst-
bewufttsein als das Organ, durch welches dieses Geheim-
nis sagt: Das bin ich, - wenn er dieses sein Fiihlen so aus-
driickt: «Die Geisterwelt ist uns in der Tat schon aufge-
schlossen, sie ist immer offenbar. Wiirden wir plotzlich so
elastisch, als es notig ware, so sahen wir uns mitten unter
ihr.»
DIE KLASSIKER
DER WEJLT- UND LEBENSANSCHAUUNG
Wie ein Lichtblitz, der innerhalb der Weltanschauungs-
entwickelung erhellend nadi riickwarts und vorwarts wirkt,
erscheint ein Satz, den Friedricb Wilhelm Joseph Schelling
(1775 — 1854) in seiner «Naturphilosophie» ausgesprochen
hat: «X)ber die Natur philosophieren heifit soviel als die
Natur schaffen.» Wovon Goethe und Schiller durchdrun-
gen waren: dafi die produktive Phantasie ihren Anteil bei
Erschaffung der Weltanschauung haben musse, dem gibt
dieser Satz einen monumentalen Ausdruck. Was die Na-
tur uns freiwillig gibt, wenn wir sie beobachten, anschauen,
wahrnehmen: das enthalt nicht ihren tiefsten Sinn. Diesen
Sinn kann der Mensch nicht von aufien aufnehmen. Er
mufi ihn schaffen.
Zu solchem Schaffen war Schellings Geist besonders ver-
anlagt. Bei ihm strebten alle Geisteskrafte nadi der Phan-
tasie hin. Er ist ein erfinderischer Kopf ohnegleichen. Aber
seine Einbildungskraft bringt nicht Bilder hervor, wie die
kiinstlerische, sondern Begriffe und Ideen. Durch diese
seine Geistesart war er dazu berufen, die Gedankengange
Fichtes fortzusetzen. Dieser besafi die produktive Phan-
tasie nicht. Er war mit seiner Wahrheitsforderung bis zum
seelischen Zentrum des Menschen gelangt, bis zum «Ich».
Wenn dieses der Quellpunkt sein soil fiir die Weltanschau-
ung, so mufi derjenige, der auf diesem Standpunkte stent,
audi in der Lage sein, vom Ich aus zu inhaltvollen Gedan-
ken iiber die Welt und das Leben zu gelangen. Das kann
nur mit Hilfe der Einbildungskraft geschehen. Sie stand
Fichte nicht zu Gebote. Deshalb blieb er im Grunde sein
ganzes Leben lang dabei stehen, auf das Ich hinzudeuten
und zu sagen, wie es einen Inhalt an Gedanken gewinnen
miisse; aber er wuftte ihm selbst keinen solchen zu geben.
Wir ersehen dies klar aus den Vorlesungen, die er 1813
an der Berliner Universitat iiber «Wissenschaftslehre» ge-
halten hat. (Nachgelassene Werke, 1. Band.) Er fordert
da fur denjenigen, der zu einer Weltanschauung kommen
will, «ein ganz neues inneres Sinneswerkzeug, durch wel-
ches eine neue Welt gegeben wird, die fiir den gewohnli-
chen Menschen gar nicht vorhanden ist». Aber Fichte
kommt nicht iiber diese Forderung eines neuen Sinnes hin-
aus. Was ein solcher Sinn wahrnehmen soil, das entwickelt
er nicht. Schelling sieht in den Gedanken, die ihm seine
Phantasie vor die Seele stelit, die Ergebnisse dieses hohe-
ren Sinnes, den er intellektuelle Anschauung nennt. Ihn,
der also in dem, was der Geist iiber die Natur aussagt, ein
Erzeugnis sieht, das der Geist sckafft, muftte vor alien
Dingen die Frage interessieren: Wie kann das, was aus
dem Geiste stammt, doch die wirkliche, in der Natur wal-
tende Gesetzmaftigkeit sein? Er wendet sich mit scharfen
Ausdrucken gegen diejenigen, welche glauben, daft wir
unsere Ideen «auf die Natur nur ubertragen», denn «sie
haben keine Ahnung davon, was uns die Natur ist und
sein soli, . . . Denn wir wollen nicht, daft die Natur mit
den Gesetzen unseres Geistes zufallig (etwa durch Ver-
mittelung eines Dritten) zusammentreffe, sondern, daft sie
selbst notwendig und ursprunglich die Gesetze unseres
Geistes - nicht nur ausdriicke, sondern selbst realisiere und
daft sie nur insofern Natur sei und Natur heifte, als sie
dies tut. . . . Die Natur soli der skhtbare Geist, der Geist
die unsichtbare Natur sein. Hier also, in der absoluten
Identitat des Geistes in uns und der Natur aufier uns,
muft sich das Problem, wie eine Natur aufter uns moglich
sei, auflosen.» Natur und Geist sind also iiberhaupt nidit
zwei versdiiedene Wesenheiten, sondern eine und dieselbe
Wesenheit in zwei verschiedenen Formen. Die eigentHdie
Meinung Schellings iiber diese Einheit von Natur und Geist
ist selten richtig erfafit worden. Man mufi sich ganz in
seine Vorstellungsart versetzen, wenn man darunter nicht
eine Trivialitat oder eine Absurditat verstehen will. Hier
soil, um diese Vorstellungsart zu verdeutlichen, auf einen
Satz in seinem Buche «Von der Weltseele» hingewiesen
werden, in dem er sich iiber die Natur der Schwerkraft
ausspricht. Viele sehen eine Schwierigkeit in diesem Be-
griffe, weil er eine sogenannte «Wirkung in der Ferne»
voraussetzt. Die Sonne wirkt anziehend auf die Erde,
trotzdem nichts zwischen Sonne und Erde ist, was diese
Anziehung vermittelt. Man mufi sich denken, daft die
Sonne durch den Raum hindurch ihre Wirkungssph'afe
auf Orte ausdehnt, an denen sie nicht ist. Diejenigen, die
in grobsinnlichen Vorstellungen leben, sehen in einem sol-
chen Gedanken eine Schwierigkeit. Wie kann ein Korper
da wirken, wo er nicht ist? Schelling kehrt den ganzen Ge-
dankenprozefi um. Er sagt: «Es ist sehr wahr, daft ein
Korper nur da wirkt, wo er ist, aber es ist ebenso wahr,
dafi er nur da ist, wo er wirkt.* Wenn wir die Sonne durch
die Anziehungskraft auf unsere Erde wirken sehen, so
folgt daraus, dafi sie sich in ihrem Sein bis auf unsere Erde
erstreckt und dafi wir kein Recht haben, ihr Dasein nur
an den Ort zu versetzen, an dem sie durch ihre Sichtbar-
keit wirkt. Die Sonne geht mit ihrem Sein iiber die Gren-
zen hinaus, innerhalb deren sie sichtbar ist; nur einen Teil
ihres Wesens sieht man; der andere gibt sich durch die An-
ziehung zu erkennen. So ungefahr miissen wir uns auch
das Verhaltnis des Geistes zur Natur denken. Der Geist
1st nicht nur da, wo er wahrgenommen wird, sondern audi
da, wo er wahrnimmt. Sein Wesen erstreckt sidi bis an die
fernsten Orte, an denen er nodi Gegenstande beobaditen
kann. Er umspannt und durchdringt die ganze ihm be-
kannte Natur. Wenn er das Gesetz eines aufieren Vor-
ganges denkt, so bleibt dieser Vorgang nidit aufien liegen,
und der Geist nimmt blofi ein Spiegelbild auf, sondern
dieser stromt sein Wesen in den Vorgang hinein; er durdi-
dringt den Vorgang, und wenn er dann das Gesetz des-
selben findet, so spricht nicht er es in seinem abgesonder-
ten Gehirnwinkel aus, sondern das Gesetz spridit sich
selbst aus. Der Geist ist dorthin gegangen, wo das Gesetz
wirkt. Hatte er es nicht beachtet, so hatte es audi gewirkt;
aber es ware nicht ausgesprochen worden. Da der Geist in
den Vorgang gleichsam hineinkriecht, so wird das Gesetz
audi noch aufierdem, dafi es wirkt, als Idee, als BegrifT
ausgesprochen. Nur wenn der Geist auf die Natur keine
Riicksicht nimmt und sich selbst anschaut, dann kommt es
ihm vor, als wenn er abgesondert von der Natur ware,
wie es dem Auge vorkommt, daft die Sonne innerhalb
eines gewissen Raumes eingeschlossen sei, wenn davon ab-
gesehen wird, dafi sie audi da ist, wo sie durch Anziehung
wirkt. Lasse ich also in meinem Geiste die Ideen entstehen,
die Naturgesetze ausdriicken, so ist ebenso wahr, wie die
eine Behauptung: dafi ich die Natur schafFe, die andere:
dafi sich in mir die Natur selbst schafft.
Nun gibt es zwei Moglichkeiten, das eine Wesen, das
Geist und Natur zugleich ist, zu besdireiben. Die eine ist:
ich zeige die Naturgesetze auf, die in Wirklichkeit tatig
sind. Oder ich zeige, wie der Geist es macht, um zu diesen
Gesetzen zu kommen. Beide Male leitet mich eines und
dasselbe. Das eine Mai zeigt mir die Gesetzmafiigkeit, wie
sie in der Natur wirksam ist; das andere Mai zeigt mir der
Geist, was er beginnt, urn sich dieselbe Gesetzmaftigkeit
vorzustellen. In dem einen Falle treibe ich Natur-, in dem
anderen Geisteswissenschaft. Wie diese beiden zusammen-
gehdren, besdireibt Sdielling in anziehender Weise: «Die
notwendige Tendenz aller Natur wissenschaft ist, von der
Natur aufs Intelligente zu kommen. Dies und nichts an-
deres liegt dem Bestreben zugrunde, in die Naturerschei-
nungen Theorie zu bringen. Die hochste Vervollkomm-
nung der Naturwissenschaft ware die voilkommene Ver-
geistigung aller Naturgesetze zu Gesetzen des Anschauens
und des Denkens. Die Phanomene (das Materielle) miissen
vollig verschwinden und nur die Gesetze (das Formelle)
bleiben. Daher kommt es, daft, je mehr in der Natur seibst
das Gesetzmafiige hervorbricht, desto mehr die Hiille ver-
schwindet, die Phanomene seibst geistiger werden und zu-
letzt vollig aufhoren. Die optischen Phanomene sind nichts
anderes als eine Geometrie, deren Linien durch das Licht
gezogen werden, und dieses Licht seibst ist schon zweideu-
tiger Materialitat. In den Erscheinungen des Magnetismus
verschwindet schon alle materielle Spur, und von den Pha-
nomenen der Schwerkraft, welche seibst Naturforscher
nur als unmittelbar geistige Einwirkung» - Wirkung in die
Feme - «begreifen zu konnen glaubten,bleibt nichts zuriick
als ihr Gesetz, dessen Ausfuhrung im groften der Mecha-
nismus der Himmelsbewegungen ist. Die vollendete Theo-
rie der Natur wiirde diejenige sein, kraft welcher die
ganze Natur sich in eine Intelligenz aufioste. Die toten
und bewufttlosen Produkte der Natur sind nur miftlun-
geneVersuche der Natur, sich seibst zureflektieren, die soge-
nannte tote Natur aber iiberhaupt eine unreife Intelligenz,
daher in ihren Phanomenen noch bewufitlos schon der in-
telligente Charakter durchblickt. Das hochste Ziel, sich
selbst ganz Objekt zu werden, erreidit die Natur erst
durch die hochste und letzte Reflexion, welche nichts an-
deres als der Mensch, oder allgemeiner das ist, was wir
Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollstan-
dig in sich selbst zuriickkehrt, und wodurch offenbar wird,
dafi die Natur urspriinglich identisch ist mit dem, was in
uns als Intelligentes und Bewufites erkannt wird.»
In ein kunstvolles Netz von Gedanken spann Schelling
die Tatsachen der Natur ein, so dafi alle ihre Erscheinun-
gen wie ein idealer harmonischer Organismus vor seiner
schaffenden Phantasie standen. Er war beseelt von dem
Gefiihl, dafi die Ideen, die in seiner Phantasie erscheinen,
audi die wahren schopferischen Krafte der Naturvor-
gange seien. Geistige Krafte liegen also der Natur zu-
grunde; und was unseren Augen als tot und leblos er-
scheint, das stammt urspriinglich aus Geistigem. Wenn wir
unseren Geist darauf richten, dann legen wir die Ideen,
das Geistige der Natur frei. So sind fur den Menschen,
im Sinne Schellings, die Naturdinge Offenbarungen des
Geistes, hinter deren aufierer Huile er sich gleichsam ver-
birgt. In unserem eigenen Innern zeigt er sich dann in sei-
ner richtigen Gestalt. Der Mensch weift dadurch, was Geist
ist, und kann deshalb audi den in der Natur verborgenen
Geist wieder finden. Die Art, wie Schelling die Natur als
Geist in sich wieder erstehen lafit, hat etwas Verwandtes
mit derjenigen, die Goethe bei dem vollkommenen Kiinst-
ler anzutreffen glaubt. Dieser verfahrt, nach Goethes Mei-
nung, bei dem Hervorbringen der Kunstwerke wie die
Natur bei ihren Schopfungen. Man hatte also in dem
Schaffen des Kiinstlers denselben Vorgang vor sich, durch
den audi alles dasjenige entstanden ist, was in der aufieren
Natur vor dem Menschen ausgebreitet liegt. Was die Na-
tur den aufieren Blicken entzieht, das stellt sich dem Men-
schen in dem kiinstlerischen Schaffen wahrnehmbar dar.
Die Natur zeigt dem Menschen nur die fertigen Werke;
wie sie es gemacht hat, um sie fertig zu bringen: das muft
er aus diesen Werken erraten. Er hat die Geschopfe vor
sich, nicht den Schopfer. Beim Kiinstler nimmt man Schop-
f ung und Geschopf zugleich wahr. Schelling will nun durch
die Erzeugnisse der Natur zu ihrem Schaffen durchdrin-
gen; er versetzt sich in die schaffende Natur hinein und
lafk sie in seiner Seele so entstehen, wie der Kiinstler sein
Kunstwerk entstehen laik. Was sind also, der Meinung
Schellings nach, die Gedanken, die seine Weltanschauung
enthalt? Es sind die Ideen des schaffenden Naturgeistes.
Was den Dingen vorangegangen ist und was sie geschaf-
fen hat, das taucht im einzelnen Menschengeiste als Ge-
danke auf. Es verhalt sich dieser Gedanke zu seinem ur-
spriinglichen wirklichen Dasein so, wie sich das Erinne-
rungsbild an ein Erlebnis zu diesem Erlebnis selbst ver-
halt. So wird die menschliche Wissenschaft fur Schelling
zu einem Erinnerungsbilde an die vor den Dingen schaf-
fenden geistigen Vorbilder. Ein gottlicher Geist hat die
Welt geschaffen; er schafft zuletzt audi noch die Men-
schen, um sich in ihren Seelen ebensoviele Werkzeuge zu
bilden, durch die er sich an sein Schaffen erinnern kann.
Schelling fuhlt sich also, wenn er sich der Betrachtung der
Welterscheinungen hingibt, gar nicht als Einzelwesen. Er
erscheint sich wie ein Teil, ein Glied der schaffenden Welt-
machte. Er denkt nicht, sondern der Geist der Welt denkt
in ihm. Dieser Geist beschaut in ihm seine eigene schopfe-
rische Tatigkeit.
In dem Hervorbnngen des Kunstwerkes erblickt Schel-
ling eine Weltschopfung im kleinen; in der denkenden Be-
trachtung der Dinge eine Erinnerung an die Weltschop-
fung im grofien. In der Weltanschauung treten die Ideen
selbst in unserem Geiste auf, die den Dingen zugrunde
liegen und sie hervorgebradit haben. Der Mensdi lafit aus
der Welt alles weg, was die Sinne iiber sie aussagen, und
behalt nur dasjenige, was das reine Denken liefert. Im
Schaffen und Geniefien des Kunstwerkes tritt die innige
Durchdringung der Idee mit dem, was den Sinnen sich
offenbart, auf. Fiir Schellings Ansidit stehen also Natur,
Kunst und Weltanschauung (Philosophic) einander so ge-
geniiber, dafl die Natur die fertigen, aufieren Erzeugnisse
darbietet, die Weltanschauung die erzeugenden Ideen, die
Kunst beides in harmonischem Zusammenwirken. Die
kiinstlerische Tatigkeit steht in der Mitte zwischen der
schaffenden Natur, die hervorbringt, ohne von den Ideen
zu wissen, auf Grund deren sie schafft, und dem denken-
den Geiste, der diese Ideen weift, ohne mit ihrer Hilfe
audi die Dinge schaffen zu konnen. Schelling driickt dies
in dem Satze aus: «Die idealische Welt der Kunst und die
reelle der Objekte sind also Produkte einer und derselben
Tatigkeit; das Zusammentreff en beider (der bewufiten und
bewufitlosen) ohne Bewufitsein gibt die wirkliche, mit Be-
wufitsein die asthetische Welt. Die objektive Welt ist nur
die urspriingliche, noch bewufitlose Poesie des Geistes, das
allgemeine Organon der Philosophic - und der Schlufistein
ihres ganzen Gewolbes - die Philosophic der Kunst. »
Die geistigen Tatigkeiten des Menschen: denkende Be-
trachtung der Welt und kiinstlerisches Schaffen, erscheinen
Schelling nicht nur als individuelle Verrichtungen der Ein-
zelpersonlichkeit, sondern, wenn sie in ihrer hochsten Be-
deutung erfafit werden, zugleich als Verrichtungen des Ur-
wesens, des Geistes der Welt. In wahrhaft dithyrambi-
schen Satzen schildert Schelling das Gefiihl, das in der
Seele auflebt, wenn sie gewahr wird, daft ihr Leben nicht
blofi ein individuelles, auf einen Punkt des Universums
beschranktes ist, sondern daft ihr Tun ein geistig-allge-
meines ist. Wenn sie sagt: ich weifi, ich erkenne - so heifit
das in hoherem Sinne: der Weltgeist erinnert sich an sein
Tun vor dem Dasein der Dinge; und wenn sie ein Kunst-
werk hervorbringt, so heifit das: der Weitgeist wieder-
holt im kleinen dasselbe, was er bei der Schopfung des
Naturganzen im grofien vollbracht hat. «Die Seele ist also
im Menschen nicht das Prinzip der Individuality, sondern
das, wodurch er sich iiber alle Selbstheit erhebt, wodurch
er der Aufopferung seiner selbst, uneigenniitziger Liebe,
und, was das Hochste ist, der Betrachtung und Erkenntnis
des Wesens der Dinge, eben damit der Kunst, fahig wird.
Sie ist nicht mehr mit der Materie beschaftigt, noch ver-
kehrt sie unmittelbar mit ihr, sondern nur mit dem Geist,
als dem Leben der Dinge. Auch im Korper erscheinend,
ist sie dennoch frei von dem Korper, dessen Bewulksein
in ihr, in den schonsten Bildungen, nur wie ein leichter
Traum schwebt, von dem sie nicht gestort wird. Sie ist
keine Eigenschaft, kein Vermogen, oder irgend etwas der
Art insbesondere; sie weifi nicht, sondern sie ist die Wis-
senscbaft, sie ist nicht gut, sondern sie ist die Giite, sie ist
nicht schon, wie es auch der Korper sein kann, sondern sie
ist die Schonheit selber.» (Uber das Verhaltnis der bilden-
den Kiinste zur Natur.)
Eine solche Vorstellungsart klingt an die deutsche My-
stik an, die einen Reprasentanten in Jacob Bohme (1575
bis 1624) hatte, Schelling genofi in Mimcheii, wo er 1806
bis 1 841 mit kurzen Unterbrechungen war, den anregen-
den Umgang mit Franz Benedikt Baader, dessen philoso-
phische Ideen sidi ganz in der Richtung jener alteren Lehre
bewegten. Dies ist die Veranlassung, dafi er sich selbst in
diese Gedankenwelt einlebte, die ganz auf dem Gesichts-
punkte stand, auf dem er selbst mit seinem Denken an-
gelangt war. Wenn man die oben angefuhrten Ausspriiche
aus der Rede «t)ber das Verhaltnis der bildenden Kiinste
zur Natur» liest, die er 1807 in der Koniglichen Akademie
der Wissenschaften in Munchen gehalten hat, so wird man
erinnert an Jacob Bohmes Anschauung: «Wenn du ansie-
hest die Tiefe und die Sterne und die Erde, so siehest du
deinenGott, und in demselben Gott lebest und hist du auch,
und derselbe Gott regiert dich auch . . . du bist aus diesem
Gott geschaffen und lebest in demselben; auch stehet alle
deine Wissenschaft in diesem Gott und wenn du stirbest,
so wirst du in diesem Gott begraben.»
Mit seinem fortschreitenden Denken wurde fiir Schel-
ling die Weltbetrachtung zur Gottesbetrachtung oder
Theosophie. Vollstandig stand er schon auf dem Boden
einer solchen Gottesbetrachtung, als er 1809 seine «Philo-
sophiscben Untersuchungen iiber das Wesen der mensch-
licben Freibeit und die damit zusammenbdngenden Gegen-
standee herausgab. Alle Weltanschauungsfragen ruckten
sich ihm jetzt in em neues Licht. Wenn alle Dinge gottlich
sind: wie kommt es, dalS es Boses in der Welt gibt, da Gott
doch nur die vollkommene Giite sein kann? Wenn die Seele
des Menschen in Gott ist: wie kommt es, dafi sie doch ihre
selbstsuchtigen Interessen verfolgt? Und wenn Gott es ist,
der in mir handelt: wie kann ich, der ich also gar nicht als
selbstandiges Wesen handle, dennoch frei genannt wer-
den?
Durch Gottbetrachtung, nicht mehr durch Weltbetrach-
tung, sucht Schelling diese Fragen zu beantworten. Es
ware Gott vollkommen unangemessen, wenn er eine Welt
von Wesen schaffen wiirde, die er als unselbstandige fort-
wahrend leiten und lenken miifite. Vollkommen ist Gott
rmr, wenn er eine Welt sdiaffen kann, die ihm selbst an
Vollkommenheit ganz gleidi ist. Ein Gott, der nur solches
hervorbringen kann, das unvollkommener als er selbst ist,
der ist selbst unvollkommen. Gott hat daher in den Men-
schen Wesen geschaffen, die nicht seiner Fiihrung bediir-
fen, sondern die selbst frei sind und unabhangig wie er.
Ein Wesen, das aus einem anderen seinen Urspmng hat,
braucht deshalb nicht von diesem audi abhangig zu sein.
Denn es ist kein Widerspruch, da$ der, welcher der Sohn
eines Menschen ist, selbst Mensch ist. Wie das Auge, das
nur im Ganzen des Organismus moglich ist, nichtsdesto-
weniger ein unabhangiges Eigenleben fur sich hat, so audi
die Einzelseele, die zwar in Gott begriffen, aber deshalb
doch nicht durch ihn wirksam ist gleich dem Glied an einer
Maschine. «Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der
Lebendigen. Es ist nicht einzusehen, wie das allervollkom-
menste Wesen auch an der moglich vollkommensten Ma-
schine seine Lust fande. Wie man auch die Art der Folge
der Wesen aus Gott sich denken moge, nie kann sie eine
mechanische sein, kein blofies Bewirken oder Hinstellen,
wobei das Bewirkte nichts fiir sich selbst ist; ebensowenig
Emanation, wobei das Ausflieftende dasselbe bliebe mit
dem, wovon es ausgeflossen, also nichts Eigenes, Selb-
standiges. Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbst-
offenbarung Gottes. Gott aber kann nur sich offenbar wer~
den in dem, was ihm ahnlich ist, in freien, aus sich selbst
handelnden Wesen; fiir deren Sein es keinen Grund gibt
als Gott, die aber sind, so wie Gott ist.» Ware Gott ein
Gott des Toten und alle Welterscheinungen nur ein Me-
chanismus, dessen Vorgange auf ihn als ihren Beweger
und Urgrund zuriickzufuhren waren, so braudite man nur
die Tatigkeit Gottes zu beschreiben, und man hatte alles
innerhalb der Welt begrifTen. Man konnte aus Gott heraus
alle Dinge und ihre Tatigkeit verstehen. Das ist aber nicht
derFall. Die gottliche Welt hat Selbstandigkeit. Gott hat
sie geschaff en, aber sie hat ihr eigenes Wesen. So ist sie gott-
lich; aber das Gottliche ersdieint innerhalb einer Wesen-
heit, die von Gott unabhangig ist, innerhalb eines Nicht-
gottlichen. So wie das Licht aus der Dunkelheit heraus
geboren ist, so die gottliche Welt aus dem ungottlichen
Dasein. Und aus dem Ungottlichen stammt das Bose,
stammt das Selbstsiichtige. Gott hat also die Gesamtheit
der Wesen nicht in seiner Gewalt; er kann ihnen das Licht
geben; sie selbst aber tauchen aus der dunklen Nacht em-
por. Sie sind die Sonne dieser Nacht. Und was an ihnen
Dunkelheit ist, iiber das hat Gott keine Macht. Sie miis-
sen sich durch Nacht zum Licht emporarbeiten. Das ist
ihre Freiheit. Man kann audi sagen, die Welt ist Gottes
Schopfung aus dem Ungottlichen heraus. Das Ungottliche
ist also das Erste und das Gottliche erst das Zweite.
Zuerst hat Schelling die Ideen in alien Dingen gesucht,
also ihr Gottliches. Dadurch hat sich flir ihn die ganze
Welt in eine Offenbarung Gottes verwandelt. Er mufite
dann aber vom Gottlichen zum Ungottlichen vorschreiten,
um das Unvollkommene, das Bose, das Selbstsiichtige zu
begreifen. Jetzt wurde der ganze Werdeprozefi der Welt
fiir ihn eine fortschreitende Oberwindung des Ungottli-
chen durdi das Gottliche. Der einzelne Mensch nimmt aus
Ungottlidiem seinen Ursprung. Er arbeitet sich aus die-
sem heraus zur Gottlichkeit durch. Auch im Verlauf der
Geschichte konnen wir denFortgang vomUngottlichen zum
GottHchen beobachten. Das Ungottliche war urspriinglich
das Herrsdiende in der Welt. Im Altertum iiberliefien sidi
die Menschen ihrer Natur. Sie handelten naiv aus Selbst-
sucht. Die griediisdie Kultur steht auf diesem Boden. Es
war das Zeitalter, da der Mensdi im Bunde mit der Natur
lebte, oder, wie Schiller in dem Aufsatz «X)ber naive und
sentimentalische Dichtung» sich ausdriickte, Natur selbst
war, siedeshalb noch nichtsuchte. Mit dem Christentum
verschwindet dieser Unsdiuldszustand der Mensdiheit. Die
blofte Natur wird als das Ungottliche angesehen, das Bose
wird dem Gottlichen, dem Guten entgegengesetzt. Chri-
stus erscheint, um das Licht des Gottlichen innerhalb der
Nacht des Ungottlichen ersclieinen zu lassen. Dies ist der
Moment, wo «die Erde zum zweiten Male wiist und leer
wird», derjenige «der Geburt des hoheren Lichts des Gei-
stes», das «von Anbeginn in der Welt war, aber unbegriffen
von der fur sich wirkenden Finsternis; und in annoch ver-
schlossener und eingeschrankter Offenbarung; und zwar
erscheint es, um dem personlichen und geistigen Bosen
entgegenzutreten, ebenfalls in personlicher, menschlicher
Gestalt, und als Mittler, um den Rapport der Schbpfung
mit Gott auf der hochsten Stufe wieder herzustellen.
Denn nur Personliches kann Personliches heilen, und Gott
mu£ Mensch werden, damit der Mensch wieder zu Gott
komme.»
Der Spinozismus ist eine Weltanschauung, die in Gott
den Grund alles Weltgeschehens sucht, und aus diesem
Grunde alle Vorgange nach ewigen, notwendigen Geset-
zen ableitet, wie die mathematischen Wahrheiten aus den
Grundsatzen abgeleitet werden. Eine solche Weltanschau-
ung geniigte Schelling nicht. Wie Spinoza glaubte auch er
daran, daft alie Wesen in Gott seien; aber sie sind, nach
seiner Meinung, nidit durch Gott allein bestimmt, sondern
es ist das Ungottliche in ihnen. Er wirft Spinoza die «Leb-
losigkeit seines Systems, die Gemutlosigkeit der Form vor,
die Durftigkeit der Begriffe und Ausdriicke, das unerbitt-
lich Herbe der Bestimmungen, das sich mit der abstrakten
Betrachtungsweise vortrefflich vertragt». Schelling findet
daher Spinozas «mechanische Naturansidit» ganz folge-
richtig. Aber die Natur zeige keineswegs diese Folgerich-
tigkeit. «Die ganze Natur sagt uns, daft sie keineswegs
vermoge einer blofi geometrischen Notwendigkeit da ist,
es ist nicht lautere, reine Vernunft in ihr, sondern Per-
sonlichkeit und Geist, sonst hatte der geometrische Ver-
stand, der so lange geherrscht hat, sie langst durchdringen
und sein Idol allgemeiner und ewiger Naturgesetze mehr
bewahrheiten miissen, als es bis jetzt gesdiehen ist, da er
vielmehr das irrationale Verhaltnis der Natur zu sich tag-
lich mehr erkennen mufi.» Wie der Mensch nicht bloft Ver-
stand und Vernunft ist, sondern noch andere Vermogen
und Krafte in sich vereinigt, so soli, im Sinne Schellings,
dies auch bei dem gottlichen Urwesen der Fall sein. Ein
Gott, der lautere, reine Vernunft ist, erscheint wie per-
sonifizierte Mathematik; ein Gott dagegen, der bei seinem
Weltschaffen nicht nach der reinen Vernunft verfahren
kann, sondern fortwahrend mit dem Ungottlichen zu
kampfen hat, kann als «ein ganz personliches, lebendiges
Wesen angesehen werden». SeinLeben hat die groftte Ana-
logic mit dem menschlichen. Wie der Mensch das Unvoll-
kommene in sich zu uberwinden sucht und einem Ideal
der Vollkommenheit nachstrebt: so wird ein soldier Gott
als ein ewig kampfender vorgestellt, dessen Tatigkeit die
fortschreitende "Qberwindung des Ungottlichen ist. Spino-
zas Gott vergleicht Sdielling den «altesten Bildern der
Gottheiten, die, je weniger individuell-lebendige Ziige aus
ihnen sprachen, desto geheimnisvoller erschienen». Sdiel-
ling gibt seinem Gotte immer individuellere Ziige. Er schil-
dert ihn wie einen Menschen, wenn er sagt: «Bedenken wir
das viele Schreckliche in Natur und Geisterwelt und das
weit Mehrere, das eine wohlwollende Hand uns zuzu-
decken scheint, dann konnen wir nicht zweifeln, daft die
Gottheit iiber einer Welt von Schrecken throne, und Gott
nach dem, was in ihm und durch ihn verborgen ist, nicht
im uneigentlichen, sondern im eigentlichen Sinne der
Schreckliche, der Furchterliche heiften konne.»
Einen solchen Gott konnte Schelling nicht mehr so be-
trachten, wie Spinoza seinen Gott betrachtet hat. Ein
Gott, der alles aus sich heraus nach Vernunftgesetzen be-
stimmt, kann auch mit der Vernunft durchschaut werden.
Ein personlicher Gott, wie ihn Schelling in seiner spateren
Zeit vorstellte, ist unberechenbar. Denn er handelt nicht
nach der Vernunft allein. Bei einem Rechenexempel kon-
nen wir das Ergebnis durch blofies Denken vorausbestim-
men; bei dem handelnden Menschen nicht. Bei ihm miissen
wir abwarten, zu welcher Handlung er sich in einem ge-
gebenen Augenblicke entschlieften wird. Die Erfahrung
mufi zu dem Vernunftwissen hinzutreten. Die reine Ver-
nunftwissenschaft geniigte daher Schelling nicht zur Welt-
oder Gottesanschauung. Alles aus der Vernunft Gewon-
nene nennt er daher in der spateren Gestalt seiner Welt-
anschauung ein negatives Wissen, das durch ein positives
erganzt werden mufL Wer den lebendigen Gott erkennen
will, darf sich nicht blofi den notwendigen Vernunft-
schliissen iiberlassen; er muB sich mit seiner ganzen Per-
sonlichkeit versenken in das Leben Gottes. Dann wird er
erfahren, was ihm keine Schliisse, keine reine Vernunft
geben konnen. Die Welt ist nicht eine notwendige Wir-
kung der gottlichen Ursache, sondern eine freie Tat des
personlichen Gottes. Was Schelling nicht durch verniinf-
tige Betrachtung erkannt, sondern als freie, unberechen-
bare Taten Gottes erschaut zu haben glaubte, das hat er
in seiner «Philosophie der Offenbarung» und seiner «Phi-
losophie der Mythologie» dargelegt. Beide Werke hat er
nicht mehr selbst veroffentlicht, sondern ihren Inhalt nur
den Vorlesungen zugrunde gelegt, die er an der Universi-
tat zu Berlin gehalten hat, nachdem ihn Friedrich Wil-
helm IV. in die preufiische Hauptstadt berufen hatte. Sie
sind erst nach Schellings Tode (1854) veroffentlicht wor-
den.
Mit solchen Anschauungen hat Schelling sich als der
kiihnste und mutigste derjenigen Philosophen erwiesen,
die sich von Kant zu einer idealistischen Weltanschauung
haben anregen lassen. Das Philosophieren iiber Dinge, die
jenseits dessen liegen, was die menschlichen Sinne beob-
achten, und was das Denken iiber die Beobachtungen aus-
sagt, hat man, unter dem Einflusse dieser Anregung, auf-
gegeben. Man suchte sich mit dem zu bescheiden, was in-
nerhalb der Beobachtung und des Denkens liegt. Wahrend
aber Kant aus der Notwendigkeit solchen Bescheidens ge-
schlossen hat, man konne iiber jenseitige Dinge nichts wis-
sen, erklarten die Nachkantianer: da Beobachtung und
Denken auf kein jenseitiges Gottliches hindeuten, sind sie
selbst das Gottliche, Und von denen, die solches erklarten,
war Schelling der energischste. pichte hat alles in die Ich-
heit hereingenommen; Schelling hat die Ichheit iiber alles
ausgebreitet. Er wollte nicht wie jener zeigen, daft die Ich-
heit alles, sondern umgekehrt, dafi alles Ichheit sei. Und
Schelling hatte den Mut, nicht nur den Ideengehalt des
Idi fiir gottlidi zu erklaren, sondern die ganze mensch-
liche Geistpersonlichkeit. Er madite nicht nur die mensch-
liche Vernunft zu einer gottlichen, sondern den mensch-
lichen Lebensinhalt zu der gottlichen personlichen We-
senheit. Man nennt erne Welterklarung Anthropomor-
pbismuSy die vom Menschen ausgeht und sidi vorstellt,
daS dem Weltenlauf im ganzen eine Wesenheit zugrunde
liegt, die ihn so lenkt, wie der Mensdi seine eigenen Hand-
iungen lenkt. Audi derjenige erklart die Welt anthro-
pomorphisdi, der den Ereignissen eine allgemeine Welt-
vernunft zugrunde legt. Denn diese allgemeine Weltver-
nunft ist nichts anderes als die menschlidie Vernunft, die
zur allgemeinen gemadit wird. Wenn Goethe sagt: «Der
Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist»,
so denkt er daran, dafi in den einfadisten Ausspriidien,
die wir iiber die Natur tun, versteckte Anthropomorphis-
men enthalten sind. Wenn wir sagen, ein Korper rollt
weiter, weil ihn ein anderer gestofien hat, so bilden wir
eine solche Vorstellung von unserem Idi aus. Wir stofien
einen Korper und er rollt weiter. Wenn wir nun sehen,
dafi eine Kugel sidi gegen eine andere bewegt, und diese
dann weiterrollt, so stellen wir uns vor, die erste habe die
zweite gestofien, analog der stofienden Wirkung, die wir
selbst ausiiben. Ernst Haeckel findet, das anthropomor-
phische Dogma «vergleicht die "Weltschopfung und Welt-
regierung Gottes mit den Kunstschopfungen eines sinn-
reichen Technikers oder Maschineningenieurs und mit der
Staatsregierung eines weisen Herrschers. Gott der Herr
als Schopfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei
in seinem Denken und Handeln durchaus menschenahn-
lich vorgestellt.» Sdielling hat den Mut zu dem konse-
quentesten Anthropomorphismus gehabt. Er erklarte zu-
letzt den Menschen mit seinem ganzen Lebensinhalt als
Gottheit. Und da zu diesem Lebensinhalt nicht allein das
Verniinftige gehort, sondern auch das Unverniinftige, so
hatte er die Moglichkeit, auch das Unverniinftige inner-
halb der Welt zu erklaren. Er mufke zu diesem Ende
allerdings die Vernunftansicht durch eine andere ergan-
zen, die ihre Quelle nicht im Denken hat. Diese nach sei-
ner Meinung hohere Ansicht nannte er « positive Philo-
sophies Sie «ist die eigentliche freie Philosophic; wer sie
nicht will, mag sie lassen, ich stelle es jedem frei, ich sage
nur, dafi, wenn einer zum Beispiel den wirklichen Her-
gang, wenn er eine freie Weltschopfung usw. will, er die-
ses alles nur auf dem Wege einer solchen Philosophie ha-
ben kann. 1st ihm die rationale Philosophie genug, und
verlangt er aufier dieser nichts, so mag er bei dieser blei-
ben, nur mu£ er aufgeben, mit der rationalen Philosophie
und in ihr haben zu wollen, was diese in sich schlechter-
dings nicht haben kann, namlich den wirklichen Gott und
den wirklichen Hergang und ein freies Verhaltnis Gottes
zur Welt.» Die negative Philosophie wird «vorzugsweise
die Philosophie fiir die Schule bleiben, die positive die fur
das Leben. Durch beide zusammen wird erst die vollstan-
dige Weihe gegeben sein, die man von der Philosophie zu
verlangen hat. Bekanntlich wurden bei den eieusinischen
Weihen die kleinen und die grofien Mysterien unterschie-
den, die kleinen galten als eine Vorstufe der grofien. . . .
Die positive Philosophie ist die notwendige Folge der
rechtverstandenen negativen, und so kann man wohl sa-
gen: in der negativen Philosophie werden die kleinen, in
der positiven die grofien Mysterien der Philosophie ge-
feiert.»
Wird das Innenleben als das Gottliche erklart, dann er-
scheint es inkonsequent, bei einem Teil dieses Innenlebens
stehen zu bleiben. Schelling hat diese Inkonsequenz nicht
begangen. In dem Augenblicke, in dem er sagte: die Natur
erklaren heifie die Natur schaffen, hat er seiner ganzen
Lebensanschauung die Richtung gegeben. 1st das denkende
Betrachten der Natur eine Wiederholung ihres Sdiaffens,
so muft audi der Grunddiarakter dieses Sdiaffens dem des
menschlichen Tuns entspredien: er mufi ein Akt der Frei-
heit, nidit ein soldier geometrisdier Notwendigkeit sein.
Ein freies SchafTen konnen wir aber audi nicht durch Ge-
setze der Vernunft erkennen; es mufi sich durch ein an-
deres Mittel offenbaren.
Die menschliche Einzelpersonlidikeit lebt in dem geisti-
gen Urwesen und durch dieses; dennoch ist sie im Besitze
ihrer vollen Freiheit und Selbstandigkeit. Diese Vorstel-
lung betrachtete Schelling als eine der wichtigsten innerhalb
seiner Weltanschauung. Wegen dieser Vorstellung glaubte
er in seiner idealistischen Ideenrichtung einen Fortschritt
gegeniiber friiheren Anschauungen erblicken zu diirfen;
weil diese dadurch, dafi sie das Einzelwesen im Welten-
geiste gegriindet sein liefien, es audi ganz allein durdi die-
sen bestimmt daditen, ihm also Freiheit und Selbstandig-
keit raubten. «Denn bis zur Entdeckung des Idealismus
fehlt der eigentliche BegrifF der Freiheit in alien neueren
Systemen, im Leibnizischen so gut wie im Spinozisdien;
und eine Freiheit, wie sie viele unter uns gedacht haben,
die sich noch dazu des lebendigsten Gefiihls derselben riih-
men, wonach sie namlich in der blofien Herrschaft des in-
telligenten Prinzips uber das sinnliche und die Begierden
besteht, eine solche Freiheit liefie sich nicht zur Not, son-
dern ganz leicht und sogar bestimmter audi aus dem Spi-
noza nodi herleiten.» Ein Mann, der nur an eine soldie
Freiheit dadite, und der mit Hilfe von Gedanken, die dem
Spinozismus entlehnt waren, dieVersohnung des religiosen
Bewulkseins mit der denkenden Weltbetrachtung, der
Theologie mit der Philosophic, herbeizufuhren suchte, war
Sdiellings Zeitgenosse Friedrich Daniel Ernst Schleier-
macher (1768 — 1834). Er hat in seinen «Reden iiber die
Religion an die Gebildeten unter ihren Verachtern» (1799)
den Satz ausgesprochen: «Opfert mit mir ehrerbietig eine
Locke den Manen des heiligen, verstoftenen Spinoza! Ihn
durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein
Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige
Liebe ; in heiliger Unschuld und tief er Demut spiegelte er sich
in der ewigen Welt und sah zu, wie auch er ihr liebenswiir-
digster Spiegel war.» Freiheit ist fur Schleiermacher nicht
die Fahigkeit eines Wesens, sich Richtung und Ziel seines
Lebens selbst, in volliger Unabhangigkeit, vorzusetzen.
Sie 1st ihm nur «Aussichselbstentwickelung». Aber ein ¥e-
sen kann sich sehr wohl aus sich selbst entwickeln, und es
kann doch unfrei in einem hoheren Sinne sein. Wenn das
Urwesen der Welt in die einzelne Individuality einen
ganz bestimmten Keim gelegt hat, den diese zur Entwicke-
lung bringt, dann ist ihr der Weg ganz genau vorgezeich-
net, den sie zu gehen hat; und dennoch entwickelt sie sich
nur aus sich selbst. Eine solche Freiheit, wie sie Schleier-
macher denkt, ist also in einer notwendigen Weitordnung,
in der alles mit mathematischer Notwendigkeit sich ab-
spielt, ganz gut denkbar. Deshalb kann er audi sagen:
« Freiheit geht daher so weit als das Leben. . . . Audi die
Pflanze hat ihre Freiheit. » Weil Schleiermacher die Frei-
heit nur in diesem Sinne kannte, deshalb konnte er auch
den Ursprung der Religion in dem unfreiesten Gefiihl su-
chen, in dem der «schlechthinigen Abhdngigkeit» . Der
Mensdi fiihlt, dafi er sein Dasein auf ein anderes Wesen,
auf Gott, beziehen mufi. In diesem Gefuhle wurzelt sein
religioses Bewufitsein. Ein Gefiihl als soldies ist immer et-
was, das sidi an ein anderes kniipfen mufi. Es hat nur ein
Dasein aus zweiter Hand. Der Gedanke, die Idee haben
eine soldi selbstandige Existenz, dafi Sdielling von ihnen
sagen kann: «So werden die Gedanken wohl von der Seele
erzeugt; aber der erzeugte Gedanke ist eine unabhangige
Macht, fiir sidi fortwirkend, ja in der menschlichen Seele
so anwachsend, dafi er seine eigene Mutter bezwingt und
sidi unterwirft.» Wer daher das gottlidie Urwesen in Ge-
danken zu erfassen sucht, der nimmt es in sidi auf, und
hat es als selbstandige Madit in sidi. An diese selbstandige
Madit kann sidi dann ein Gefiihl ansdilieften, wie sidi an
die Vorstellung eines sdionen Kunstwerkes ein Gefiihl der
Bef riedigung anschliefit. Sdileiermadier will sidi aber nicht
des Gegenstandes der Religion bemachtigen, sondern nur
des religiosen Gefiihles. Er lafk den Gegenstand, Gott,
selbst vollig unbestimmt. Der Mensdi fiihlt sidi abhangig;
aber er kennt das Wesen nicht, von dem er abhangig ist.
Alle Begriffe, die wir uns von der Gottheit bilden, entspre-
dien dem hohen Wesen derselben nicht. Deshalb vermei-
det es Sdileiermadier audi, auf irgendweldie bestimmte
Begriffe iiber die Gottheit einzugehen. Die unbestimmte-
ste, leerste Vorstellung ist ihm die liebste. «Es war Reli-
gion, wenn die Alten - jede eigentiimlidie Art des Lebens
durch die ganze Welt hin als das Werk einer Gottheit an-
sahen; sie hatten die eigentiimlidie Handlungsweise des
Universums als ein bestimmtes Gefiihl aufgenommen und
bezeichneten sie so.» Deshalb zeigen die f einsinnigen "Wor-
te, die Schleiermacher iiber das Wesen der Unsterblichkeit
gesagt hat, dennodi etwas ganz Unbestimmtes: «Das Ziel
und der Charakter eines religiosen Lebens ist ... nicht jene
Unsterblidikeit aufier der Zeit und hinter der Zeit, oder
vielmehr nur nach dieser Zeit, aber doch in der Zeit, son-
dern die Unsterblidikeit, die wir schon in diesem zeklichen
Leben unmittelbar haben konnen, und die eine Aufgabe
ist, in deren Losung wir immerfort begriffen sind. Mitten
in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendiichen und
ewig sein in jedem Augenblick, das ist die Unsterblidikeit
der Religion. » Hatte Sdielling das gesagt, so konnte man
damit eine bestimmte Vorstellung verknupfen. Es hiefie
dann, der Mensdi erzeugt in sich den Gedanken Gottes.
Dies ist nichts anderes als ein Erinnern Gottes selbst an
sein eigenes Wesen. Das Unendliche lebt also im Gottes-
gedanken des Einzelwesens auf. Es ist in dem Endlichen
gegenwartig. Dieses nimmt daher selbst an der Unend-
lidikeit teil. Da es aber Schleiermacher ohne die Schelling-
schen Grundlagen sagt, bleibt es vollig im Nebelhaften
stecken. Es driickt das blofie dunkle Gefuhl aus, dafi der
Mensch von einem Unendiichen abhangig sei. Es ist die
Theologie in Schleiermacher, die ihn hindert, zu bestimm-
ten Vorstellungen iiber das Urwesen der Welt fortzu-
schreiten. Er mdchte die Religiositat, die Frommigkeit auf
eine hohere Stufe heben. Denn er ist eine Personlichkeit
von seltener Gemutstiefe. Das religiose Gefuhl soil ein
wiirdiges sein. Alles, was er iiber dieses Gefuhl sagt, ist
von vornehmer Art. Er hat die iiber alle Schranken des
Herkommens und der gesellschaftlichen Begriffe hinaus-
greifende, rein aus der eigenen Willkur geborene Moral
verteidigt, die in Schlegels «Lucinde» herrscht; er durfte
es, denn er war iiberzeugt, dafi der Mensch fromm sein
kann, audi wenn er im Sittlichen das Gewagteste voll-
bringt. «Es gibt keine gesunde Empfindung, die nicht
fromm ware», durfte er sagen. Er hat die Frommigkeit
verstanden. Was Goethe in seinem spateren Alter in dem
Gedicht «Trilogie der Leidenschaft» ausspridit: «In un-
seres Busens Reine wogt ein Streben, sich einem Hohern,
Reinen, Unbekannten aus Dankbarkeit freiwillig hinzu-
geben, entratselnd sidi den ewig Ungenannten; wir hei-
fien's: fromm sein» y - dieses Gefiihl kannte Schleiermacher.
Deshalb wulke er das religiose Leben zu schildern. Den
Gegenstand der Hingabe wollte er nicht erkennen. Ihn
mag jede Art von Theologie auf ihre Weise bestimmen.
Ein Reich der Frommigkeit wollte Schleiermacher schafTen,
das von dem Wissen uber die Gottheit unabhangig ist. In
diesem Sinne ist er ein Versohner des Glaubens mit dem
"Wissen.
'C
«In der neuesten Zeit hat die Religion immer mehr die
gebildete Ausdehnung ihres Inhalts zusammengezogen und
sich in das Intensive der Frommigkeit oder auch des Ge-
fiihls, und oft einen sehr diirftigen und kahlen Gehalt
manifestierenden Gefuhls, zuriickgezogen.» So schrieb He-
gel in dem Vorwort zur zweiten Ausgabe seiner «Enzy-
klopadie der philosophischen Wissenschaften» (1827); und
er fuhr fort: «So lange sie noch ein Credo, eine Lehre,
eine Dogmatik hat, so hat sie das, mit dem die Philoso-
phic sich beschaftigen und in dem sie als solche sich mit
der Religion vereinigen kann. Dies ist jedoch wieder nicht
nach dem trennenden schlechten Verstande zu nehmen, in
dem die moderne Religiositat befangen ist, und nach wel-
chem sie beide so vorstellt, dafi die eine die andere aus-
schliefien, oder uberhaupt so trennbar seien, daft sie sich
dann nur von auften her verbinden. Vielmehr liegt audi
in dem Bisherigen, dafi die Religion wohl ohne Philoso-
phic, aber die Philosophic nidit ohne Religion scin kann,
sondern diese vielmehr in sich schliefit. Die wahrhafte Re-
ligion, die Religion des Geistes, mufi ein solches [Credo],
einen Inhalt, haben; denn der Geist ist wesentlich Bewulk-
sein, somit von dem gegenstandlich gemachten Inhalt; als
Geftihl ist er der ungegenst'dndliche Inhalt selbst . . . und
nur die niedrigste Stufe des Bewufttseins, ja in der mit
dem Tiere gemeinschaftlichen Form der Seele. Das Denken
macht die Seele, womit audi das Tier begabt ist, erst zum
Geiste; und die Philosophic ist nur ein Bewufitsein iiber
jenen Inhalt, den Geist und seine Wahrheit, audi in der
Gestalt und Weise jener seiner, ihn vom Tiere unterschei-
denden und der Religion fdbig macbenden Wesenheit.»
Die ganze geistige Physiognomie Georg Wilbelm Friedricb
Hegels (1770 — 1 831) stellt sich vor unseren Geist hin,
wenn wir solche Worte von ihm vernehmen, durch die er
klar und scharf ausdriicken wollte, dafi er im Denken, das
sich seiner selbst bewuftt ist, die hochste Tatigkeit des Men-
schen sieht, diejenige, durch die dieser allein cine Stellung
zu den obersten Fragen gewinnen kann. Das von Schleier-
macher f iir den Schopfer der Frommigkeit angesehene Ge-
fiihl der Abhangigkeit erklarte Hegel fur das edit ticri-
sche; und er aufterte paradox: Wenn dieses Abhangigkeits-
gefiihl das Wesen des Christentums ausmachen sollte, so
ware der Hund der beste Christ. Hegel ist eine Person-
lichkeit, die ganz im Elemente des Denkens lebt. «Weil
der Mensch denkend ist, wird es ebensowenig der gesunde
Menschenverstand als die Philosophic sich je nehmen las-
sen, von und aus der empirischen Weltanschauung sich zu
Gott zu erheben. Dieses Erheben hat nichts anderes zu
seiner Grundlage, als die denkende, nicht bio ft sinnliche,
tierische Betrachtung der Welt.» Was sich durch selbst-
bewufkes Denken gewinnen lafit, das macht Hegel zum
Inhalt der Weltanschauung. Denn was der Mensdi auf
einem anderen Wege als durch dieses selbstbewufite Den-
ken gewinnt, das kann nichts anderes als eine Vorstufe zu
einer Weltanschauung sein. «Das Erheben des Denkens
iiber das Sinnliche, das Hinausgehen desselben iiber das
Endliche zum Unendlichen, der Sprung, der mit Abbre-
chung der Reihen des Sinnlichen ins Ubersinnliche gemacht
werde, alles dieses ist das Denken selbst, dies Obergehen ist
nur Denken. Wenn solcher Obergang nicht gemacht werden
soli, so heilk dies, es soil nicht gedacht werden. In der Tat
machen die Tiere solchen Obergang nicht; sie bleiben bei
der sinnlichen Empfindung und Anschauung stehen; sie
haben deswegen keine Religion. » Was der Mensch durch
das Denken den Dingen entlocken kann, ist also das Hoch-
ste, was in diesen fiir ihn da ist. Dieses kann er daher nur
ihr Wesen nennen. Der Gedanke ist also fiir Hegel das
Wesen der Dinge. Alles sinnliche Vorstellen, alles wissen-
schaftlicheBeobachten der Welt und ihrerVorgange kommt
zuletzt darauf hinajus, dafi sich der Mensch Gedanken
iiber den Zusammenhang der Dinge macht. Hegels Arbeit
setzt nun da ein, wo sinnliches Vorstellen, wissenschaft-
liches Beobachten an sein Ziel gelangt ist - beim Gedan-
ken, wie er im Selbstbewulksein lebt. Der wissenschaft-
liche Beobachter betrachtet die Natur; Hegel betrachtet
dasjenige, was der wissenschaftliche Beobachter iiber die
Natur aussagt. Der erstere sucht durch sein wissenschaft-
liches Verfahren die Mannigfaltigkeit der Naturerschei-
nungen auf eine Einheit zuriickzufiihren; er erklart den
einen Vorgang aus dem anderen; er strebt nach Ordnung,
nach organischer Ubersidit iiber das Ganze, das sidi seinen
Sinnen als eine ungeordnete Vielheit darbietet. Hegel
sudit in den Resultaten des Naturforschers Ordnung und
harmonische Ubersidit. Er fiigt zu der Wissenschaft der
Natur die Wissenschaft der Gedanken iiber die Natur hin-
zu. Alle Gedanken, die man sich iiber die Welt macht,
bilden natur gemafi ein einheitliches Ganzes, wie die Na-
tur audi ein einheitliches Ganzes ist. Der wissenschaftliche
Beobachter gewinnt seine Gedanken an den einzelnen Din-
gen; deshalb treten sie zunachst auch in seinem Geiste als
einzelne auf, einer neben dem andern. Betrachten wir sie
so nebeneinander, so schliefien sie sich zu einem Ganzen
zusammen, innerhalb dessen jeder einzelne ein Glied ist.
Dieses Ganze der Gedanken will die Philosophic Hegel s
sein. So wenig der Naturforscher, der die Gesetze des
Sternenhimmels feststellen will, glaubt, dafi er aus diesen
Gesetzen heraus den Sternenhimmel aufbauen kann, so
wenig glaubt Hegel, der die gesetzmafiigen Zusammen -
hange innerhalb der Gedankenwelt sucht, daft er aus den
Gedanken heraus irgendwelche naturwissenschaftlichen
Gesetze finden konne, die nur durch erfahrungsgemafies
Beobachten festgestellt werden konnen. Was immer wie-
der behauptet wird, Hegel habe aus dem reinen Denken
die voile und unbeschrankte Erkenntnis des Weltganzen
schopfen wollen, beruht auf nichts weiter als auf einem
naiven Mifiverstandnis seiner Anschauung. Er hat doch
deutlich genug gesagt: «Das, was ist zu begreifen, ist die
Aufgabe der Philosophie; denn was verniinftig ist, das ist
wirklich, was wirklich ist, das ist verniinftig. Wenn die
Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt
des Lehens alt geworden . . .; die Eule der Minerva he-
ginnt erst mit der einbrechenden Dammerung ihr en Flug.»
Das heifit doch wohl nichts anderes, als dafi die tatsach-
lichen Erkenntnisse sdion da sein miissen, wenn der Den-
ker kommt, und sie von seinem Gesichtspunkte aus be-
leuditet. Man verlange nur nicht von Hegel, dafi er neue
Naturgesetze aus dem reinen Denken hatte ableiten sol-
len; denn das wollte er durchaus nicht. Nem, er wollte
nidits anderes, als iiber die Summe der Naturgesetze, die
zu seiner Zeit vorhanden waren, ein philosophisches Licht
werfen. Von dem Naturforscher verlangt niemand, dafi
er den Sternenhimmel schaffe, obgleich er iiber ihn seme
Forschungen anstellt; Hegels Ansichten werden fiir un-
fruchtbar erklart, weil er, der iiber den Zusammenhang
der Naturgesetze nachgedacht hat, nicht zugleich diese
Naturgesetze geschaffen hat.
Wozu der Mensch zuletzt kommt, indem er sich in die
Dinge vertieft, das ist ihr Wesen. Es liegt ihnen zugrunde.
Das, was der Mensch als seine hochsten Erkenntnisse auf-
nimmt, ist zugleich das tiefste Wesen der Dinge. Der im
Menschen lebende Gedanke ist also audi der objektive
Gehalt der Welt. Man kann sagen: Der Gedanke ist zu-
erst in der Welt auf eine unbewufite Weise; dann wird er
von dem menschlichen Geiste aufgenommen, er erscheint
sich selbst in dem menschlichen Geiste. So wie der Mensch,
wenn er den Blick in die Natur richtet, zuletzt den Ge-
danken findet, der ihm deren Erscheinungen begreiflich
macht, so lindet er, wenn er Einkehr halt in sich selbst,
audi hier zuletzt den Gedanken. Wie das Wesen der Na-
tur die Gedanken sind, so ist audi des Menschen eigenes
Wesen Gedanke. Im menschlichen Selbstbewufitsein schaut
sich also der Gedanke selbst an. Die Wesenheit der Welt
kommt zu sich selbst. In den anderen Naturgeschopfen
arbeitet der Gedanke; seine Wirksamkeit ist nicht auf sich
selbst, sondern auf anderes gerichtet. Die Natur enthalt
daher den Gedanken; aber im denkenden Menschen ist
der Gedanke nicht nur enthalten, er wirkt nidit nur, son-
dern er ist auf sich selbst gerichtet. In der aufieren Natur
lebt sich der Gedanke zwar auch aus, aber er flieik da in
ein anderes aus; im Menschen lebt er in sich selbst. So er-
scheint fur Hegel der ganze Weltprozefi als ein Gedanken-
prozefi. Und alle Vorgange dieses Prozesses stellen sich
dar als Vorstufen zu dem hochsten Ereignisse, das es gibt:
zu dem denkenden Erfassen des Gedankens selbst. Dieses
Ereignis spielt sich im menschlichen Selbstbewufitsein ab.
Der Gedanke arbeitet sich also fortschreitend hindurch bis
zu seiner hochsten Erscheinungsform, in der er sich selbst
begreift.
Wenn man somit irgendein Ding der Wirklichkeit,
einen Vorgang anblickt, so wird man immer eine bestimm-
te Entwickelungsform des Gedankens in diesem Dinge
oder Vorgange sehen. Der Weltprozefi ist fortschreitende
Gedankenentwickelung. Aufier der hochsten Stufe dieser
Entwickelung enthalten alle anderen Stadien einen "Wi-
derspruch. Es ist Gedanke in ihnen, aber dieser hat mehr
in sich, als er in einem solchen niedrigen Stadium ausgibt.
Er iiberwindet daher diese seine widerspruchsvolle Er-
scheinungform und eilt zu einer hoheren, die ihm mehr
entspricht. Es ist also der Widerspruch, der die Gedan-
kenentwickelung vorwartstreibt. Wenn der Naturbeobach-
ter die Dinge denkend beobachtet, so bildet er sich daher
in sich widerspruchsvolle Begriffe von denselben. Wenn
dann der philosophische Denker diese aus der Naturbeob-
achtung gewonnenen Gedanken aufgreift, so findet er in
ihnen widerspruchsvolle ideelle Gebilde. Aber dieser Wi-
derspruch ist es gerade, der es ihm moglich macht, aus den
einzelnen Gedanken ein ganzes Gedankengebaude zu ma-
dien. Er sucht das in einem Gedanken auf, was wider-
spruchsvoll ist. Und es ist widerspruchsvoll, weil der Ge-
danke auf eine hohere Stufe seiner Entwickelung weist.
Durch den in ihm enthaltenen Widerspruch deutet also je-
der Gedanke auf einen anderen, auf den er im Laufe der
Entwickelung zueilt. So kann der Philosoph bei dem ein-
fadisten Gedanken beginnen, der ganz leer ist an Inhalt,
bei dem abstrakten Sein. Er wird durch den in diesem Ge-
danken selbst liegenden Widerspruch aus ihm herausge-
trieben zu einer hoheren und weniger widerspruchsvollen
Stufe, und dann weiter, bis er bei dem hochsten Stadium
anlangt, bei dem in sich selbst lebenden Gedanken, wel-
ches die hochste Aufterung des Geistes ist.
Durch Hegel wird der Grundcharakter des neueren
Weltanschauungsstrebens ausgesprochen. Der griechische
Geist kennt den Gedanken als Wahrnehmung, der neuere
Geist als Selbsterzeugnis der Seele. Die Geschopfe des
Selbstbewulkseins verfolgt Hegel betrachtend, indem er
seine Weltanschauung darstellt. Er hat es zunachst also
nur mit dem Selbstbewufitsein und seinen Erzeugnissen zu
tun. Dann aber wird ihm die Tatigkeit dieses Selbstbe-
wulkseins eine solche, in der sich dieses Selbstbewufksein
mit dem Weltengeiste verbunden fiihlt. Der griechische
Denker betrachtet die Welt, und diese Betrachtung gibt
Aufschlu£ iiber das Wesen der Welt. Der neuere Denker
in Hegel will sich in die schaffende Welt einleben, sich in
sie versetzen; er glaubt sich selbst dann in ihr zu entdecken
und lalk in sich aussprechen, was der Geist der Welt als
sein Wesen ausspricht, wobei dieses Wesen des Weltgeistes
lebendig in dem Selbstbewufksein anwesend ist. Was Plato
innerhalb der griechischen Welt ist, das ist Hegel inner-
halb der neueren. Plato erhebt den betrachtenden Geistes-
blick zur Ideenwelt und laftt von diesem betrachtenden
Blick das Geheimnis der Seele aufFangen; Hegel lafit die
Seele in den Weltgeist untertauchen und lafit sie dann,
nachdem sie untergetaucht ist, ihr inner es Leben entfalten.
So lebt sie als eigenes Leben mit, was der Weltgeist lebt,
in den sie untergetaucht ist.
Hegel hat also den menschlichen Geist bei seiner hoch-
sten Tatigkeit, dem Denken, ergriff en und dann zu zeigen
versucht, welchen Sinn innerhalb des Weltganzen diese
hochste Tatigkeit hat. Sie stellt das Ereignis dar, in dem
das in die ganze Welt ausgegossene Urwesen sich wieder-
findet. Die hochsten Verrichtungen, durch die dieses Wie-
derflnden geschieht, sind Kunst, Religion und Philosophic
In dem Naturwerke ist der Gedanke vorhanden; aber er
ist sich hier selbst entfremdet; er erscheint nicht in seiner
ureigenen Gestalt. Wenn man einen wirklichen Lowen an-
sieht, so ist dieser ja nichts anderes als die Verkorperung
des Gedankens «L6we»; aber es handelt sich hier nicht urn
den Gedanken des Lowen, sondern um das korperhafte
Wesen; dieses Wesen selbst geht der Gedanke nichts an.
Erst wenn ich es begreifen will, suche ich den Gedanken.
Ein Kunstwerk, das einen Lowen darstellt, tragt, was ich
an dem wirklichen Wesen nur begreifen kann, aufierlich
an sich. Das Korperhafte ist nur da, um den Gedanken an
sich erscheinen zu lassen. Der Mensch erschafft Kunstwerke,
damit er das, was er sonst an den Dingen nur in Gedan-
ken erfafit, audi in aufierer Anschauung vor sich habe.
Der Gedanke kann sich in Wirklichkeit, in seiner ihm
eigenen Gestalt, nur im menschlichen Selbstbewulksein er-
scheinen. Was in Wirklichkeit nur hier erscheint, das pragt
der Mensch dem sinnlichen StofTe ein, damit es scheinbar
audi an ihm erscheine. Als Goethe vor den Kunstwerken
der Griechen stand, drangte es ihn zu dem Ausspruche:
da ist Notwendigkeit, da ist Gott. In Hegels Sprache, in
der Gott im Gedankengehalt der Welt sich ausspridit und
sich im menschlichen Selbstbewufksein selbst darlebt, wiir-
de das heiften: Aus den Kunstwerken blicken dem Men-
schen die hochsten OfTenbarungen der Welt entgegen, die
ihm in Wirklichkeit nur innerhalb seines eigenen Geistes
zuteil werden. Die Philosophic enthalt den Gedanken in
seiner ganz rein en Form, in seiner ureigensten Wesenheit.
Die hochste Erscheinungsform, welche das gottliche Ur-
wesen annehmen kann, die Gedankenwelt, ist in der Phi-
losophic enthalten. Im Sinne Hegels kann man sagen:
Gottlich, das ist gedankenerfullt, ist die ganze Welt, aber
in der Philosophic erscheint das Gottliche ganz unmittel-
bar in seiner Gottiichkeit, wahrend es in anderen Erschei-
nungen die Gestalten des Ungottlichen annimmt. Zwischen
der Kunst und der Philosophic -stent die Religion. Der Ge-
danke lebt in dieser nodi nicht als reiner Gedanke, son-
dern im Bilde, im Symbol. Das ist audi bei der Kunst der
Fall; aber bei ihr ist das Bild ein solches, das der aufteren
Ansdiauung entlehnt ist; die Bilder der Religion aber
sind vergeistigt.
Zu diesen hochsten Erscheinungsformen des Gedankens
verhalten sich alle anderen menschlichen Lebensaufierun-
gen wie unvollkommene Vorstufen. Aus solchen Vorstufen
setzt sich das ganze geschichtliche Leben der Menschheit
zusammen. Wer daher den aufieren Hergang der histori-
schen Erscheinungen verfolgt, wird manches finden, das
dem reinen Gedanken, der Gegenstand der Vernunft ist,
nicht entspricht. Wer aber defer blickt, wird sehen, daft
in der geschichtlichen Entwidielung doch der vernunftige
Gedanke sich verwirklicht. Er verwirklicht sich nur auf
eine Art, die in ihrer unmittelbaren Au£erlichkeit ungott-
lidi erscheint. Man kann daher im ganzen dock sagen:
«Alles Wirkliche ist verniinftig.» Und gerade darauf
kommt es an, dafi sick im Ganzen der Geschichte der Ge-
danke, der historische Weltgeist verwirkliche. Das ein-
zelne Individuum ist nur ein Werkzeug zur Verwirkli-
chung der Zwecke dieses Weltgeistes. Weil Hegel in dem
Gedanken das hochste Wesen der Welt erkennt, deshalb
verlangt er audi von dem Individuum, daft es sich den
allgemeinen, in der Weltentwickelung waltenden Gedan-
ken unterordne. Dies sind die grofien Menschen in der
Geschichte, deren eigentliche partikulare Zwecke das Sub-
stantielle enthalten, welches der Wille des Weltgeistes ist.
Dieser Gehalt ist ihre wanrhafte Macht; er ist in dem all-
gemeinen bewufklosen Instinkt der Menschen; sie sind
innerlich dazu getrieben und haben keine weitere Hal-
tung, dem, welcher die Ausfuhrung solchen Zweckes in
seinem Interesse iibernommen hat, Widerstand zu leisten.
Die Volker sammeln sich vielmehr urn sein Panier; er
zeigt ihnen und fiihrt das aus, was ihr eigener immanen-
ter Zweck ist. Werfen wir weiter einen Blick auf das
Schicksal dieser welthistorischen Individuen, so haben sie
das Gliick gehabt, die Geschaftsfiihrer eines Zweckes zu
sein, der eine Stufe in dem Fortschreiten des allgemeinen
Geistes war. Indem sich die Vernunft dieser Werkzeuge
bedient, konnen wir es eine List derselben nennen, denn
sie lark sie mit aller Wut der Leidenschaft ihre eigenen
Zwecke vollfuhren und erhalt sich nicht nur unbeschadigt,
sondern bringt sich selbst hervor. Das Partikulare ist mei-
stens zu gering gegen das Allgemeine: die Individuen wer-
den geopfert und preisgegeben. Die Weltgeschichte stellt
sicfa somit als der Kampf der Individuen vor, und in dem
Felde dieser Besonderheit geht es ganz natiirlich zu. Wie
in der tierischen Natur die Erhaltung des Lebens Zweck
und Instinkt des einzelnen ist, wie aber doch hier die Ver-
nunft, das Allgemeine, vorherrsdit, und die einzelnen fal-
len, so geht es auch in der geistigen Welt zu. Die Leiden-
schaften zerstoren sich gegenseitig; die Vernunft allein
wacht, verfolgt ihren Zweck und macht sich geltend. - Der
einzelne kann nur in der Betrachtung, in seinem Denken
den Allgeist umfassen. Nur in der Weltbetrachtung ist
Gott in ihm ganz gegenwartig. Wo der Mensch handelt,
wo er ins tatige Leben eingreift, da ist er ein Glied und
kann deshalb audi nur als Glied an der allgemeinen Ver-
nunft teilnehmen. Aus solchen Gedanken fiie£t audi He-
gels Staatslehre. Mit seinem Denken ist der Mensch allein;
mit seinen Taten ist er Glied der Gemeinschaft. Die ver-
minftige Ordnung der Gemeinschaft, der Gedanke, der sie
durchdringt, ist der Staat. Die einzelne Individualitat als
solche ist f ur Hegel nur insoweit etwas wert, als in ihr die
allgemeine Vernunft, der Gedanke erscheint. Denn der
Gedanke ist das Wesen der Dinge. Ein Naturprodukt hat
es nicht in seiner Macht, den Gedanken in sich in seiner
hochsten Form erscheinen zu lassen; der Mensch hat diese
Macht. Er wird daher nur seine Bestimmung erreichen,
wenn er sich zum Trager des Gedankens macht. Da der
Staat der realisierte Gedanke ist, und der einzelne Mensch
nur ein Glied innerhalb desselben, so hat der Mensch dem
Staate und nicht der Staat dem Menschen zu dienen.
«Wenn der Staat mit der burgerlichen Gesellschaft ver-
wechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den
Schutz des Eigentums und der personlichen Freiheit ge-
setzt wird, so ist das Interesse der einzelnen als solcher der
letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt
hieraus ebenso, da£ es etwas Beliebiges ist, Mitglied des
Staates zu sein. Er hat aber ein ganz anderes Verhaltnis
zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das
Individuum selbst nur Objektivitat, Wahrheit und Sitt-
Iichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als
sol die ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die
Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu
fiihren; ihre weitere besondere Befriedigung, Tatigkeit,
Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und allgemein
Giiltige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate.» Wie
stent es mit der Freibeit innerhalb einer solchen Lebens-
auffassung? Den Begriff einer Freiheit, welcher der einzel-
nen menschlichen Personlichkeit ein unbedingtes Recht zu-
erkennt, das Ziel und die Bestimmung ihrer Tatigkeit sich
selbst zu setzen, lafit Hegel nicht gelten. Denn was sollte es
fur einenWert haben, wenn diese einzelne Personlichkeit
ihr Ziel nicht aus der vernunftigen Gedankenwelt nahme,
sondern sich nach volliger Willkiir entschiede? Das ware,
nach seiner Meinung, gerade die Unfreiheit. Ein solches In-
dividuum entsprache nicht seinem Wesen; es ware unvoll-
kommen. Ein vollkommenes Individuum kann nur sein
Wesen verwirklichen wollen; und das Vermogen, dies zu
tun, ist seine Freiheit. Dieses sein Wesen ist aber verkor-
pert im Staate. Handelt der Mensch im Sinne des Staates,
so handelt er demnach frei. «Der Staat, an und fiir sich,
ist das sittliche Ganze, Verwirklichung der Freiheit, und
es ist absoluter Zweck der Vernunft, daft die Freiheit wirk-
lich sei. Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht und
sich in derselben mit Bewufitsein realisiert, wahrend er
sich in der Natur nur als das andere seiner, als schlafender
Geist verwirklicht . . . Es ist der Gang Gottes in der Welt,
dafi der Staat ist; sein Grund ist die Gewalt der sich als
Wille verwirklichenden Vernunft.» Hegel kommt es nir-
gends auf die Dinge als solche, sondern stets auf den ver-
nunftigen, gedanklichen Inhalt derselben an. Wie er auf
dem Felde der Weltbetrachtung iiberali die Gedanken
suchte, so wollte er audi das Leben vom Gesichtspunkte
des Gedankens aus geleitet wissen. Deshalb kampfte er
gegen unbestimmte Staats- und Gesellschaftsideale und
warf sich zum Verteidiger des Wirklich-Bestehenden auf.
Wer fur ein unbestimmtes Ideal in der Zukunft schwarmt,
der glaubt, nach Hegels Meinung, dafi die allgemeine Ver-
nunft auf ihn gewartet habe, um zu erscheinen. Einem sol-
chen musse man besonders klarmachen, dafi in allem Wirk-
lichen schon Vernunft sei. Er nannte den Professor Fries,
dessen Kollege er in Jena, dessen Nachfolger er in Heidel-
berg war, den «Heerftthrer aller Seichtigkeit», weil dieser
aus dem «Brei des Herzens» heraus ein solches Zukunfts-
ideal habe formen wollen.
Die weitgehende Verteidigung des Wirklichen und Be-
stehenden hat Hegel selbst von seiten derjenigen, die seiner
Ideenrichtung freundlich gegeniiberstanden, schwere Vor-
wiirfe eingetragen. Ein Anhanger Hegels, Johann Eduard
Erdmann, schreibt dariiber: «Das entschiedene Ober-
gewicht, welches namentlich in der Mitte der zwanziger
Jahre der Hegelschen Philosophic vor alien gleichzeitigen
Systemen eingeraumt ward, hat seinen Grund darin, daft
der momentanen Ruhe, welche den wilden Kampfen im
politischen, religiosen und kirchlich-politischen Gebiete ge-
folgt war, eine Philosophic entsprach, welche Feinde ta-
delnd, Freunde lobend ,Restaurationsphilosophie' genannt
haben. Sie ist dies in viel wekerer Ausdehnung, als die
den Namen erfanden, gemeint haben.»
Man darf aber audi nidit iibersehen, dafi gerade durdi
seinen Wirklichkeitssinn Hegel eine im hohen Grade le-
bensfreundliche Anschauung sdiuf . Schelling hat mit seiner
«Philosophie der 0£fenbarung» eine Anschauung fiir das
Leben schaffen wollen. Allein wie fremd sind die BegrifTe
seiner Gottesbetrachtung dem unmittelbar-wirklichen Le-
ben. Es kann eine solche Anschauung hochstens ihren Wert
fiir jene Feieraugenblicke des Lebens haben, in denen der
Mensch sich von der Alltaglichkeit zuriickzieht und den
hochsten Stimmungen hingibt; in denen er, sozusagen, kei-
nen Weltdienst, sondern allein noch Gottesdienst verrich-
tet. Hegel hat dagegen den Menschen mit dem Gefiihle
durchdringen wollen, dafi er auch in der alltaglichen Wirk-
lichkeit dem Allgemein-Gottlichen dient. Bei ihm reicht
gleichsam das Gottliche herunter bis in die kleinsten Din-
ge, wahrend es sich bei Schelling in die hochsten Regionen
des Daseins zuriickzieht. Weil er die Wirklichkeit und das
Leben liebte, deshalb suchte Hegel sie so verniinftig als
moglich vorzustellen. Er wollte, dafi der Mensch jeden
Schritt und Tritt mit Vernunft mache. Im Grunde schatzte
er die Einzelpersonlichkeit doch nicht gering. Wir sehen
dies aus Ausspruchen wie diesen: «Das Reichste ist ... das
Konkreteste und Subjektivste, und das sich in die einfach-
ste Tiefe Zuriicknehmende das Machtigste und tJbergrei-
fendste. Die hochste zugescharfteste Spitze ist die reine
Persdnlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik,
die ihre Natur ist, ebensosehr alles in sich befa$t und halt,
weil sie sich zum Freiesten macht, zur Einfachheit, welche
die erste Unmittelbarkeit und Allgemeinheit ist.» Aber,
um «reine Pers6nlichkeit» zu werden, mufi sich der ein-
zelne auch. mit dem ganzen Verniinftigen durchdringen
und es zu seinem Selbst machen. Denn die « reine Person-
lidikeit» ist zugleidi das Hochste, wozu sich der Mensch
hinaufentwickeln kann, was er aber keineswegs von Natur
aus schon ist. Hat er sich dahin erhoben, dann gilt von
ihm das Hegelsche Wort: «Dafi der Mensch von Gott
weifi, ist nach der wesentlichen Gemeinschaft ein gemein-
schaftliches Wissen, d. i. der Mensch weift nur von Gott,
insofern Gott im Menschen von sich selbst weifi: dieses
Wissen ist Selbstbewufksein Gottes, aber ebenso ein Wis-
sen desselben vom Menschen, und dies Wissen Gottes vom
Menschen ist Wissen des Menschen von Gott. Der Geist
des Menschen, von Gott zu wissen 3 ist nur der Geist Got-
tes selbst. » Nur ein Mensch, in dem solches verwirklicht
ist, verdient nach Hegels Meinung im hochsten Sinne des
Wortes den Namen Personlichkeit. Denn bei ihm fallen
Vernunft und Individuality t zusammen; er verwirklicht
den Gott in sich, dem er in seinem Bewufksein das Organ
gibt, um sich selbst anzuschauen. Alle Gedanken blieben
abstrakte, unbewufke, ideelle Gebilde, wenn sie im Men-
schen nicht lebendige Wirklichkeit gewannen, Ohne den
Menschen ware Gott in seiner hochsten Vollkommenheit
gar nicht da. Er ware das unfertige Welturwesen. Er wuft-
te nichts von sich. Hegel hat diesen Gott vor seiner Ver-
wirklichung im Leben dargestellt. Den Inhalt dieser Dar-
stellung bildet die Logik. Sie ist ein Gebaude von leblosen,
starren, stummen Gedanken. Hegel nennt sie selbst das
«Reich der Schatten». Sie soli gewissermafien zeigen, wie
Gott in seinem innersten ewigen Wesen vor der Erschaf-
fung der Natur und des endlichen Geistes ist. Da aber die
Selbstanschauung notwendig zum Wesen Gottes gehort,
so ist der Inhalt der Logik noch der tote Gott, der nach
Dasein verlangt. In Wirklichkeit ist dieses Reich der rei-
nen, abstrakten Wahrheit nirgends vorhanden; nur unser
Verstand kann es von detn lebendigen Wirklichen abtren-
nen. Es gibt im Sinne Hegels kein irgendwo existierendes,
fertiges Urwesen, sondern nur ein solches, das in ewiger
Bewegung, in stetem Werden ist. Diese ewige Wesenheit
ist «die ewig wirkliche Wahrheit, in welcher die ewig wir-
kende Vernunft frei fiir sich ist, und fiir die Notwendig-
keit, Natur und Geschichte nur ihrer Offenbarung dienend
und Gefafie ihrer Ehre sind». Wie sich im Menschen die
Gedankenwelt selbst ergreift, das wollte Hegel darstellen.
Er hat in anderer Form Goethes Anschauung ausgespro-
chen: «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein
Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem gro-
fien, schonen, wiirdigen und werten Ganzen fiihlt, wenn
das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entziicken
gewahrt, dann wiirde das Weltall, wenn es sich selbst
empfinden konnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen
und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewun-
dern.» In Hegels Sprache iibersetzt heifit das: Wenn der
Mensch denkend sein eigenes Wesen erlebt, dann hat die-
ser Akt nicht nur eine individuelle, personliche Bedeutung,
sondern eine universelle; das Wesen des Weltalls erreicht
in der Selbsterkenntnis des Menschen seinen Gipfel, seine
Vollendung, ohne die es Fragment bliebe.
Die Hegelsche Vorstellung des Erkennens fa£t dieses
nicht wie ein Erfassen eines Inhaltes auf, der ohne das-
selbe fertig irgendwo in der Welt vorhanden ist, nicht als
eine Tatigkeit, die Abbilder des wirklichen Geschehens
schaflft. Was im Sinne Hegels im denkenden Erkennen ge-
schaffen wird, das ist sonst nirgends in der Welt vorhan-
den, nur eben im Erkennen. Wie die Pflanze auf einer ge-
wissen Stufe ihrer Entwickelung die Bliite hervorbringt,
so erzeugt das Weltall den Inhalt der menschlichen Er-
kenntnis. Und so wenig, wie die Bliite vor ihrer Entste-
hung vorhanden ist, so wenig ist es der Gedankeninhalt
der Welt, der im menschlichen Geiste zum Vorschein
kommt. Eine Weltanschauung, die der Meinung ist, dafi
in der Erkenntnis nur Abbilder von schon vorhandenem
Inhalt entstehen sollen, macht den Mensdien zum mii&i-
gen Zuschauer der Welt, die ohne ihn audi vollkommen
fertig da ware. Hegel macht dagegen den Menschen zum
tatigen Mitarbeiter am Weltgeschehen, dem ohne ihn der
Gipfel fehlen wiirde.
Grillparzer hat in seiner Art Hegels Meinung iiber das
Verhaltnis des Denkens zur Welt in einem bedeutsamen
Ausspruch charakterisiert:
Moglich, dafi du uns lehrst prophetisch das gottliche
Denken,
Aber das menschliche, Freund, richtest duwahrlich zu
Grund.
Der Dichter meint hier mit dem menschlichen Denken
dasjenige, das eben seinen Inhalt fertig in der Welt vor-
aussetzt und nichts sein will als das Abbild desselben. Fur
Hegel ist der Ausspruch kein Tadel. Denn dieses Denken
iiber etwas anderes ist, nach seiner Ansicht, noch nicht das
hochste, das vollkommenste Denken. Wenn man iiber ein
Ding der Natur nachdenkt, so sucht man einen BegrifT,
der mit seinem aufieren Gegenstande «ubereinstimmt».
Man begreift dann durch den Gedanken, den man sich
bildet, was der auEere Gegenstand ist. Man hat es mit
zweierlei zu tun, mit dem Gedanken und mit dem Gegen-
stande. Will man aber bis zum hochsten Gesichtspunkt
emporsteigen, den der Mensch erklimmen kann, dann darf
man sich nicht sdieuen, audi nodi zu fragen, was denn
der Gedanke selbst ist. Dazu haben wir aber kein anderes
Mittel als nur wieder den Gedanken. Im hodisten Erken-
nen ergreift also der Gedanke sich selbst. Er fragt nicht
mehr nach einer t)bereinstimmung mit etwas anderem. Er
hat es nur mit sich allein zu tun. Dieses Denken, das keine
Anlehnung an ein Aufieres, an irgendeinen Gegenstand
hat, erscheint Grillparzer wie ein Zerstorer des Denkens,
das die Aufschlusse gibt iiber die in Zeit und Raum aus-
gebreiteten mannigfaltigen Dinge der sinnlichen und gei-
stigen Wirklichkeit. Aber so wenig der Maler die Natur
zerstort, wenn er ihre Linien und Farben auf der Lein-
wand wiedergibt, so wenig zerstort der Denker die Ideen
der Natur, wenn er sie in ihrer geistigen Reinheit aus-
spricht. Es ist merkwiirdig, daft man gerade in dem Den-
ken ein der Wirklichkeit feindliches Element sehen will,
weil es von der Fulle des sinnlichen Inhaltes abstrahiert.
Ja, abstrahiert denn der Maler nicht, indem er blofi Farbe,
Ton und Linie gibt, von alien iibrigen Merkmalen eines
Gegenstandes? Hegel hat alle solche Einwande mit einem
hiibsdien Scherz getroffen: Wenn das in der Welt wirk-
same Urwesen «ausgleitet und aus dem Boden, wo es her-
umspaziert, ins Wasser fallt, so wird es em Fisch, ein Or-
ganisches, ein Lebendiges. Wenn es nun ebenso ausgleitet
und ins reine Denken fallt - denn auch das reine Denken
soli nicht sein Boden sein so soil es, da hineinplumpsend,
etwas Schlechtes, Endliches werden, von dem man sich
eigentlich schamen mufi zu sprechen, wenn's nicht amts-
halber geschahe und weil einmal nicht zu leugnen ist, dafi
eine Logik da sei. Das Wasser ist ein so kaltes, schlechtes
Element und es ist dem Leben doch so wohl darin. Soil
denn das Denken ein viel schlechteres Element sein? Soli
das Absolute sich sogar schlecht darin befinden und sidi
auch schlecht darin auffuhren?»
Es ist durchaus im Sinne Hegels gesprochen, wenn man
behauptet, das Urwesen der Welt habe die niedere Natur
und den Menschen geschaffen; an diesem Punkte ange-
langt, habe es sich beschieden, und es dem Menschen iiber-
lassen, zu der Aultenwelt und zu sich selbst hinzu auch
noch die Gedanken iiber die Dinge zu schafifen. So schafft
das Urwesen im Verein mit dem Menschen den ganzen
Inhalt der Welt. Der Mensch ist Mitschopfer des Seins,
nicht miifiiger Zuschauer, nicht erkennender Wiederkauer
dessen, was ohne sein Dasein auch da ware.
Was der Mensch in seinem innersten Dasein ist, das ist
er nicht durch ein anderes, das ist er durch sich selbst. Des-
halb betrachtet Hegel auch die Freiheit nicht als ein gott-
liches Geschenk, das dem Menschen ein fur allemal in die
Wiege gelegt worden ist, sondern als ein Ergebnis, zu dem
er im Laufe seiner Entwickelung allmahlich gelangt. Von
dem Leben in der Auftenwelt, von der Befriedigung im
rein sinnlichen Dasein erhebt er sich zum Begreifen seines
geistigenWesens, seiner eigenen Innenwelt. Dadurchmacht
er sich auch unabhangig von der Aufienwelt; er folgt sei-
ner inneren Wesenheit. Der Volksgeist enthalt Natur-
notwendigkeit und fuhlt sich in bezug auf seine Sitten
ganz abhangig von dem, was aufier dem einzelnen Men-
schen Sitte und Brauch, moralische Anschauung ist. Aber
allmahlich ringt sich die Personlichkeit los von dieser in
der Auftenwelt niedergelegten sittlichen Anschauungswelt
und dringt in ihr Inneres vor, indem sie erkennt, dafi sie
aus ihrem eigenen Geist heraus sich sittliche Anschauun-
gen entwickeln, moralische Vorschriften geben kann. Der
Mensch erhebt sich zur Anschauung des in ihm waltenden
Urwesens, das auch der Quell seiner Sittlichkeic ist. Er
sucht nicht mehr in der Aufienwelt, sondern in der eige-
nen Seele seine Sittengebote. Er macht sich nur mehr von
sich abhangig. (§552 von Hegels «Enzyklopadie der phi-
losophischen Wissenschaften»). Diese Unabhangigkeit,
diese Freiheit ist also nichts dem Menschen von vornherein
Zukommendes, sie ist im Laufe der geschichtlichen Ent-
wickelung erworben. Die Weltgescbichte ist der Fortschritt
der Menschheit im Bewufitsein der Freiheit.
Dadurch, daft Hegel in den hochsten Aufterungen des
menschlichen Geistes Vorgange sieht, in denen das Ur-
wesen der Welt den Abschluft seiner Entwickelung, seines
Werdens findet, werden ihm alle anderen Erscheinungen
zu Vorstufen dieses hochsten Gipfels; und dieser selbst er-
scheint als der Zweck, dem alles andere zustrebt. Diese
Vorstellung von Zweckmafiigkeit im "Weltall ist eine an-
dere als diejenige, die sich die Weltschopfung und Welt-
lenkung wie das Werk eines sinnreichen Technikers oder
Maschinenkonstrukteurs denkt, der alle Dinge niitzlichen
Zielen gema£ eingerichtet hat. Solche Niitzlichkeitslehre
hat Goethe scharf abgewiesen. Er sagte am 20. Februar
1 83 1 zu Eckermann (vgl. Gesprache Goethes mit Ecker-
mann, Teil II): Der Mensch «unterla£t nicht, seine ge-
wohnte Ansicht aus dem Leben auch in die Wissenschaft
zu tragen und auch bei den einzelnen Teilen eines organi-
schen Wesens nach deren Zweck und Nutzen zu fragen.
Dies mag auch eineWeile gehen,und ermagauchinderWis-
senschaft eine Weile damit durchkommen; allein gar bald
wird er auf Erscheinungen stofien, wo er mit einer so klei-
nen Ansicht nicht ausreicht, und wo er ohne hoheren Halt
sich in lauter Widerspriichen verwickelt. Solche Niitzlich-
keitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Horner, um sich
damit zu wehren. Nun frage ich aber: warum hat das
Schaf keine? Und wenn es welche hat, warum sind sie ihm
um die Ohren gewickelt, so daft sie ihm zu nichts dienen?
Etwas anderes aber ist es, wenn idi sage: Der Odise wehrt
sidi mit seinen Hornern, weil er sie hat. Die Frage nach
dem . . . Warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas
weiter kommt man mit der Frage Wie? Denn wenn ich
frage: Wie hat der Ochse Horner? so fiihrt mich das auf
die Betrachtung seiner Organisation und belehrt mich zu-
gleich, warum der Lowe keine Horner hat und haben
kann.» Trotzdem sieht Goethe in anderem Sinne in der
ganzen Natur eine zweckmafiige Einrichtung, die zuletzt
im Menschen ihr Ziel erreicht, also gleichsam alle ihre
Werke so einrichtet, dafi diesfer zuletzt seine Bestimmung
findet. Wir lesen in seinem «Winckelmann»: «Denn wozu
dient alle der Auf wand von Sonnen und Planeten und
Monden, von Sternen und Milchstrafien, von Kometen
und Nebelf lecken, von gewordenen und werdenden Welten,
wenn sich nicht zuletzt ein gliicklicher Mensch ... seines
Daseins erfreut?» Und audi da von ist Goethe iiberzeugt,
dafi das Wesen aller Erscheinungen in und durch den Men-
schen als Wahrheit zum Vorschein kommt. (Vgl. S. 205 f.)
Wie alles in der Welt darauf angelegt ist, dafi der Mensch
eine wiirdige Aufgabe hat und diese losen kann: das zu
begreifen ist das Ziel dieser Weltanschauung. Wie eine
philosophische Rechtfertigung der Goetheschen Ausspriiche
nimmt sich aus, was Hegel am Schlusse seiner «Natur-
philosophie» ausfiihrt: «Im Lebendigen hat die Natur
sich vollendet und ihren Frieden geschlossen, indem sie in
ein Hoheres umschlagt. Der Geist ist so aus der Natur her-
vorgegangen. Das Ziel der Natur ist, sich selbst zu toten,
und ihre Rinde des Unmittelbaren, Sinnlichen zu durch-
brechen, sich als Phonix zu verbrennen, um aus dieser
Aufierlichkeit verjiingt als Geist hervorzutreten. Die Na-
tur ist sidi ein anderes geworden, um sidi als Idee wieder
zu erkennen und sich mit sich zu versohnen . . . Als der
Zweck der Natur ist er (der Geist) eben darum vor ihr,
sie ist aus ihm hervorgegangen.» Dadurch vermochte diese
Weltanschauung den Menschen so hoch zu stellen, weil sie
in ihm verwirklicht sein lafit, was als Urkraft, als Ur-
wesen aller Welt zugruride liegt; was seine Verwirkli-
chung durch den ganzen Stufengang aller ubrigen Erschei-
nungen vorbereitet, aber erst im Menschen erreicht. Goethe
und Hegel stimmen in dieser Vorstellung vollstandig mit-
einander uberein. Was der erstere aus seinem Anschauen
der Natur und des Geistes heraus gewonnen hat, das
spricht der letztere auf Grund des hellen, reinen, im Selbst-
bewufitsein lebendigen Denkens aus.
Was Goethe mit einzelnen Naturvorgangen unternahm,
sie durch ihr Werden, ihre Entwickelung zu erklaren, das
wendete Hegel auf den ganzen Kosmos an. Goethe fordert
von dem, der das Wesen des Pflanzenorganismus begreifen
will: «Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich
die Pflanze, stufenweise gefuhrt, bildet zu Bliiten und
Frucht.» Hegel will alle Welterscheinungen in der Stufen-
folge ihres Werdens begreifen, vom einfachsten, dumpfen
Wirken der tragen Materie bis hinauf zu dem selbstbewufi-
ten Geiste. Und in dem selbstbewufiten Geiste sieht er die
Offenbarung des Urwesens der Welt.
REAKTIONARE WELTANSCHAUUNG EN
«Die Knospe versdiwindet in dem Hervorbrechen der Blii-
te, und man konnte sagen, dafi jene von dieser widerlegt
wird; ebenso wird durdi die Frucht die Bliite fiir ein fal-
sches Dasein der Pflanze erklart, und als ihre Wahrheit
tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterschei-
den sich nicht nur, sondern verdrangen sich audi als un-
vertraglich miteinander. Aber ihre fliissige Natur macht
sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin
sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so not-
wendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendig-
keit macht erst das Leben des Ganzen aus.» In diesen Wor-
ten Hegels ist einer der wichtigsten Charakterziige seiner
Vorstellungsart ausgesprochen. Er glaubte daran, dafi die
Dinge der Wirklichkeit den Widerspruch in sich tragen,
und daft gerade darin der Antrieb zu ihrem Werden, zu
ihrer lebendigen Bewegung liegt, dafi sie diesen Wider-
spruch fortwahrend zu iiberwinden suchen. Die Bliite
wiirde niemals zur Frucht werden, wenn sie ohne Wider-
spruch ware. Sie hatte dann keinen Anlafi, aus ihrem wi-
derspruchslosen Dasein herauszugehen. Von einer genau
entgegengesetzten Denkergesinnung ging Johann Friedrich
Herbart (1776 — 1841) aus. Hegel ist ein scharfer Denker,
aber zugleich ein wirklichkeitsdurstiger Geist. Er mochte
nur Gedanken haben, die den reichen, gesattigten Gehalt
der "Welt in sich aufgenommen haben. Deshalb miissen
seine Gedanken audi so in ewigem Flusse sein, in stetem
"Werden, in widerspruchvoller Fortbewegungwie dieWirk-
lichkeit selbst. Herbart ist ganz abstrakter Denker; er
sucht die Dinge nicht zu durchdringen, sondern er betrach-
tet sie von seiner Denkerecke aus. Den rein logischen Den-
ker stort der Widerspruch; er verlangt klare Begriffe, die
nebeneinander bestehen konnen. Der eine darf den ande-
ren nicht beeintrachtigen. Der Denker sieht sich der Wirk-
lichkeit gegeniiber, die nun einmal widerspruchsvoll ist, in
einer eigentiimlichen Lage. Die BegrirTe, die sie ihm liefert,
befriedigen ihn nicht. Sie verstofien gegen sein logisches
Bediirfnis, Dieses Gefiihl der Unzufriedenheit wird zum
Ausgangspunkte seiner Weltanschauung. Herbart sagt sich:
Wenn mir die vor meinen Sinnen und meinem Geiste aus-
gebreitete Wirklichkeit widerspruchsvolle BegrirTe liefert,
so kann sie nicht die wahre Wirklichkeit sein, nach der
mein Denken strebt. Daraus entsteht ihm seine Aufgabe.
Die widerspruchsvolle Wirklichkeit ist gar nicht wirk-
liches Sein, sondern nurSchein. In dieser Auffassung schlielk
sich Herbart bis zu einem gewissen Grade an Kant an.
Wahrend aber dieser das wahre Sein als ein dem denken-
den Erkennen Unerreichbares erklart, glaubt Herbart ge-
rade dadurch von dem Schein zum Sein vorzudringen, dafi
er die widerspruchsvollen Begriffe des Scheins bearbeitet
und in widerspruchslose verwandelt. "Wie der Rauch auf
das Feuer, so deutet der Schein auf ein ihm zugrunde lie-
gendes Sein. Wenn wir aus dem widerspruchsvollen, unse-
ren Sinnen und unserem Geiste gegebenen Weltbilde ein
widerspruchsloses durch das logische Denken herausarbei-
ten, so haben wir in dem letzteren das, was wir suchen.
Es erscheint uns zwar nicht in dieser seiner Widerspruchs-
losigkeit; aber es liegt hinter dem, was uns erscheint als die
wahre, echte Wirklichkeit. Herbart geht also nicht dar-
auf aus, die unmittelbar vorliegende "Wirklichkeit als sol-
che zu begreifen, sondern er schafft eine andere Wirklich-
keit, durch die die erstere erst erklarlich werden soil. Er
kommt dadurch zu einem abstrakten Gedankensystem,
das sich gegeniiber der reichen, vollen Wirklichkeit recht
diirftig ausnimmt. Die wahre Wirklichkeit kann keine
Einheit sein, denn eine solche miilke ja die unendliche
Mannigfaltigkeit der wirklichen Dinge und Vorgange mit
alien ihren Widerspriichen in sich en thai ten. Sie mull eine
Vielheit von einfachen, sich ewig gleichen Wesen sein, in
denen es kein Werden, keine Entwickelung gibt. Nur ein
einfaches Wesen, das unveranderlich seine Merkmale be-
wahrt, ist widerspruchslos. Ein Wesen, das sich entwickelt,
ist in einem Augenblicke etwas anderes als in dem ande-
ren, das heifit, es widerspricht in einem Zeitpunkte der
Eigenheit, die es in einem anderen hat. Eine Vielheit ein-
facher, sich nie andernder Wesen ist also die wahre Welt.
Und was wir wahrnehmen, sind nicht diese einfachen We-
sen, sondern nur ihre Beziehungen zueinander. Diese Be-
ziehungen haben mit dem wahren Wesen nichts zu tun.
Wenn ein einfaches Wesen in eine Beziehung zu einem an-
deren tritt, so werden beide dadurch nicht verandert; ich
aber nehme das Ergebnis ihrer Beziehung wahr. Unsere
unmittelbare Wirklichkeit ist eine Summe von Beziehun-
gen zwischen den wirklichen Wesen. Wenn ein Wesen aus
seiner Beziehung zu einem andern Wesen heraustritt und
dafiir in eine solche zu einem dritten Wesen kommt, so
ist etwas geschehen, ohne dafi von diesem Geschehen das
Sein der Wesen selbst beriihrt worden ist. Dieses Ge-
schehen nehmen wir wahr. Es ist unsere scheinbare, wider-
spruchsvolle Wirklichkeit. Interessant ist, wie Herbart auf
Grund dieser seiner Anschauung das Leben der Seele sich
vorstellt. Diese ist ebenso wie alle anderen wirklichen We-
sen ein Einfaches, in sich Unveranderliches. Es tritt nun in
Beziehungen zu anderen seienden Wesen. Der Ausdruck
dieser Beziehungen ist das Vorstellungsleben. Alles, was
sich in uns abspielt: Vorstellen, Fiihlen, Wollen, ist ein
Beziehungsspiel zwisdien der Seele und der iibrigen Welt
der einfachen Seienden. Man sieht, das Seelenleben ist da-
durch zu einem Sdiein von Verhaltnissen gemacht, in die
das einfache Seelenwesen mit der Welt eingeht. Herbart
ist ein mathematischer Kopf. Und im Grunde ist seine
ganze Weltvorstellung aus mathematischen Vorstellungen
heraus geboren. Eine Zahl andert sich niclit, wenn sie das
Glied einer Rechnungsoperation wird. Drei bleibt drei, ob
es zu vier addiert, oder von sieben subtrahiert wird. Wie
die Zahlen innerhalb der Rechnungsoperationen, so stehen
die einfadien Wesen innerhalb der Beziehungen, die sich
zwtschen ihnen herausbilden. Und deshalb wird Herbart
auch die Seelenkunde zu einem Rechenexempel. Er sucht
die Mathematik auf die Psychologie anzuwenden. Wie sich
die Vorstellungen gegenseitig bedingen, wie sie aufeinan-
der wirken, was fur Ergebnisse sie durch ihr Zusammen-
sein liefern, das wird von ihm berechnet. Das «Ich» ist
ihm nicht die geistige Wesenheit, die wir in unserem Selbst-
bewufksein ergreifen, sondern es ist das Resultat des Zu-
sammenwirkens aller Vorstellungen, somit nichts anderes
als auch eine Summe, ein hochster Ausdruck von Bezie-
hungen. Von dem einfadien Wesen, das unserem Seelen-
leben zugrunde liegt, wissen wir nichts, wohl aber erschei-
nen uns seine fortwahrenden Beziehungen zu anderen We-
sen. In dieses Spiel von Beziehungen ist also ein Wesen
verstrickt. Dies driickt sich in der Tatsache aus, dafi sie
alle nach einem Mittelpunkt hinstreben, und dieser Mittel-
punkt ist der Ichgedanke.
Herbart ist in anderem Sinne ein Reprasentant der
neueren Weltanschauungsentwickelung als Goethe, Schil-
ler, Schelling, Fichte, Hegel. Diese suchen nach einer Dar-
2^Q
stellung der selbstbewufken Seele in einem Weltbilde, das
diese selbstbewufite Seele enthalten kann. Sie sprechen da-
mit den geistigen Impuls ihres Zeitalters aus. Herbart
steht vor diesem Impuls, er mufi empfinden, daft der Im-
puls da ist. Er sucht ihn zu verstehen; aber er fmdet in
dem Denken, wie er es sich ais richtiges vorstellt, keine
Moglichkeit, sich in das selbstbewulke Seelenwesen hin-
einzuleben. Er bleibt aufierhalb desselben stehen. Man
kann an Herbarts Weltanschauung sehen, welche Schwie-
rigkeiten dem Denken erwachsen, wenn es begreifen will,
wozu es seinem Wesen nach in der Menschheitsentwicke-
lung geworden ist. Neben Hegel nimmt sich Herbart so
aus wie jemand, der nach einem Ziele vergebens ringt, das
der andere erreicht zu haben meint. Herbarts Gedanken-
konstruktionen sind ein Versuch, von aufien abzubilden,
was Hegel im inneren Miterleben darstellen will. Fiir den
Grundcharakter des neueren Weitanschauungslebens sind
auch Denker wie Herbart bedeutsam. Sie deuten eben da-
durch auf das Ziel hin, das zu erreidien ist, dafi sie die
ungeeigneten Mittel zu diesem Ziele zur Offenbarung brin-
gen. - Das geistige Ziel der Zek ringt in Herbart; dessen
geistige Kraft reicht nicht aus, um in geniigender Art die-
ses Ringen zu verstehen und zum Ausdruck zu bringen.
Der Fortgang der Weltanschauungsentwickelung zeigt,
da£ immer in diese Entwickelung neben den Personlich-
keiten, welche auf der Hohe der Zeitimpulse stehen, auch
solche eingreifen, die aus dem Nichtverstehen dieser Im-
pulse Weltanschauungen entf alten. Man kann solche Welt-
anschauungen als reaktionare wohl bezeichnen.
Herbart fallt zuriick in die Leibnizsche Auff assung. Sein
einfaches Seelenleben ist unveranderlich. Es entsteht nicht,
es vergeht nicht. Es war vorhanden, als dies scheinbare
Leben begann, das der Mensdi mit seinem Ich umschliefk;
und es wird sich aus diesen Beziehungen wieder loslosen
und fortbestehen, wenn dieses Leben aufhort. - Zu emer
Gottesvorstellung kommt Herbart durch sein Weltbild,
das viele einfache Wesen en thai t, die das Geschehen durch
ihre Beziehungen hervorbringen. Wir nehmen innerhalb
dieses Geschehens Zweckmafiigkeit wahr. Die Beziehun-
gen konnten aber, wenn die Wesen, die, ihrem eigenen
Sein nach, gar nichts miteinander zu tun haben, sich selbst
iiberlassen waren, nur zufallige, chaotische sein. Dafi sie
zweckmafiig sind, deutet also auf einen weisen Welten-
lenker, der ihre Beziehungen ordnet. «Das Wesen der
Gottheit naher zu bestimmen, vermag niemand», sagt Her-
bart. «Die Anmafiungen der Systeme, die von Gott als
einem bekannten, in scharfen Umrissen aufzufassenden
Gegenstande reden, wodurch wir uns zu einem Wissen er-
heben konnten, fur welches uns nun einmal die Data ver-
sagt sind», verurteilt er.
Das Handeln des Menschen und seine Kunstschopfun-
gen hangen in diesem Weltbild vollstandig in der Luft.
Es fehlt jede Moglichkeit, sie demselben einzufiigen. Denn
welches Verhaltnis soil bestehen zwischen einer Beziehung
einfacher Wesen, denen alle Vorgange gleichgiiltig sind,
und zwischen den Taten der Menschen? Daher mufi Her-
bart sowohl fiir die Ethik als fur die Asthetik eine selb-
standige Wurzel suchen. Er glaubt sie im menschlichen Ge-
fiihle zu finden. "Wenn der Mensch Dinge oder Vorgange
wahrnimmt, so kann sich das Gefuhl des Gef aliens oder
Mififallens daran kniipfen. So gefallt es uns, wenn der
Wille eines Menschen eine Richtung nimmt, die mit des-
sen Uberzeugung iibereinstimmt. Wenn wir das Gegenteil
wahrnehmen, setzt sich in uns das Gefuhl des MiMallens
fest. Wegen dieses Gefiihles nennen wir den Einklang der
Oberzeugung mit dem Wollen sittlidi gut, den Mifiklang
sittlich verwerflich. Ein solches Gefiihl kann sidi nur an
ein Verh'dltnis zwischen moralisdien Elementen knupfen.
Der Wille als soldier ist uns moralisch gleidigiiltig. Die
Oberzeugung audi. Erst wenn siezusammenwirken } kommt
ethisches Wohlgefallen oder Mififallen zum Vorsdiein.
Herbart nennt ein Verhaltnis moralischer Elemente eine
praktische Idee. Er zahlt fiinf soldier praktisch-ethisdien
Ideen auf: die Idee der sittlichen Freiheit, bestehend in
der Obereinstimmung von Willen und Oberzeugung; die
Idee der Vollkommenheit, die darauf beruht, dafi das
Starke im Vergleidi mit dem Schwachen gefallt; die Idee
des Redites, die aus dem Mifif alien an dem Streit ent-
springt; die Idee des Wohlwollens, die das Gefallen aus-
driickt, das man empfindet, wenn ein Wille den anderen
fordert; und die Idee der Vergeltung, die fordert, dafi
alles Wohl und Wehe, das von einem Individuum ausge-
gangen ist, an diesem wieder ausgeglidien wird. Auf einem
menschlichen Gefiihle, auf der moralisdien Empfindung
baut Herbart die Ethik auf. Er sondert sie von der Welt-
anschauung, die es mit dem zu tun hat, was ist, und macht
sie zu einer Summe von Forderungen dessen, was sein solL
Er verbindet sie mit der Asthetik, ja madit sie zu einem
Bestandteil derselben. Denn audi diese Wissenschaft ent-
halt Forderungen iiber ein Seinsollendes. Audi sie hat es
mit Verhaltnissen zu tun, an die sich Gefiihle knupfen.
Die einzelne Farbe laflt uns asthetisdi gleichgiiltig. Wenn
eine andere neben sie tritt, so kann dies Zusammensein
uns befriedigen oder mififallen. Was in seinem Zusammen-
sein gefallt, ist schon; was mififallt, ist hafilich. Robert
Zimmermann (1824 — 1898) hat auf diesen Grundsatzen
eine Wissenschaft der Kunst in geistvoller Art auf-
erbaut. Von ihr soil nur ein Teil die Ethik oder die Wis-
senschaft vom Guten sein, welche diejenigen schonen Ver-
haltnisse betraditet, die im Gebiete des Handelns in Be-
tracht kommen. Die bedeutsamen Ausfiihrungen Robert
Zimmermanns iiber die Asthetik (Kunstwissenschaft) be-
zeugen, dafi audi von den Weltanschauungsversuchen,
welche nicht bis zur Hohe der Zeitimpulse reichen, wich-
tige Anregungen fiir die Geistesentwickelung ausgehen
konnen.
Herbart hat, wegen seines auf das Mathematisch-Not-
wendige angelegten Geistes, mit Gliick diejenigen Vor-
gange des menschlichen Seelenlebens betraditet, die wirk-
lich bei alien Menschen in gleicher Weise sich mit einer ge-
wissen Regelmafiigkeit abspielen. Die intimeren, indivi-
duelleren werden das naturlich mcht sein. Das Originelle
und Eigenartige in jeder Personlichkeit wird soldi mathe-
matischer Verstand iibersehen. Er wird aber eine gewisse
Einsicht in das Durdischnittsmafiige des Geistes erlangen
und zugleich mit seiner rechnerischen Sicherheit eine Herr-
schaft iiber die Entwickelung des Geistes. Wie die mecha-
nischen Gesetze es sind, die uns zur Tedinik befahigen, so
die Gesetze des Seelenlebens zur Erziehung, zur Techmk
der Ausbildung der Seele. Deshalb ist Herbarts Arbeit auf
dem Gebiete der Padagogik fruchtbar geworden. Er hat
unter Padagogen eine reiche Anhangerschaft gefunden.
Aber nicht nur unter diesen. Das scheint bei dieser Welt-
anschauung, die ein Bild diirftiger, grauer Allgemeinhei-
ten bietet, nicht auf den ersten Blick einleuchtend. Es er-
klart sich aber daraus, dafi gerade die weltanschauungs-
bediirftigsten Naturen einen gewissen Hang nach solchen
AllgemeinbegrifFen haben, die sich mit starrer Notwen-
digkeit wie die Glieder eines Rechenexempels aneinander-
reihen. E-s hat etwas Bestrickendes, zu erleben, wie sich
Gedankenglied an Gedankenglied wie von selbst kettet,
weil es das Gefuhl der Sicherheit erweckt. Man schatzt die
mathematischen Wissenschaften wegen dieser Sicherheit
so hoch. Sie bauen sich gleichsam von selbst auf; man gibt
nur das Gedankenmaterial dazu her und iiberlafk das
Weitere der selbsttatigen logischen Notwendigkeit. Bei
dem Fortgang des Hegelschen Denkens, das mit Wirklich-
keit gesattigt ist, mufi man fortwahrend eingreifen. Es ist
mehr Warme, mehr Unmittelbarkeit in diesem Denken;
dafiir aber bedarf sein Fortflieflen immerwahrend des Zu~
tuns der Seele. Es ist ja die Wirklichkeit, die man in Ge~
danken einfangt; diese immer flieftende, in jedem ihrer
Punkte individuelle Wirklichkeit, die jeder logischen Starr-
heit widerstrebt. Audi Hegel hatte zahlreiche Schiiler und
Anhanger. Aber diese waren weit weniger treu als diejeni-
gen Herbarts. So lange Hegels machtige Personlichkeit
seine Gedanken belebte, so lange iibte sie ihren Zauber;
und iiberzeugend wirkte, worauf dieser Zauber lag. Nach
seinem Tode gingen viele seiner Schiiler die eigenen Wege.
Und das ist nur natiirlich. Denn wer selbstandig ist, wird
audi sein Verhaltnis zur "Wirklichkeit auf selbstandige Art
gestalten. Bei Herbarts Schulern nehmen wir ein anderes
wahr. Sie smd treu. Sie bilden die Lehren des Meisters
fort; den Grundstock seiner Gedanken aber behalten sie
in unveranderter Form bei. Wer sich in Hegels Denkweise
einlebt, der vertieft sich in den Werdegang der Welt, der
in unzahligen Entwickelungsstufen sich darlebt. Da kann
der einzelne zwar angeregt werden, diesen Weg des Wer-
dens zu gehen; er kann aber die einzelnen Stufen nach sei-
ner individuellen Vorstellungsart gestalten. Bei Herbart
hat man es mit einem fest in sich gef iigten Gedankensystem
zu tun, das durdi seine solide Struktur Vertrauen einfloftt.
Man kann es ablehnen. Nimmt man es aber an, dann wird
man es audi in seiner urspriinglichen Gestalt annehmen
miissen. Denn das Individuelle, dasPersonliche, daszwmgt,
sein eigenes Selbst dem fremden Selbst gegeniiberzustel-
len: dieses fehlt gerade.
«Das Leben ist eine mifiliche Sadie; idi habe mir vor-
genommen, das meinige damit hinzubringen, iiber dasselbe
nachzudenken.» DieseWorte aufierte Arthur Schopenhauer
(1788 — 1860) im Beginne seiner Universitatszeit einmal
zu Wieland. Aus dieser Stimmung heraus ist seine Welt-
anschauung erwachsen. Harte eigene Erlebnisse und die
Beobachtung trauriger Erfahrungen anderer hatte Scho-
penhauer hinter sich, als er in der phiiosophischen Gedan-
kenarbeit ein neues Lebensziel ergriff. Der plotzliche Tod
des Vaters, der durch einen Fall von einem Speicher her-
beigefiihrt wurde, die schlimmen Erlebnisse innerhalb des
kaufmannischen Berufes, der Anblick von Schauplatzen
des menschlichen Elends auf den Reisen, die der Jiingling
machte, und vieles andere hatten in ihm weniger das Be-
diirfnis hervorgerufen, die Welt zu erkennen, weil er sie
fur des Erkennens wert erachtete, als vielmehr das ganz
andere, in der Betraditung der Dinge sich ein Mittel zu
schaflFen, sie zu ertragen. Er brauchte eine Weltanschauung
zur Beruhigung seiner diisteren Gemiitsverfassung. Als er
1809 die Universitat bezog, waren die Gedanken, die
Kant, Fidite und Schelling der deutschen Weltanschauungs-
entwickelung einverleibt haben, in voller Nachwirkung.
Hegels Stern war eben im Aufgehen. Dieser hatte 1806
sein erstes grofieres Werk «Die Phanomenologie des Gei-
stes» ersdieinen lassen. In Gottingen horte Schopenhauer
die Lehren Gottlob Ernst Schulzes, des Verfassers des
«Aenesidemus», der zwar in gewisser Beziehung Kants
Gegner war, der aber dem Studenten dodi Kant und Plato
als die beiden grofien Geister bezeichnete, an die er sich
zu halten habe. Mit Feuereifer versenkte sich Schopenhauer
in Kants Vorsteliungsart. Er bezeichnet die Revolution,
die dadurch in seinem Kopfe hervorgebracht wurde, als
eine geistige Wiedergeburt. Er findet bei ihr um so mehr
seine Befriedigung, als er sie in voller Obereinstimmung
findet mit den Ansichten des anderen Philosophen, auf den
ihn Schulze hingewiesen hatte, mit denen Platos. Sagt doch
dieser: So lange wir uns zu den Dingen und Vorgangen
bloft wahrnehmend verhalten, sind wir wie Menschen,
die in einer finsteren Hohle festgebunden sitzen, so daft
sie den Kopf nicht drehen konnen, und nichts sehen, als
beim Lichte eines hinter ihnen brennenden Feuers, an der
ihnen gegeniiberliegenden "Wand, die Schattenbilder wirk-
licher Dinge, die zwischen ihnen und dem Feuer voniber-
gefiihrt werden, ja auch voneinander und jeder von sich
selbst nur die Schatten. Wie diese Schatten zu wirklichen
Dingen, so verhalten sich unsere Wahrnehmungsdinge zu
den Ideen, die das wahrhaft Wirkliche sind. Die Dinge
der wahrnehmbaren Welt entstehen und vergehen, die
Ideen sind ewig. Hat nicht Kant ein Gleiches gelehrt? 1st
nicht auch fur ihn die wahrnehmbare Welt nur Erschei-
nungswelt? Zwar den Ideen hat der Konigsberger Weise
nicht diese urewige Wirklichkeit zugeschrieben; aber in
der Auffassung der in Raum und Zeit ausgebreketen Wirk-
lichkeit herrscht, fiir Schopenhauer, zwischen Plato und
Kant vollige Obereinstimmung. Bald wurde diese Ansicht
auch seine unumstofiliche Wahrheit. Er sagte sich: Ich er-
halte von den Dingen Kenntnis, insofern idi sie sehe, hore,
fiihle usw., mit einem Worte: insofern ich sie vorstelle.
Ein Gegenstand ist fur mich nur in meiner Vorstellung
vorhanden. Himmel, Erde usw. sind also meine Vorstel-
lungen, denn das «Ding an sich», das ihnen entspricht, ist
nur dadurch mein Gegenstand geworden, daft es den Cha-
rakter der Vorstellung angenommen hat.
So unbedingt richtig Schopenhauer nun alles fand, was
Kant iiber den Vorstellungscharakter der Wahrnehmungs-
welt vorbrachte, so wenig befriedigt fuhlte er sich durch
dessen Bemerkungen iiber das «Ding an sich». Audi Schul-
ze war ja ein Gegner dieser Ansichten Kants. Wie konnen
wir von einem «Dinge an sich» etwas wissen, wie konnen
wir iiberhaupt nur ein Wort iiber dasselbe aussprechen,
wenn wir nur von Vorstellungen wissen, und das «Ding
an sich» ganzlich aufterhalb alier Vorstellung liegt? Scho-
penhauer mufite einen anderen Weg suchen, um zum «Ding
an sich» zu kommen. Er wurde bei djesem Suchen viel
mehr von den zeitgenossischen Weltanschauungen beein-
flufit, als er je zugegeben hat. Das Element, das Schopen-
hauer zu seiner aus Kant und Plato gewonnenen Ober-
zeugung hinzufugte, als «Ding an sich», das treffen wir
bei Fichte, dessen Vorlesungen er 1811 in Berlin gehort
hat. Und wir treffen es audi bei Schelling. Die reifste Form
der Ansichten Fichtes konnte Schopenhauer in Berlin ho-
ren. Es ist diese Form in den nachgelassenen Schriften
Fichtes iiberliefert. Dieser verkundet eindringlich, wah-
rend ihm Schopenhauer - nach eigenem Gestandnis - «auf-
merksam zuhort», daft alles Sein zuletzt in einem Uni-
versalwillen begriindet ist. Sobald der Mensch den Willen
in sich vorfindet, gewinnt er die Oberzeugung, daft es eine
von seinem Individuum unabhangige Welt gibt. Der Wille
ist nidht Wissen des Individuums, sondern eine Form des
wirklidien Seins. Fichte hatte diese seine Weltanschauung
audi bezeichnen konnen: «Die Welt als Wissen und Wil-
ier, Und in Schellings Sennit: «Ober das Wesen der
menschlichen Freiheit und die damit zusammenhangenden
Gegenstande» steht doch der Satz: «Es gibt in der Ietzten
und hochsten Instanz gar kein anderes Sein als Wolien.
Wollen ist Ursein und auf dieses allein passen alle Pradi-
kate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhangigkeit
von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophic strebt
nur dahin, diesen hochsten Ausdruck zu finden.» - Da£
Wollen Ursein ist, wird auch zu Schopenhauers Ansicht.
Wenn das Wissen ausgeloscht wird, bleibt der Wille iibrig.
Denn der Wille geht dem Wissen voran. Das Wissen hat
seinen Ur sprung in meinem Gehirn, sagt sich Schopen-
hauer. Dieses mufi aber hervorgebracht sein durch eine ta-
tige, schopferische Kraft. Der Mensch kennt eine solche
schopferische Kraft in seinem eigenen Wollen. Schopen-
hauer sucht nun nachzuweisen, daft auch das, was in den
ubrigen Dingen wirksam ist, Wille ist. Der Wille liegt
somit als «Ding an sich» der blofi vorgestellten Wirklich-
keit zugrunde. Und von diesem «Ding an sich» konnen
wir wissen. Es liegt nicht, wie das Kantische, jenseits un-
seres Vorstellens, wir erleben sein Wirken innerhalb un-
seres eigenen Organismus.
Es schreitet die Weltanschauungsentwickelung der neue-
ren Zeit durch Schopenhauer insofern weiter, als mit ihm
einer der Versuche beginnt, eine der Grundkrafte des
Selbstbewu£tseins zum allgemeinen Weltprinzipe zu er-
heben. Im tatigen Selbstbewufitsein liegt das Ratsel des
Zeitalters. Schopenhauer ist nicht in der Lage, ein Welt-
bild zu finden, das in sich die Wurzeln des Selbstbewufk-
seins enthalt. Das haben Fichte, Schelling, Hegel versucht.
Schopenhauer nimmt eine Kraft des Selbstbewufitseins
heraus, den Willen, und behauptet von diesem, er sei nicht
blofi in der Menschenseele, sondern in der ganzen Welt.
So ist fur ihn zwar der Mensch nicht mit seinem vollen
Selbstbewulksein in den Welturspriingen gelegen, wohl
aber mit einem Teil desselben, mit dem Willen. Schopen-
hauer stellt sich damit als einer derjenigen Reprasentanten
der neueren Weltanschauungsentwickelung dar, welche das
Grundratsel der Zeit nur teilweise in ihr Bewufitsein zu
fassen vermochten.
Auch Goethe iibte einen tiefgehenden Einflufi auf Scho-
penhauer aus. Vom Herbst 1813 bis zum Mai 18 14 genofi
dieser den Umgang mit dem Dichter. Goethe fiihrte den
Philosophen personlich in die Lehre von den Farben ein.
Die Anschauungsart des ersteren ent-sprach vollstandig den
Vorstellungen, die sich Schopenhauer iiber die Art gebil-
det hatte, wie unsere Sinnesorgane und unser Geist ver-
fahren, wenn sie Dinge und Vorgange wahrnehmen.
Goethe hatte iiber die Wahrnehmungen des Auges, iiber
Licht und Farben sorgfaltige und ausgedehnte Unter-
suchungen angestellt und deren Ergebnis in seinem Werke
«Zur Farbenlehre» verarbeitet. Er ist zu Ansichten ge-
langt, die von denen Newtons, des Begriinders der moder-
nen Farbenlehre, abweichen. Man kann den Gegensatz,
der zwischen Newton und Goethe auf diesem Gebiete be-
steht, nicht von dem richtigen Gesichtspunkte aus beurtei-
len, wenn man nicht von dem Grundunterschied in den
Weltauffassungen der beiden Personlichkeiten ausgeht.
Goethe betrachtet die Sinnesorgane des Menschen als die
besten, die hochsten physikali-schen Apparate. Fiir die Far-
benwelt mull ihm daher das Auge die hochste Instanz sein
zur Feststellung der gesetzmafiigen Zusammenhange. New-
ton und die Physiker untersuchen die in Frage kommen-
den Erscheinungen in der Weise, die von Goethe als das
«grofite Unheil der neueren Physik» bezeichnet wird und
die, wie bereits im anderen Zusammenhang (S. 206) an-
gefiihrt, darin besteht, dafi «man die Experimente gleich-
sam vom Menschen abgesondert hat, und blofi in dem, was
kiinstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja,
was sie leisten kann, dadurch beschranken und beweisen
will». Das Auge nimmt Hell und Dunkel oder Licht und
Finsternis und innerhalb des hell-dunklen Beobachtungs-
feldes die Farben wahr. Goethe bleibt innerhalb dieses
Feldes stehen und sucht nachzuweisen, wie Licht, Finster-
nis und Farbe zusammenhangen. Newton und seine An-
hanger wollen die Licht- und Farbenvorgange beobachten,
wie sie sich aufterhalb des menschlichen Organismus im
Raum abspielen, wie sie also auch verlaufen miifiten, wenn
es kein Auge gabe. Eine solche vom Menschen abgeson-
derte Aufiensphare hat aber fur die Goethesche Welt-
anschauung keine Berechtigung. Nicht dadurch gelangen
wir zum Wesen eines Dinges, dafi wir von den Wirkun-
gen absehen, die wir gewahr werden, sondern in der ge-
nauen, mit dem Geiste erfafiten Gesetzmafiigkeit dieser
Wirkungen haben wir dieses Wesen gegeben. Die Wir-
kungen, die das Auge wahrnimmt, in ihrer Gesamtheit
erfafk und in ihrem gesetzmafiigen Zusammenhange dar-
gestellt, sind das Wesen des Lichtes und der Farben, -
nicht eine vom Auge abgesonderte Welt aufterer Vor-
gange, die mit kunstlichen Instrumenten festgestellt wer-
den soil. «Denn eigentlich unternehmen wir umsonst,
das Wesen eines Dinges auszudriicken. Wirkungen werden
wir gewahr und eine vollstandige Geschichte dieser Wir-
kungen umfaftte alien falls das Wesen jenes Dinges. Ver-
gebens bemuhen wir uns, den Charakter eines Menschen
zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine
Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns
entgegentreten. Die Farben sind Taten des Lichtes, Taten
und Leiden. In diesem Sinne konnen wir von denselben
Aufschlusse iiber das Licht erwarten. Farben und Licht
stehen zwar untereinander in dem genauesten Verhaltnis,
aber wir mussen uns beide als der ganzen Natur angehorig
denken; denn sie ist es ganz y die sich dadurch dem Sinne
des Auges besonders offenbaren will.* Man findet hier
Goethes Weltansicht auf einen speziellen Fall angewen-
det. Im menschlichen Organismus, durch seine Sinne, durch
seine Seele offenbart sich, was in der iibrigen Natur ver-
borgen liegt. Diese gelangt im Menschen auf ihren GipfeL
Wer daher die Wahrheit der Natur au£er dem Menschen
sucht, wie Newton, der kann sie, nach Goethes Grund-
ansicht, nicht fin den.
Schopenhauer sieht in der Welt, die dem Geiste in Raum
und Zeit gegeben ist, nur eine Vorstellung dieses Geistes.
Das Wesen dieser Vorstellungswelt enthullt sich uns in
dem Willen, von dem wir unseren eigenen Organismus
durchdrungen sehen. Er kann daher sich nicht einlassen
auf eine physikalische Lehre, die das Wesen der Licht-
und Farbenerscheinungen nicht in den dem Auge gegebe-
nen Vorstellungen sieht, sondern in einer Welt, die ab-
gesondert von dem Auge vorhanden sein soil. Goethes
Vorstellungsart mufite ihm daher sympathisch sein, weil
sie innerhalb der Vorstellungswelt des Auges stehen bleibt.
Er fand in ihr eine Bestatigung dessen, was er selbst iiber
diese Welt annehmen mufke. Der Kampf zwischen Goethe
und Newton ist nicht etwa bloS eine physikalische Frage,
sondern eine Angelegenheit der ganzen Weltanschauung.
Wer der Ansicht ist, dafi sich iiber die Natur etwas aus-
machen lafit durch Experiments, die vom Menschen ab-
gesondert sind, der mufi auf dem Boden der Newtonschen
Farbenlehre stehen bleiben. Die moderne Physik ist dieser
Ansicht. Sie kann daher iiber Goethes Farbenlehre nur
das Urteil fallen, das Hermann Helmholtz in seiner Ab-
handlung « Goethes Vorahnungen kommender naturwis-
senschaftlicher Ideen» ausgesprochen hat: «¥o es sich um
Aufgaben handelt, die durch die in Anschauungsbildern
sich ergehenden dichterischen Divinationen gelost werden
konnen, hat sich der Dichter der hochsten Leistungen fahig
gezeigt, wo nur die bewufit durchgefiihrte induktive Me-
thode hatte helfen konnen, ist er gescheitert.» Sieht man
in den menschlichen Anschauungsbildern nur Produkte,
die zu der Natur hinzukommen, so mufi man feststellen,
was in der Natur, abgesehen von diesen Anschauungsbil-
dern, geschieht. Sieht man in ihnen, wie Goethe, Offen-
barungen der in der Natur enthaltenen Wesenheiten, so
wird man sich an sie halten, wenn man die Wahrheit er-
forschen will. Schopenhauer steht allerdings weder auf
dem einen, noch auf dem anderen Standpunkte. Er will in
den Wahrnehmungen der Sinne gar nicht das Wesen der
Dinge erkennen; er lehnt die physikalische Methode ab,
weil diese nicht bei dem stehen bleibt, was uns einzig und
allein vorliegt, bei den Vorstellungen. Aber audi er hat
die Frage aus einer rein physikalischen zu einer Welt-
anschauungsfrage gemacht. Und da er im Grunde doch
auch bei seiner Weltanschauung von dem Menschen aus-
gegangen ist, nicht von einer vom Menschen abgesonder-
ten Aufienwelt, so mulke er sich fur Goethe entscheiden.
Denn dieser hat fiir die Farbenlehre die Konsequenz ge-
zogen, die sich notwendig fiir den ergeben mufi, der in
dem Menschen mit seinen gesunden Sinnen den «grofiten
und genauesten physikalischen Apparat» sieht. Hegel, der
als Philosoph ganz auf dem Boden dieser Weltanschauung
steht, mufi daher energisch fiir Goethes Farbenlehre ein-
treten. Wir lesen in seiner Naturphilosophie: «Die dem
Begriffe angemessene Darstellung der Farben verdanken
wir Goethe, den die Farben und das Licht friih angezogen
haben, sie zu betraditen, besonders dann von seiten der
Malerei; und sein reiner, einfadier Natursinn, die erste
Bedingung des Dichters, mufite soldier Barbarei der Re-
flexion, wie sie sich in Newton findet, widerstreben. Was
von Plato an iiber Licht und Farbe statuiert und experi-
mentiert worden ist, hat er durchgenommen. Er hat das
Phanomen einfach aufgefafit; und der wahrhafte Instinkt
der Vernunft besteht darin, das Phanomen von der Seite
aufzufassen, wo es sich am einfachsten darstellt.»
Der wesentliche Grund aller Weltvorgange ist fiir Scho-
penhauer der Wille. Er ist ein ewiges, dunkles Streben
nach Dasein. Er enthalt keine Vernunft. Denn die Ver-
nunft entsteht erst in dem menschlichen Gehirn, das vom
Willen geschaff en wird. Wahrend Hegel die selbstbewufke
Vernunft, den Geist zum Weltengrunde macht und in der
menschlichen Vernunft nur eine individueile Verwirkli-
chung der allgemeinen Weltvernunft sieht, laflt Schopen-
hauer die Vernunft nur als Produkt des Gehirnes gelten,
als eine Schaumblase, die zuletzt entsteht, wenn der ver-
nunftlose, dunkle Drang, der Wille, alles andere geschaf-
fen hat. Bei Hegel sind alle Dinge und Vorgange vernunf-
tig, denn sie werden ja von der Vernunft hervorgebracht;
bei Schopenhauer ist alles unvernunftig, denn es ist von
dem unverniinftigen Willen hervorgebracht. An Schopen-
hauer sieht man so deutlich wie nur irgend moglich das
Wort Fichtes bestatigt: Was man fiir eine Weltanschau-
ung wahle, das hangt davon ab, was fiir ein Mensch man
ist. Schopenhauer hat bose Erfahrungen gemacht, er hat
die Welt von ihrer schlechtesten Seite kennengelernt, be-
vor er sich entsdilossen hat, iiber sie nachzudenken. Ihn
befriedigt es daher, diese Welt als in ihrem Wesen unver-
niinftig vorzustellen, als das Ergebnis eines blinden Wil-
lens. Die Vernunft hat, nach seiner Denkweise, keine
Macht iiber die Unvernunft. Denn sie entsteht selbst als
das Ergebnis der Unvernunft, sie ist Schein und Traum,
aus dem Willen herausgezeugt. Schopenhauers Weltan-
schauung ist die in Gedanken umgesetzte diistere Grund-
stimmung seines Gemiites. Sein Auge war nicht darauf
eingestellt, die verniinftigen Einrichtungen des Daseins
mit Freuden zu verfolgen; es sah nur die in Leiden und
Schmerzen sich ausdriickende Unvernunft des blinden Wil-
lens. Seine Sittenlehre konnte sich daher audi nur auf die
Wahrnehmung des Leidens griinden. Moralisch ist ihm
eine Handlung nur, wenn sie auf dieser Wahrnehmung
beruht. Das Mitleid mu£ Quelle der menschlichen Taten
sein. Was konnte der Besseres tun, der einsieht, dafi alle
Wesen leiden, als alle seine Handlungen von dem Mit-
gefiihl leiten lassen? Da in dem Willen das Unverniinf-
tige und Schlechte liegt, so wird der Mensch moralisch urn
so hoher stehen, je mehr er das ungestume Wollen in sich
ertotet. Der Ausdruck des Willens in der einzelnen Person
ist die Selbstsucht, der Egoismus. Wer sich dem Mitgefiihl
hingibt, also nicht fiir sich, sondern fiir andere will, der
ist iiber den Willen Herr geworden. - Ein Weg, um von
dem Willen loszukommen, besteht in der Hingabe an das
KunstschafFen und an die Eindrucke, die von Kunstwer-
ken ausgehen. Der Kims tier schafft nicht, weil er etwas
begehrt, nicht weil sein eigensuchtiges Wollen auf Dinge
und Vorgange gerichtet ist. Er schafft aus unegoistischer
Freude. Er versenkt sich in das Wesen der Dinge als reiner
Betrachter. Ebenso ist es bei dem Geniefien der Kunst-
werke. Wenn wir vor einem Kunstwerke stehen und sich
die Begierde in uns regt, wir mochten es besitzen, dann
sind wir noch in die niedrigen Geluste des Willens ver-
strickt. Erst wenn wir die Schonheit bewundern, ohne sie
zu begehren, haben wir uns auf den erhabenen Standpunkt
erhoben, auf dem wir nicht mehr von dem blinden Wil-
len abhangig sind. Dann aber ist die Kunst fiir uns etwas
geworden, was uns fiir Augenblicke erlost von der Un-
vernunft des blind wollenden Daseins. Am reinsten ist
diese Erlosung im Genusse der musikaliscben Kunstwerke.
Denn die Musik spricht nicht durch die Vorstellung zu
uns wie die anderen Kunstarten. Sie bildet nichts ab in
der Natur. Da alle Naturdinge und Vorgange nur Vor-
stellungen sind, so konnen die Kiinste, welche diese Dinge
und Vorgange zum Vorbild nehmen, auch nur als Verkor-
perungen und Vorstellungen an uns herankommen. Die
Tone erzeugt der Mensch ohne natiirliches Vorbild aus
sich heraus. "Weil er den Willen als sein Wesen in sich hat,
so kann es auch nur der Wille sein, der die Welt der Musik
aus sich ganz unmittelbar ausstromt. Deshalb spricht die
Musik so stark zum menschlichen Gemiite, weil sie die
Verkorperung dessen ist, was das innerste Wesen des
Menschen, sein wahres Sein, den Willen, ausdriickt. Und
es ist ein Triumph des Menschen, dafi er erne Kunst hat,
in der er willensfrei, selbstlos das geniefit, was der Ur-
sprung alles Begehrens, der Ursprung aller Unvernunft
ist. Diese Anschauung Schopenhauers iiber die Musik ist
wieder das Ergebnis seiner ganz personlichen Eigenart.
Schon als Hamburger Kaufmannslehrling schreibt er an
seine Mutter: «Wie fand das himmlische Samenkorn Raum
auf unserem harten Boden, auf welchem Notwendigkeit
und Mangel um jedes Platzchen streiten? Wir sind ja ver-
bannt vom Urg'eist und sollen nicht zu ihm empordringen. . . .
Und doch hat ein mitleidenderEngel die himmlische Blume
fur uns erfleht und sie prangt hoch in voller Herrlichkeit
auf diesem Boden des Jammers gewurzelt. - Die Puls-
schlage der gottlichen Tonkunst haben nicht aufgehort zu
schlagen durch die Jahrhunderte der Barbarei und ein un-
mittelbarer Widerhall des Ewigen ist uns in ihr geblieben,
jedem Sinn verstandlich und selbst uber Laster und Tu-
gend erhaben.»
Man kann an der Stellung, welche die beiden Gegen-
fiiftler der Weltanschauung, Hegel und Schopenhauer, zur
Kunst einnehmen, sehen, wie die Weltauffassung eingreift
in das personliche Verhaltnis des Menschen zu den einzel-
nen Gebieten des Lebens. Hegel, der in der Vorstellungs-
und Ideenwelt des Menschen das sah, worauf die ganze
aufiere Natur als zu ihrer Vollendung hinstrebt, kann als
vollkommenste Kunst auch nur diejenige anerkennen, in
welcher der Geist am hochsten, am vollendetsten erscheint,
und wo er doch zugleich an demjenigen haftet, was fort-
wahrend nach ihm hinstrebt. Jedes Gebilde der aufteren
Natur will Geist sein; aber es erreicht ihn nicht. Wenn
nun der Mensch ein solches aufteres, raumliches Gebilde
schafTt, dem er den Geist einpragt, den es sucht, aber durch
sich selbst nicht erreichen kann, dann hat er ein vollkom-
menes Kunstwerk geschaffen. Das ist in der Plastik der
Fall. Was sonst nur im Innern der menschlichen Seele als
gestaltloser Geist, als Idee erscheint, das gestaltet der pla-
stische Kiinstler aus dem rohen Stoff heraus. Die Seele,
das Gemut, die wir in unserem Bewufksein ohne Gestalt
wahrnehmen: sie sprechen aus der Statue, aus einem Ge-
bilde des Raumes. In dieser Vermahlung von Sinnenwelt
und geistiger Welt liegt das Kunstideal einer Weltanschau-
ung, die im Hervorbringen des Geistes den Zweck der Na-
tur sieht, also das Schone audi nur in einem Werke sehen
kann, das als unmittelbarer Ausdruck des an der Natur
zum Vorschein kommenden Geistes erscheint. Wer dage-
gen wie Schopenhauer in aller Natur nur Vorstellung
sieht, der kann unmoglich dieses Ideal in einem Werke
sehen, das die Natur nachahmt. Er mufi zu einer Kunstart
greifen, die frei von aller Natur ist: das ist die Musik.
Alles, was zur Austilgung, ja Abtotung des Willens
fiihrt, sah Schopenhauer folgerichtig fur erstrebenswert
an. Denn ein Vertilgen des Willens bedeutet Vertilgen des
Unvernunftigen in der Welt. Der Mensch soli nicht wol-
len. Er soil alles Begehren in sich ertoten. Die Askese ist
daher Schopenhauers moralisches Ideal. Der Weise wird
alle Wiinsche in sich ausloschen, seinen Willen vollstandig
verneinen. Er bringt es so weit, dafi kein Motiv ihn noch
zum Wollen notigt. Sein Streben besteht nur noch in dem
quietistischen Drange nach Erlosung von allem Leben. In
den weltverneinenden Lebensansichten des Buddhismus
sah Schopenhauer eine hohe Weisheitslehre. Man kann da-
her seine Weltansicht gegemiber der Hegelschen eine reak-
tionare nennen. Hegel suchte den Menschen iiberall mit
dem Leben auszusohnen, er strebte danach, alles Handeln
als die Mitarbeit an einer vernunftigen Ordnung der Welt
darzustellen. Schopenhauer betrachtet die Lebensfeind-
schaft, die Abkehr von der Wirklichkeit, die Weltflucht
als Ideal des Weisen.
In der Hegelsdien Art der Welt- und Lebensansdiau-
ung liegt etwas, was Zweifel und Fragen hervortreiben
kann. Hegels Ausgangspunkt ist das reme Denken, die
abstrakte Idee, die er selbst als «austernhaftes, graues oder
ganz schwarzes» Wesen bezeidinet (Brief an Goethe vom
20. Februar 1821), von der er aber zugleidi behauptet,
dafi sie aufzufassen sei als die «Darstellung Gottes, wie
er in seinem ewigen Wesen vor der ErschafTung der Na-
tur und eines endlidien Geistes ist.» Das Ziel, zu dem er
kommt, ist der inhaltvolle, individuelle Menschengeist,
durch den das erst zum Vorschein kommt, was in dem
Grauen, Austernhaften nur ein schattenhaftesDasein fiihrt.
Er kann leidit so verstanden werden, dafl eine Persdnlich-
keit als lebendiges, selbstbewuStes Wesen aufier dem
menschlichen Geiste nidit vorhanden sei. Hegel leitet das
Inhaltreiche, das wir in uns erleben, aus dem Ideellen ab,
das wir erdenken miissen. Man kann es verstehen, dafi
Geister von einer gewissen Gemiitsanlage sidi von dieser
Welt- und Lebensansicht abgestofien fuhlten. Nur Denker
von soldi selbstlos hingebungsvoller Art wie Karl Rosen-
kranz (1805 — 1879) waren imstande, sidi ganz in den
Gedankengang Hegels einzuleben und in voller Uberein-
stimmung mit diesem selbst ein Ideengebaude zu sdiaffen,
das wie eine Wiedergabe des Hegelsdien aus einer weniger
bedeutenden Natur heraus ersdieint. Andere konnten nicht
begreifen, wie sidi der Mensch durch die reine Idee auf-
klaren soil iiber die Unendlichkeit und Mannigfaltigkeit
der Eindriidke, die auf ihn einsturmen, wenn er den Blick
auf die farben- und formenreidie Natur riditet, und wie
er dadurdi etwas gewinnen soil, dafi er von den Erleb-
nissen der Empfindungs-, Gefiihls- und Vorstellungswelt
seiner Seele den Blidt erhebt zu der eisigen Hohe des rei-
nen Gedankens. Man wird zwar Hegel mifiverstehen,
wenn man ihn so auslegt; doch ist dieses Mifiverstehen
begreiflich. Einen Ausdruck f and diese durch Hegels Vor-
stellungsart unbefriedigte Stimmung in der Gedankenstro-
mung, die ihre Vertreter hatte in Franz Benedikt Baader
(1765 — 1 841), Karl Christian Friedricb Krause (178 1 bis
1832), Immanuel Hermann Ficbte (1796 — 1879), Chri-
stian Hermann Wei fie (1801 — 1866), Anton Giinther
(1783— 1863), K.F.E.Trahndorff (1782— 1 863), Martin
Deutinger (18 15 — 1864) und Hermann Ulrici (1806 bis
1884). Sie waren bestrebt, an die Stelle des grauen, austern-
haften, reinen Gedankens Hegels ein lebenerfulltes, per-
sonliches Urwesen, einen individuellen Gott zu setzen.
Baader nannte es eine «gottesleugnerische Vorstellung»,
zu glauben,Gott erlange erst imMenschen sein vollkomme-
nes Dasein. Gott mufi eine Personlichkeit sem; und die
Welt darf nicht so, wie sidb. das Hegel vorstellt, als ein
logischer Prozeft aus ihm hervorgehen, in dem mit Not-
wendigkeit immer ein BegrifF einen anderen hervortreibt.
Nein, die Welt muft Gottes freie Tat, eine Schopfung sei-
nes allmachtigen Willens sein. Es nahern sich diese Denker
der christlichen OfTenbarungslehre. Sie zu rechtfertigen
und wissenschaftlich zu begrimden, wird der mebr oder
weniger bewuftte Zweck ihres Nachsinnens. Baader ver-
senkte sich in die Mystik Jacob Bohmes, des Meisters Eck-
hart, Taulers und Paracelsus', in deren bilderreicher Spra-
che er ein viel geeigneteres Mittel fand, die tiefsten Wahr-
heiten auszusprechen, als in den reinen Gedanken der
Hegelschen Lehre. Dafi er auch Schelling veranlafite, seine
Gedanken durch Aufnahme Jacob Bohmescher Vorstel-
lungen zu vertiefen, mit warmerem Inhalt zu erfullen, ist
bereits ausgefuhrt worden (vgl. S. 221 f.). Bemerkenswerte
Erscheinungen innerhalb der Weltanschauungsentwicke-
lung werden immer Personlichkeiten wie Krause sein. Er
war Mathematiker. Er hat sidi durch den stolzen, logisch-
vollkommenen Charakter dieser Wissenschaft nicht be-
stimmen lassen, die Weltanschauungsfragen, die seine tief-
sten Geistesbediirfnisse befriedigen sollten, nadi dem Mu-
ster der Methode zu losen, die ihm in dieser Wissenschaft
gelaufig war. Der Typus fur solche Denker ist der groSe
Mathematiker Newton, der die Erscheinungen des sicht-
baren Weltalls wie ein Rechenexempel behandelte und
daneben die Grundfragen der Weltanschauung fur sich
in einer dem Offenbarungsglauben nahestehenden Weise
befriedigte. Eine Ansicht, die das Urwesen der Welt
in den Dingen und Vorgangen sucht, kann Krause nicht
anerkennen. Wer Gott in der Welt sucht, wie Hegel,
kann inn nicht finden. Denn zwar ist die Welt in Gott,
Gott aber nicht in der Welt, sondern als selbstandiges,
in sich selig ruhendes Wesen vorhanden. Krauses Ideen-
welt liegt zugrunde der «Gedanke eines unendlichen, selb-
standigen Wesens, welches aufier sich nichts hat, an sich
aber und in sich als der eine Grund alles ist, und welches
wir mithin auch als den Grund denken von Vernunft,
Natur und Menschheit». Er will nichts gemeinsam haben
mit einer Anschauung, welche «das Endliche oder die Welt
als den Inbegriff des Endlichen fiir Gott selbst halt, ver-
gottert, mit Gott verwechselt». Man moge sich in die un-
seren Sinnen und unserem Gei-ste gegebene Wirklichkeit
noch so vertiefen, niemals wird man dadurch zum Ur-
grunde alles Seins kommen, von dem man nur dadurch
eine Vorstellung erhalten kann, dafi man die Beobachtung
alles endlichen Daseins begleitet sein lafit von dem ahnen-
den Schauen eines t)berweltlichen. Immanuel Hermann
Fichte hielt in seinen Schriften «Satze zur Vorschule der
Theologie» (1826) und «Beitrage zur Charakteristik der
neueren Philosophie» (1829) eine scharfe Abrechnung mit
dem Hegelianismus. Er hat in zahlreichen Werken dann
seine Auffassung, daft ein bewufttes, persdnliches Wesen
den Welterscheinungen zugrunde gelegt werden miisse, zu
begriinden und zu vertiefen gesucht. Urn der Gegnerschaft
gegen die von dem reinen Denken ausgehende Anschau-
ung Hegels eine nachdriickliche Wirkung zu verschafFen,
verband er sich mit den gleichgesinnten Freunden Weifie,
Sengler, K. Ph. Fischer, Chalybaus, Fr. Hoffmann, Ulrici,
Wirth und anderen im Jahre 1837 zur Herausgabe der
«2eitsdirift fur Philosophic und spekulative Theologie».
Nach I. H. Fichtes Oberzeugung ist nur derjenige zu der
hochsten Erkenntnis emporgestiegen, der begriffen hat,
daft «der hochste, wahrhaft das Weltproblem losende Ge-
danke die Idee des in seiner idealen wie realen Unend-
lichkeit sich wissenden, durchschauenden Ursubjekts oder
der absoluten Personlichkeit» ist. «Die Weltschopfung und
Erhaltung, was eben die Weltwirklichkeit ausmacht, be-
steht lediglich in der ununterbrochenen, vom Bewufttsein
durchdrungenen Willenserweisung Gottes, so daft er nur
Bewufttsein und Wille, beides aber in hochster Einheit,
er allein mithin Person, oder sie im eminentesten Sinne
ist.» Cbr. Hermann Wei fie glaubte von der Hegelschen
Weltanschauung zu einer vollkommen theologischen Be-
trachtungsweise aufsteigen zu miissen. In der christlichen
Idee von den drei Personlichkeiten in der einigen Gott-
heit sah er das Ziel seines Denkens. Diese Idee suchte er
daher mit einem ungemeinen Aufwand von Scharfsinn als
Ergebnis eines naturlichen, unbefangenen Denkens hinzu-
stellen. Etwas unendlich Reicberes als Hegel mit seiner
grauen Idee glaubte Weifte zu besitzen in seiner dreieini-
gen personlichen Gottheit, der lebendiger Wille eigen ist.
Dieser lebendige Wille «wird, mit einem Worte, der inner-
gottlichen Natur ausdriicklidi die Gestalt und keine an-
dere geben, welche in der Heiligen Schrift Alten und
Neuen Testamentes allerorten vorausgesetzt wird, wenn
sie Gott sowohl vor der Schopfung der Welt, als audi bei
und nach derselben in dem lichten Elemente seiner Herr-
lichkeit, als umgeben von einer unabsehbaren Heerschar
dienender Geister mit einer fliissigen, immateriellen Leib-
lichkeit vorstellt, durch die ihm iiberall ausdriicklich auch
sein Verkehr mit der geschaffenen Welt vermittelt wird».
Anton Gunther, der « Wiener Philosoph» und der unter
seinem Einfluft stehende Martin Deutinger bewegen sidi
mit ihren Weltanschauungsgedanken ganz innerhalb des
Rahmens der katholisch-theologischen Vorstellungsart. Der
erstere sucht den Menschen dadurch von der natiirlichen
Weltordnung loszulosen, daft er ihn in zwei Stucke zer-
trennt, in ein Naturwesen, das der notwendigen Gesetz-
mafiigkeit wie die niedrigeren Dinge angehort, und in ein
Geistwesen, das ein selbstandiger Teil einer hoheren Gei-
sterwelt ist und ein Dasein hat wie ein «seiendes» Wesen
bei Herbart. Er glaubte dadurch das Hegeltum, das im
Geiste nur eine hohere Stufe des Naturdaseins sieht, zu
uberwinden und eine christliche Weltanschauung zu be-
griinden. Die Kirche selbst war nicht dieser Ansiclit, denn
in Rom wurden Giinthers Schriften auf den Index der ver-
botenen Biicher gesetzt. Deutinger kampfte heftig gegen
Hegels reines Denken, das, nach seiner Ansicht, das lebens-
volle Sein nicht verschlingen diirfe. Der lebendige Wille
gilt ihm hoher als der reine Gedanke. Jener kann als schaf -
fender wirklich etwas hervorbringen; dieser ist machtlos
und abstrakt. Diesen lebendigen Willen macht audi
Trahndorff zu seinem Ausgangspunkte. Nicht aus dem
Schattenreidi der Ideen kann die Welt erklart werden,
sondern der kraftvolle Wille mufi diese Ideen ergreifen,
urn wirkliches Dasein zu schaffen. Nicht im denkenden Be-
greifen der Welt erschliefit sich dem Menschen deren tief-
ster Gehalt, sondern in einer Gemutserregung, in der Liebe,
durch die sich der einzelne an die Gesamtheit, an den im
All walten den Willen hingibt. Man sieht es ganz deutlich:
alle diese Denker sind bemuht, das Denken und seinen
Gegenstand, die reine Idee, zu iiberwinden. Sie wollen
dieses Denken nicht als die hochste GeistesauBerung des
Menschen gelten lassen. Trahndorff will, um das Ur-
wesen der Welt zu begreifen, dieses nicht erkennen, son-
dern lieben. Es soil ein Gegenstand fiir das Gemut, nicht
fur die Vernunft sein. Durch das klare, reine Denken,
glauben diese Philosophen, werde die warme, religiose
Hingabe an die Urkrafte des Daseins zerstort.
Dieser letzteren Vorstellung liegt eine mifiverstandliche
AufTassung der Hegelschen Gedankenwelt zugrunde. Die-
ses Miftverstandnis trat besonders in den Anschauungen
zutage, die sich nach Hegels Tode iiber dessen Stellung
zur Religion geltend machten. Die Unklarheit, die iiber
diese Stellung herrschend wurde, spaltete die Anhanger-
schaft Hegels in eine Partei, die in seiner Weltanschauung
eine feste Stiitze des geoffenbarten Christentums erblickte,
und in eine solche, die seine Lehre gerade dazu benutzte,
die christlichen Anschauungen aufzulosen und durch eine
radikal freigeistige Ansicht zu ersetzen.
Weder die eine noch die andere Partei hatte sich auf
Hegel berufen konnen, wenn sie ihn richtig verstanden
hatten. Denn in Hegels Weltanschauung liegt nichts, was
zur Stiitze einer Religion dienen oder zu deren Auflosung
fiihren kann. So wenig Hegel irgendeine Erscheinung der
Natur aus dem reinen Gedanken heraus schaffen wollte,
so wenig wollte er das mit einer Religion tun. Wie er aus
den Vorgangen der Natur den reinen Gedanken heraus-
losen und sie dadurch begreifen wollte, so verfolgte er
audi bei der Religion lediglich das Ziel, ihren Gedanken -
gehalt an die Oberflache zu bringen. Wie er alles in der
Welt als verniinftig ansah, weil es wirklich ist, so audi
die Religion. Sie muE da sein, geschaffen durch ganz an-
dere Seelenkrafte als dem Denker zur Verfugung stehen,
wenn dieser an sie herantritt, um sie zu begreifen. Es war
audi der Irrtum der I. H. Fichte, Chr. H. Weifte, Deu-
tinger und anderer, daft sie Hegel deshalb bekampften,
weil er nicht von der Sphare des reinen Gedankens fort-
geschritten sei zu dem religiosen Erfassen der personlichen
Gottheit. Eine solche Aufgabe hat sicli aber Hegel nie ge-
stellt. Sie betrachtete er als Sadie des religiosen BewuEt-
seins. Fichte, Weifie, Krause, Deutinger und andere woll-
ten aus der Weltanschauung heraus eine Religion schaj-
fen. Hegel ware eine solche Aufgabe ebenso absurd vor-
gekommen, wie wenn jemand aus der Idee des Lichtes
heraus die Welt hatte erleuchten wollen, oder aus dem
Gedanken des Magnetismus einen Magneten erschaffen.
Allerdings stammt, nach seiner Ansicht, so wie die ganze
Natur- und Geisteswelt, audi die Religion aus der Idee.
Deshalb kann der menschliche Geist diese Idee in der Re-
ligion wiederfinden. Aber wie der Magnet aus dem Ge-
danken des Magnetismus geschaffen ist vor dem Entstehen
des menschlichen Geistes und dieser hinterher diese Ent-
stehung nur zu begreifen hat, so ist auch die Religion aus
dem Gedanken geworden, bevor dieser Gedanke in der
menschlichen Seek als ein Bestandteil der "Weltanschauung
aufleuchtete. Hegel wiirde, wenn er die Religionskritik
seiner Schiller erlebt hatte, zu dem Ausspruche gedrangt
worden sein: Lasset die Hande weg von aller Grund-
legung einer Religion, von allem Schaffen religioser Vor-
stellungen, solange ihr Denker bleiben wollt und nicht
Messiasse werden wollt. Die Weltanschauung Hegels kann,
richtig verstanden, nicht zuriickwirken auf das religiose
Bewufttsein. Wer iiber die Kunst nachdenkt, steht zu die-
ser in dem gleichen Verhaltnisse wie derjenige zur Reli-
gion, der deren Wesen ergriinden will.
Dem Kampf der Weltanschauungen dienten die von
Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer in den Jahren
1838 bis 1843 herausgegebenen «Hallischen Jahrbiicher».
Von einer Verteidigung und Erklarung Hegels gingen sie
bald zu einer selbstandigen Fortbildung seiner Ideen wei-
ter und fuhrten auf diese Weise zu den Gesichtspunkten
hinuber, die wir im nachsten Aufsatz als diejenigen der
«radikalen Weltanschauungen » kennzeichnen. Vom Jahre
1 84 1 an nennen die Herausgeber ihre Zeitschrift «Deut-
sche Jahrbiicher» und betrachten als eines ihrer Ziele den
« Kampf gegen die politische Unfreiheit, gegen Feudal-
und Landgutstheorie». Sie griff en als radikale Politiker in
die Zeitentwickelung ein, forderten einen Staat, in dem
vollkommene Freiheit herrscht. Sie entfernten sich somit
von dem Geiste Hegels, der nicht Geschichte machen, son-
dern Geschichte begreifen wollte.
DIE KADIKALEN WELTANSCHAUUNGEN
Im Beginne der vierziger Jahre fiihrt ein Mann kraftige
Schlage gegen die Weltanschauung Hegels, der sich vorher
griindlich und intim in sie eingelebt hatte. Es ist Ludwig
Feuerbach (1804 — 1872). Die Kriegserklarung gegen die
Weltanschauung, aus der er herausgewachsen war, ist in
radikaler Form gegeben in semen Schriften «Vorlaufige
Thesen zur Reform der Philosophie» (1842) und in den
«Grundsatzen der Philosophic der Zukunft» (1843). Die
weitere Ausf uhrung seiner Gedanken konnen wir in seinen
anderen Schriften verfolgen «Das Wesen des Christen-
tums» (1841), «Das Wesen der Religion^ (1845) und in
der «Theogonie» (1857). - In dem Wirken Ludwig Feuer-
bachs wiederholte sich auf dem Gebiete der Geisteswis-
senschaft ein Vorgang, der sich fast ein Jahrhundert frii-
her auf dem naturwissenschaftlichen Gebiet (1759) durch
das Auftreten Caspar Friedricb Wolffs vollzogen hat. Die
Tat Wolffs bedeutet eine Reform der Idee der Entwicke-
lung auf dem Felde der Wissenschaft von den Lebewesen.
Wie die Entwickelung vor Wolff verstanden wurde, das
ist am deutlichsten aus den Ansichten des Mannes zu er-
sehen, welcher der Umwandlung dieser Vorstellung den
heftigsten Widerspruch entgegengesetzt hat: Albrecht von
Hollers. Dieser Mann, in dem die Physiologen mit Recht
einen der bedeutendsten Geister ihrer Wissenschaft ver-
ebren, konnte sich die Entwickelung eines lebendigen We-
sens nicht anders vorstellen als so, da£ der Keim bereits
alle Teile, die wahrend des Lebensverlaufes auftreten, im
kleinen, aber vollkommen vorgebildet enthalte. Die Ent-
wickelung soli also Auswickelung eines schon Dagewese-
nen sein, das zuerst wegen seiner Kleinheit oder aus an-
deren Grunden fur die Wahrnehmung verborgen war.
Wird diese Anschauung konsequent festgehalten, so ent-
steht im Laufe der Entwickelung nichts Neues, sondern es
wird ein Verborgenes, Eingeschachteltes fortlaufend an das
Licht des Tages gebracht. Haller hat diese Ansicht ganz
schroff vertreten. In der Urmutter Eva war im kleinen,
verborgen, schon das ganze Menschengeschlecht vorhan-
den. Diese Menschenkeime sind nur im Laufe der Welt-
geschichte ausgewickelt worden. Man sehe, wie der Philo-
soph Leibniz (1646 — 1716) die gleiche Vorstellung aus-
spricht: «So sollte ich meinen, daft die Seelen, welche eines
Tages menschliche Seelen sein werden, im Samen, wie jene
von anderen Spezies, dagewesen smd, daft sie in den Vor-
eltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge,
immer in der Form organisierter Dinge existiert haben.»
Nun hat Wolff in seiner 1759 erschienenen «Theoria gene-
rationis» dieser Idee der Entwickelung eine andere gegen-
iibergestellt, die von der Annahme ausgeht, daft Glieder,
die im Verlaufe des Lebens eines Organismus auftreten,
vorher in keiner Weise vorhanden waren, sondern in dem
Zeitpunkte, in dem sie wahrnehmbar werden, auch als
wirkliche Neubildungen erst entstehen. Wolff zeigte, daft
in dem Ei nichts von der Form des ausgebildeten Orga-
nismus vorhanden ist, sondern daft dessen Entwickelung
eine Kette von Neubildungen ist. Diese Ansicht macht
erst die Vorstellung eines wirklichen Werdens moglich.
Denn sie erklart, daft etwas entsteht, was noch nicht da-
gewesen ist, also im wahren Sinne «wird».
Hallers Ansicht leugnet das Werden, da sie nur ein
fortlaufendes Sichtbarwerden eines schon Dagewesenen
zugibt. Dieser Naturforscher setzte daher der Idee Wolffs
den Machtsprnch entgegen: «Es gibt kein Werden». (Nulla
est epigenesis!) Damit hat er in der Tat bewirkt, dafi
Wolff s Anschauung jahrzehntelang ganzlich unberUcksich-
tigt geblieben ist. Goethe schiebt den Widerstand, der sei-
nen Bemiihungen um die Erklarung der Lebewesen ent-
gegengebracht worden ist, der Einschachtelungslehre in
die Schuhe. Er hat sich bestrebt, die Gestaltungen inner-
halb der organischen Natur aus ihrem Werden, ganz im
Sinne einer wahrhaften Entwickelungsansicht zu ver-
stehen, wonach das an einem Lebewesen zum Vorschein
Kommende nicht schon verborgen dagewesen ist, sondern
wirklich erst entsteht, wenn es erscheint. Er schreibt 1817,
daft dieser Versuch, der seiner 1790 verfafken Sennit
iiber die Metamorphose der Pflanzen zugrunde lag, eine
«kalte, fast unfreundliche Begegnung zu erfahren hatte.
Soldier Widerwille jedoch war ganz natiirlich: die Ein-
schachtelungslehre, der Begriff von Preformation, von
sukzessiver Entwickelung des von Adams Zeiten her schon
Vorhandenen hatten sich selbst der besten Kopfe im all-
gemeinen bemachtigt.» Auch in Hegels Weltanschauung
konnte man noch einen Rest der alten Einschachtelungs-
lehre sehen. Der reine Gedanke, der im Menschengeiste
erscheint: er sollte in alien Erscheinungen eingeschachtelt
liegen, bevor er in dem Menschen zum wahrnehmbaren
Dasein gelangt. Vor die Natur und den individuellen Geist
setzt Hegel diesen reinen Gedanken, der gleichsam sein
soli die «Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen We-
sen vor der Erschaffung» der Welt war. Die Entwickelung
der Welt stellt sich somit als eine Auswickelung des reinen
Gedankens dar. So stellte sich Feuerbach zu Hegel. Der
Protest Ludwig Feuerbachs gegen die Weltanschauung He-
gels beruht darauf, da£ er ein Vorhandensein des Geistes
vor seinem wirklichen Auftreten in dem Menschen eben-
sowenig anerkennen konnte, wie Wolff zuzugeben im-
stande war, dafi die Telle des lebendigen Organismus
schon im Ei vorgebildet seien. Wie dieser in den Organen
des Lebewesens Neubildungen sah, so Feuerbach in dem
individuellen Geiste des Mensdien. Dieser ist in keiner
Weise vor seinem wahrnehmbaren Dasein vorhanden; er
entsteht erst in dem Zeitpunkte, in dem er wirklich auf-
tritt. Es ist also fur Feuerbach unbereditigt, von einem
Allgeist, von einem Wesen zu sprechen, in dem der ein-
zelne Geist seinen Ursprung habe. Es ist kein vernunfti-
ges Sein vor seinem tatsachlichen Auftreten in der Welt
vorhanden, das sich den Stoff, die wahrnehmbare Welt so
gestaltet, dafi zuletzt im Menschen sein Abbild zur Er-
scheinung kommt, sondern vor der Entstehung des Men-
schengeistes sind nur vernunftlose Stoffe und Krafte vor-
handen, die aus sich heraus ein Nervensystem gestalten,
das sich im Gehirn konzentriert; und in diesem entsteht
als vollkommene Neubildung etwas nodi nicht Dagewese-
nes: die menschliche, vernunftbegabte Seele. Fur eine sol-
che Weltanschauung gibt es keine Moglichkeit, die Vor-
gange und Dinge von einem geistigen Urwesen abzulei-
ten. Denn ein Geistwesen ist eine Neubildung infolge der
Organisation des Gehirns. Und wenn der Mensch Geisti-
ges in die Aufienwelt versetzt, so stellt er sich vollig will-
kurlich vor, dafi ein Wesen, wie es seinen eigenen Hand-
lungen zugrunde liegt, aufier ihm vorhanden sei und die
Welt regiere. Jegliches geistige Urwesen mufi der Mensch
aus seiner Phantasie heraus erst erschafTen; die Dinge
und Vorgange der Welt geben keine Veranlassung, ein
solches anzunehmen. Nicht das geistige Urwesen, in dem
die Dinge eingeschachtelt liegen, hat den Menschen nach
seinem Ebenbilde geschaffen, sondern der Mensch hat sich
nach seinem eigenen Wesen das Phantasiebild eines sol-
chen Urwesens geformt. Das ist Feuerbachs Oberzeugung.
«Das Wissen des Menschen von Gott ist das Wissen des
Menschen von sich, von seinem eigenen Wesen. Nur die
Einheit des Wesens und Bewufkseins ist Wahrheit. Wo
das Bewufttsein Gottes, da ist audi das Wesen Gottes -
also im Menschen.* Der Mensch fiihlte sidi nicht stark ge-
nug, sich ganz auf sich selbst zu stutzen; deshalb schuf er
sich nach dem eigenen Bilde ein unendliches Wesen, das
er verehrt und anbetet. Die Hegelsche Weltanschauung
hat zwar alle anderen Eigenschaften aus dem Urwesen
entfernt; sie hat aber fiir dasselbe noch die Verniinftig-
keit beibehalten. Feuerbach entfernt audi diese; und da-
mit hat er das Urwesen selbst beseitigt. Er setzt an die
Stelle der Gottesweisheit vollig die Weltweisheit. Als
einen notwendigen Wendepunkt in der Weltanschauungs-
entwickelung bezeichnet Feuerbach das «o£fene Bekennt-
nis und Eingestandnis, dafi das Bewuj&tsein Gottes nichts
anderes ist als das Bewufitsein» der Menschheit, dafi der
Mensch kein «anderes Wesen als absolutes, als gottliches
Wesen denken, ahnen, vorstellen, fiihlen, glauben, wol-
len, lieben und verehrenkann als das menschlicheWesen».
Es gibt eine Anschauung von der Natur und eine solche
von dem Menschengeiste, aber keine von dem Wesen Got-
tes. Nichts ist wirklich als das Tatsachliche. «Das Wirk-
liche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das
Wirkliche als Objekt des Sinns, ist das Sinnliche. Wahr-
heit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch. Nur ein sinn-
liches Wesen ist ein wahres, ein wirkliches Wesen. Nur
durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinne
gegeben - nicht durch das Denken fiir sich selbst. Das mit
dem Denken gegebene oder identische Objekt ist nur Ge-
danke.» Das heiftt denn doch nichts anderes als: das Den-
ken tritt im menschlichen Organismus als Neubildung auf,
und man ist nicht berechtigt, sich vorzustellen, daft der
Gedanke vor seinem Auftreten sdion in irgendeiner Form
in der Welt eingeschachtelt verborgen gelegen hat. Man
soli nicht die Beschaffenheit des tatsachlich Vorhandenen
dadurch erklaren wollen, daft man es aus einem schon
Dagewesenen ableitet. Wahr und gottlich ist nur das Tat-
sachliche, was «unmittelbar . . . sich setbst gewift ist, unmit-
telbar fur sich spricht und einnimmt, unmittelbar die Be-
jahung, daft es ist, nach sich zieht - das schlechthin Ent-
schiedene, schlechthin Unzweifelhafte, das Sonnenklare.
Aber sonnenklar ist nur das Sinnliche; nur wo die Sinn-
lichkeit anfangt, hort aller Zweifel und Streit auf. Das
Geheimnis des unmittelbaren Wissens ist die Sinnlichkeit.»
Feuerbachs Bekenntnis gipfelt in den Worten: «Die Phi-
losophic zur Sache der Menschheit zu machen, das war
mein erstes Bestreben. Aber wer einmal diesen Weg ein-
schlagt, kommt not wen dig zuletzt dahin, den Menschen
zur Sache der Philosophic zu machen. .» «Die neue Philo-
sophic macht den Menschen mit Einschluft der Natur, als
der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und
hdchsten Gegenstand der Philosophic - die Anthropologic
also, mit Einschluft der Physiologie zur Universalwissen-
schaft.» Feuerbach fordert, daft die Vernunft nicht als
Ausgangspunkt an die Spitze der Weltanschauung ge-
stellt werde, wie dies Hegel tut, sondern daft sie als Ent-
wickelungsprodukt, als Neubildung betrachtet werde an
dem menschlichen Organismus, an dem sie tatsachlich auf-
tritt. Und ihm ist jede Abtrennung des Geistigen von dem
Leiblichen zuwider, weil es nicht anders verstanden wer-
den kann, denn als Entwickelungsergebnis des Leiblichen.
«Wenn der Psycholog sagt: ,Ich unterscheide mich von
meinern Leibe', so ist damit ebensoviel gesagt, als wenn
der Philosoph in der Logik oder in der Metaphysik der
Sitten sagt: ,Ich abstrahiere von der menschlichen Natur/
Ist es moglich, da£ du von deinem Wesen abstrahierst?
Abstrahierst du denn nicht als Mensch? Denkst du ohne
Kopf? ... Die Gedanken sind abgeschiedene Seelen. Gut;
aber ist nicht auch die abgeschiedene Seele noch ein treues
Bild des weiland leibhaftigen Menschen? Andern sich nicht
selbst die allgemeinsten metaphysischen Begriffe . . . von Sein
und Wesen, so wie sich das wirkliche Sein und Wesen der
Menschen andert? Was heifk also: Ich abstrahiere von der
menschlichen Natur? Nichts weiter, als ich abstrahiere
vom Menschen, wie er Gegenstand meines Bewufkseins
und Denkens ist, aber nimmermehr vom Menschen, der
hinter memem Bewufksein liegt, das heifk von meiner Na-
tur, an die nolens volens unaufloslich meine Abstraktion
gebunden ist. So abstrahierst du denn auch als Psycholog
in Gedanken von deinem Leibe, aber gleichwohl bist du
im Wesen aufs innigste mit ihm verbunden, das heifk, du
denkst dich unterschieden von ihm, aber du bist deswegen
noch lange nicht von ihm wirklich unterschieden. . . . Hat
aber nicht auch Lichtenberg recht, wenn er behauptet: man
sollte eigentlich nicht sagen, ich denke, sondern es denkt.
Wenn also gleich das: Ich denke, sich vom Leibe unter-
scheidet, folgt daraus, dafi auch das: Es denkt, das Un-
willkurliche in unserem Denken, die Wurzel und Basis
des: Ich denke, vom Leibe unterschieden ist? Woher
kommt es denn, dafi wir nicht zu jeder Zeit denken kon-
nen, da£ uns nicht die Gedanken nach Belieben zu Ge-
bote stehen, da£ wir oft mitten in einer geistigen Arbeit
trotz der angestrengtesten Willensbestrebungen nicht von
der Stelle kommen, bis irgendeine aufiere Veranlassung,
oft nur eine Witterungsveranderung, die Gedanken wie-
der flott madit? Daher, dafl auch die Denktdtigkeit eine
organische Tdtigkeit ist. Warum miissen wir oft jahre-
lang Gedanken mit uns herumtragen, ehe sie uns klar und
deutlich werden? Darum, weil auch die Gedanken einer
organischen Entwickelung unterworfen sind, auch die Ge-
danken reifen und zeitigen miissen 3 so gut als die Fruchte
auf dem Felde und die Kinder im Mutterleibe .»
Feuerbach weist auf Georg Cbristoph Lichtenberg hin,
den im Jahre 1799 verstorbenen Denker, der mit mancher
seiner Ideen als ein Vorlaufer der Weltanschauung be-
trachtet werden mufi, die in Geistern wie Feuerbach einen
Ausdruck gefunden hat und der mit seinen anregenden
Vorstellungen wohl nur deshalb nicht so befruchtend fiir
das neunzehnte Jahrhundert geworden ist, weil die alles
iiberschattenden machtigen Gedankengebaude Fichtes,
Scliellings, Hegels die Gedankenentwickelung so in An-
spruch genommen haben, dafi aphoristische Ideenblitze,
wenn sie auch so erhellend waren wie die Lichtenbergs,
iibersehen werden konnten. Man braucht nur an einzelne
Ausspriiche des bedeutenden Mannes zu erinnern, um zu
zeigen, wie in der von Feuerbach eingeleketen Gedanken-
bewegung sein Geist wieder auflebte. «Gott schuf den
Menschen nach seinem Bilde, das heifit vermutlich, der
Mensch schuf Gott nach dem seinigen.» «Unsere Welt
wird noch so fein werden, dafi es so lacherlich sein wird,
einen Gott zu glauben als heutzutage Gespenster.» «Ist
denn wohl unser Begriff von Gott etwas anderes als per-
sonifizierte Unbegreiflichkeit?» «Die Vorstellung, die wir
uns von einer Seele machen, hat viel Ahnlichkeit mit der
von einem Magneten in der Erde. Es ist blofi Bild. Es ist
ein dem Mensdien angeborenes Erfindungsmittel, sich alles
unter dieser Form zu denken.» «Anstatt dafi sich die
Welt in uns spiegelt, sollten wir vielmehr sagen, unsere
Vernunft spiegelt sich in der Welt. Wir konnen nichts
anderes, wir miissen Ordnung und weise Regierung in
der Welt erkennen, dies folgt aus der Einrichtung unserer
Denkkraft. Es ist aber noch keine Folge, dafi etwas, was
wir notwendig denken miissen, audi wirklich so ist
also daraus . . . lafit sich kein Gott erweisen.» « Wir werden
uns gewisser Vorstellungen bewulk, die nicht von uns
abhangen; andere, glauben wir wenigstens, hangen von
uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Exi-
stenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedan-
ken. Es denkt y sollte man sagen, so wie man sagt: es
blitzt.» Hatte Liditenberg bei solchen Gedankenansatzen
die Fahigkeit gehabt, eine in sich harmonische Welt-
anschauung auszubilden: er hatte nicht in dem Grade un-
beriicksichtigt bleiben konnen, in dem dies geschehen ist.
ZurBildung einer Weltanschauung gehort nicht nur Ober-
legenheit des Geistes, die er besafi, sondern auch das Ver-
mogen, Ideen im Zusammenhange allseitig auszugestalten
und plastisch zu runden. Dies Vermogen ging ihm ab.
Seine Oberlegenheit spricht sich in einem vortreff lichen
Urteile iiber das Verhaltnis Kants zu seinen Zeitgenossen
aus: «Ich glaube, dafi, so wie die Anhanger des Herrn
Kant ihren Gegnern immer vorwerfen, sie verstanden ihn
nicht, so auch manche glauben, Herr Kant habe recht,
weil sie ihn verstehen. Seine Vorstellungsart ist neu und
weicht von der gewohnlichen sehr ab; und wenn man nun
auf einmal Einsicht in dieselbe erlangt, so ist man auch
sehr geneigt, sie fur wahr zu halten, zumal da er so viele
eifrige Anhanger hat. Man sollte aber dabei immer be-
denken, dafi dieses Verstelien nodi kein Grund ist, es selbst
fur wahr zu halten. Ich glaube, dafi die meisten iiber der
Freude,ein sehr abstraktes und dunkelabgefafkes System zu
verstehen, zugleich geglaubt haben, es sei demonstriert.» -
Wie geistesverwandt sich Ludwig Feuerbach mit Lichten-
berg fiihlen mufke, das zeigt sich besonders, wenn man
vergleicht, auf welche Gesichtspunkte sich beide Denker
stellten, wenn sie das Verhaltnis ihrer "Weltanschauung
zum praktischen Leben in Betracht zogen. Die Vorlesun-
gen, die Feuerbach vor einer Anzahl von Studenten im
Winter 1848 iiber das «Wesen der Religion» hielt, sdilofi
er mit den Worten: «Ich wiinsche nur, dafi ich die mir ...
gestellte, in einer der ersten Stunden ausgesprochene Auf-
gabe nicht verfehlt habe, die Aufgabe namlich, Sie aus
Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Glaubigen zu
Denkern, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des
Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen, welche
ihrem eigenen Bekenntnis und Gestandnis zufolge ,halb
Tier, halb Engel £ sind, zu Menschen, zu ganzen Menschen
zu machen.» Wer, wie Feuerbach das getan hat, alle Welt-
anschauung auf die Grundlage der Natur- und Menschen-
erkenntnis stellt, der mufi auch auf dem Gebiete der Mo-
ral alle Aufgaben, alle Pflichten ablehnen, die aus einem
anderen Gebiet stammen als aus den natiirlichen An-
lagen des Menschen, oder die ein anderes Ziel haben als
ein solches, das sich ganz auf die wahrnehmbare Welt be-
zieht. «Mein Recht ist mein gesetzlich anerkannter Gliick-
seligkeitstrieb; meine Pflicht der mich zur Anerkennung
zwingende Gliickseiigkeitstrieb anderer.» Nicht im Aus-
blick auf ein Jenseits wird mir Aufschlufi, was ich tun
soil, sondern aus der Betraditung des Diesseits. Soviel
Kraft ich darauf verwende, irgendwelche Aufgaben zu
erfiillen, die sich auf das Jenseits beziehen, so viel ent-
ziehe idi von meinen Fahigkeiten dem Diesseits, fur das
ich einzig bestimmt bin. «Konzentration auf das Dies-
seits^ ist es daher, was Ludwig Feuerbach veriangt. Wir
konnen in Lichtenbergs Schriften ahnliche Worte lesen.
Aber gerade diese sind zugleich mit Bestandteilen ver-
mischt, die zeigen, wie wenig es einem Denker, der nicht
das Vermogen hat, seine Ideen in sich harmonisch auszu-
bilden, gelingt, eine Idee bis in ihre auftersten Konsequen-
zen zu verfolgen. Lichtenberg fordert schon die Konzen-
tration auf das Diesseits, aber er durchsetzt diese Forde-
rung noch immer mit Vorstellungen, die auf ein Jenseits
zielen. «Ich glaube, sehr viele Menschen vergessen uber
ihre Erziehung fur den Himmel, die fur die Erde. Ich
sollte denkeriy der Mensch handelte am weisesten, wenn
er erstere ganz an ihren Ort gestellt sein lie fie. Denn wenn
wir von einem weisen Wesen an diese Stelle gesetzt wor-
den sind, woran kein Zweifel ist, so la fit uns das Beste
in dieser Station tun, und uns nicht durch Offenbarungen
blenden. Was der Mensch zu seiner Gliickseligkeit zu wis-
sen notig hat, das weifi er gewifi ohne alle andere Offen-
barung als die, die er seinem Wesen nach besitzt.» Ver-
gleiche, wie der zwischen Lichtenberg und Feuerbach, sind
fiir die Geschichte der "Weltanschauungsentwickelung be-
deutsam. Sie zeigen den Fortgang der Geister am an-
schaulichsten, weil man aus ihnen erkennt, was der Zeit-
abstand, der zwischen ihnen liegt, an diesem Fortgang
bewirkt hat. Feuerbach ist durch Hegels Weltanschauung
durchgegangen; er hat aus ihr die Kraft gezogen, seine
entgegengesetzte Ansicht allseitig auszubilden. Er wurde
nicht mehr gestort durch die Kantsche Frage: ob wir denn
wirkiich audi ein Redit haben, der Welt, die wir wahr-
nehmen, audi Wirklichkeit zuzuschreiben oder ob diese
Welt nur in unserer Vorstellung existiere? Wer das letz-
tere behauptet, der kann in die jerrseits der Vorstellungen
liegende wahre Welt alle moglichen Triebkrafte fur den
Menschen verlegen. Er kann neben der naturlichen eine
iibernaturliche Weltordnung gelten lassen, wie dies Kant
getan hat. Wer aber im Sinne Feuerbachs das Wahrnehm-
bare fur das Wirkliche erklart, der mufi alle ubernatiir-
liche Weltordnung ablehnen. Fiir ihn gibt es keinen irgend-
woher aus dem Jenseits stammenden kategorischen Im-
perativ; fiir ihn sind nur Pflichten vorhanden, die sich
aus den naturlichen Trieben und Zielen des Menschen er-
geben.
Urn eine zur Hegelschen in solchem Gegensatz stehende
Weltanschauung auszubilden, wie dies Feuerbach getan
hat, dazu gehorte allerdings audi eine Personlichkeit, die
von der Hegels so verschieden war wie die seinige. Hegel
fiihlte sich wohl mitten im Getriebe des ihm gegenwarti-
gen Lebens. Das unmittelbare Treiben der Welt mit sei-
nem philosopischem Geiste zu beherrschen, war ihm eine
schone Aufgabe. Als er von seiner Lehrtatigkeit in Heidel-
berg enthoben sein wollte, um nach Preufien uberzugehen,
da lie£ er in seinem Abschiedsgesuch deutlich durchblicken,
daft ihn die Aussicht lockte, einmal einen Tatigkeitskreis
zu finden, der ihn nicht auf das blofie Lehren beschranke,
sondern ihm das Eingreifen in die Praxis moglich mache.
«Es miisse fiir ihn vornehmlich die Aussicht von grofiter
Wichtigkeit sein, zu mehrer Gelegenheit bei weiter vor-
riickendem Alter von der prekaren Funktion, Philosophic
an einer Universitat zu dozieren, zu einer anderen Tatig-
keit iibergehen und gebraucht werden zu konnen.» Wereine
solche Denkergesinnung hat, der mufi in Frieden leben
mit der Gestalt des praktischen Lebens, die dieses zu sei-
ner Zeit angenommen hat. Er mufi die Ideen, von denen
es durchtrankt ist, verniinftig finden. Nur daraus kann er
die Begeisterung schopfen, an ihrem Ausbau mitzuwir-
ken. Feuerbadi war dem Leben seiner Zeit nicht freund-
lich gesinnt. Ihm war die Stille eines abgeschiedenen Ortes
lieber als das Getriebe des in seiner Zeit «modernen» Le-
bens. Er spricht sich dariiber deutlich aus: «Dberhaupt
werde idi mich nie mit dem Stadteieben versohnen. Von
Zeit zu Zeit in die Stadt zu Ziehen, um zu lehren, das
hake ich, nach den Eindrucken . . ., die ich bereits hier hervor-
gebracht habe, fur gut, ja fur meine Pflicht; aber dann
mufi ich wieder zuriick in die landliche Einsamkeit, um
hier im Schofie der Natur zu studieren und auszuruhen. . . .
Meine nachste Aufgabe ist, meine Vorlesungen, wie meine
Zuhorer wiinschen, oder die Papiere Vaters zum Drucke
vorzubereiten.» Von seiner Einsamkeit aus glaubte Feuer-
badi am besten beurteilen zu konnen, was an der Gestalt,
die das wirkliche Leben angenommen hat, nicht natiirlich,
sondern nur durch die menschliche Illusion in dasselbe hin-
eingetragen worden ist. Die Reinigung des Lebens von
den Illusionen, das betrachtete er als seine Aufgabe. Dazu
mufite er dem Leben in diesen Illusionen so fern als mog-
lich stehen. Er suchte nach dem wahren Leben; das konnte
er in der Form, die das Leben durch die Zeitkultur ange-
nommen hatte, nicht finden. Wie ehrlich er es mit der
«Konzentration auf das Diesseits» meinte, das zeigt ein
Ausspruch, den er iiber die Marzrevolution getan hat. Sie
schien ihm unfruchtbar, weil in den Vorstellungen, die
ihr zugrunde lagen, noch der alte Jenseitsglaube fortlebte:
«Die Marzrevolution war iiberhaupt noch ein, wenn auch
illegitimes Kind des christlichen Giaubens. Die Konstitu-
tionellen glaubten, daft der Herr nur zu sprechen brauche:
es sei Freiheit! es sei Recht! so ist auch schon Recht und
Freiheit; und die Republikaner glaubten, daft man eine
Republik nur zu wollen brauche, urn sie auch schon ins
Leben zu rufen; glaubten also an die Schopfung gleichsam
einer Republik aus Nichts, Jene versetzten die christlichen
Wortwunder, diese die christlichen Tatwunder auf das Ge-
biet der Politik.» Nur eine Personiichkeit, die die Harmo-
nie des Lebens, deren der Mensch bedarf, uVsich selbst zu
tragen vermeint, kann bei dem tiefen Unfrieden, in dem
Feuerbach mit der Wirklichkeit lebte, zugleich die Hym-
nen auf die Wirklichkeit sprechen, die er gesprochen hat.
Dieses horen wir aus Worten wie diese: «In Ermangelung
einer Aussicht ins Jenseits kann ich im Diesseits, im Jam-
mertal der deutschen, ja europaischen Politik iiberhaupt,
nur dadurch mich bei Leben und Verstand erhalten, daft
ich die Gegenwart zu einem Gegenstande aristophanischen
Gelachters . . . mache.» Nur eine solche Personiichkeit
konnte aber auch alle die Kraft, die andere von einer aufie-
ren Macht ableiten, im Menschen selbst suchen.
Die Geburt des Gedankens hatte in der griechischen
Weltanschauung bewirkt, daft der Mensch sich nicht mehr
so verwachsen mit der Welt fiihlen konnte, wie ihm das
beim alten Bildvorstellen moglich war. Es war dies die
erste Stufe in dem Bilden eines Abgrundes zwischen Mensch
und Welt. Eine weitere Stufe war gegeben mit der Ent-
wickelung der neueren naturwissenschaftlichen Denkungs-
art. Diese Entwickelung rift die Natur und die Menschen-
seele vollig auseinander. Es muftte auf der einen Seite ent-
stehen ein Bild der Natur, in welchem der Mensch, seinern
geistig-seelisdben Wesen nach, nidit zu finden ist; und auf
der anderen Seite eine Idee von der Menschenseele, welche
zu der Natur keine Briicke fand. In der Natur fand man
gesetzmaftige Notwendigkeit. Innerhalb dieser hatte kei-
nen Platz, was in der Menschenseele sich findet: Impuls
der Freiheit, der Sinn fur ein Leben, das in einer geistigen
Welt wurzelt und mit dem Sinnesdasein nicht erschopft
ist. Geister wie Kant fanden nur einen Ausweg, indem sie
beide Welten vollig schieden: in der einen Natur wissen,
in der anderen Glauben fanden. Goethe, Schiller, Fichte,
Schelling, Hegel dachten die Idee der selbstbewulken
Seele so umfassend, daft diese in einer hoheren Geistnatur
zu wurzeln schien, die iiber Natur und Menschenseele
stent. Mit Feuerbach tritt ein Geist auf, welcher durch das
Bild der Welt, welches die neue naturwissenschaftliche
Vorstellungsart geben kann, sich genotigt glaubt, der
Menschenseele alles absprechen zu miissen, was dem Na-
turbild widerspricht. Ermacht die Menschenseele zu einem
Gliede der Natur. Er kann dies nur, weil er alles aus dieser
Menschenseele erst herausdenkt, was ihn stort, sie als ein
Glied der Natur anzuerkennen. Fichte, Schelling, Hegel
nahmen die selbstbewufke Seele als das, was sie ist; Feuer-
bach macht sie zu dem, was er fur sein Weltbild braucht.
Mit ihm tritt eine Vorstellungsart auf, welche sich iiber-
waltigt fuhlt von dem Bilde der Natur. Sie kann mit den
beiden Teilen des modernen Weltbildes, dem Naturbilde
und dem Seelenbilde, nicht fertig werden; deshalb geht
sie an dem einen, dem Seelenbilde, ganz vorbei. Wolffs
Idee von der Neubildung fiihrt dem Naturbilde frucht-
bare Impulse zu; Feuerbach verwendet diese Impulse fur
eine Geistwissenschaft, die nur dadurch bestehen kann,
dafi sie sich auf den Geist gar nicht einlalk. Er begriindet
eine Weltanschauungsstromung, welche dem machtigsten
Impuk des modernen Seelenlebens, dem lebendigen Selbst-
bewufitsein, ratios gegeniibersteht. In dieser Weltanschau-
ungsstromung zeigt sich dieser Impuls in der Art, dafi er
nicht nur als unbegreiflich genommen wird, sondern dafi
man sich, weil er unbegreiflich scheint, iiber seine wahre
Gestalt hinwegsetzt und ihn zu etwas macht - einem Na-
turfaktor das er vor einer unbefangenen Beobachtung
nicht ist.
*i
«Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein
zweiter, der Mensch mein dritter und letzter Gedanke. »
So schildert Feuerbach den Weg, den er gegangen war
vom Glaubigen zum Anhanger der Hegelschen und dann
zu seiner eigenen Weltanschauung. Dasselbe hatte der
Denker von sich sagen konnen, der im Jahre 1835 eines
der wirksamsten Biicher des Jahrhunderts geliefert hat,
das «Leben Jesu». Es war David Friedricb Strang (1808
bis 1874). Feuerbach ging von einer Untersuchung der
menschlichen Seele aus und fand, daft sie das Bestreben
hat, ihr eigenes Wesen in die Welt hinaus zu versetzen
und als gottliches Urwesen zu verehren. Er versuchte eine
psychologische Erklarung dafiir, wie der GottesbegrifF
entsteht. Den Anschauungen von Straufi lag ein ahnliches
Ziel zugrunde, er ging aber nicht wie Feuerbach den Weg
des Psychologen, sondern den des Geschichtsforschers. Und
er stellte nicht den Gottesbegriff im allgemeinen, in dem
umfassenden Sinn, in dem das Feuerbach getan hat, in
den Mittelpunkt seines Nachsinnens, sondern den christ-
lichen BegrifT des Gottmenschen Jesu. Er wollte zeigen,
wie die Menschheit zu dieser Vorstellung im Verlaufe der
Geschichte gelangt ist. Dafi im menschlichen Geiste sich
das gottliche Urwesen offenbart, war die Uberzeugung
der Hegelschen Weltanschauung. Diese hatte audi Strauft
aufgenommen. Aber nicht in einem einzelnen Menschen
kann sich, nach seiner Meinung, die gottliche Idee in ihrer
ganzen Vollkommenheit verwirklichen. Der individuelle
Einzelmensch ist immer nur ein unvollkommener Abdruck
des gottlichen Geistes. Was dem einen Menschen zur Voll-
kommenheit fehlt, das hat der andere. Wenn man das
ganze Menschengeschlecht ansieht, so wird man in ihm,
auf unzahlige Individuen verteilt, alle Vollkommenheiten
finden, die der Gottlichkeit eigen sind. Das Menschen-
geschlecht im ganzen ist somit der fleischgewordene Gott,
der Gottmensch. Dies ist, nach Straufi' Meinung, der Jesus-
begriff des Denkers. Von diesem Gesichtspunkt aus tritt
Straufi an die Kritik des christlichen Begriffes vom Gott-
menschen heran. Was dem Gedanken nach auf das ganze
Menschengeschlecht verteilt ist, legt das Christentum einer
Personlichkeit bei, die einmal im Verlauf der Geschichte
wirklich existiert haben soli. «In einem Individuum, einem
Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigen-
schaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo
zuschreibt: in der Idee der [menschlichen] Gattung stimmen
sie zusammen.» Gestiitzt auf sorgfaltige Untersuchungen
iiber die historischen Grundlagen der Evangelien, sucht
Straufi nachzuweisen, daiS die Vorstellungen des Christen-
tums Ergebnisse der religiosen Phantasie sind. Diese habe
die religiose Wahrheit, dafi die menschliche Gattung der
Gottmensch sei, zwar dunkel geahnt, aber nicht in klare
Begriffe gefafit, sondern in einer dichterischen Gestalt,
in einem My thus zum Ausdrucke gebracht. Die Geschichte
des Gottessohnes wird so fur Straufi zum Mythus, in dem
die Idee der Menschheit dichterisch gestaltet wurde, lange
bevor sie von den Denkern in der Form des reinen Ge-
dankens erkannt wurde. Von diesem Gesichtspunkt aus
gewinnt alles Wunderbare der christlichen Geschichte eine
Erklarung, ohne dafi man gezwungen ist, zu der vorher
oft angenommenen trivialen Auffassung zu greifen, in den
Wundern absichtlidie Tauschungen oder Betriigereien zu
sehen, zu denen der Religionsstifter entweder selbst ge-
griffen haben soil, um mit seiner Lehre einen moglichst
grofien Eindruck zu machen, oder welche die Apostel zu
diesem Zwecke ersonnen haben sollen, Audi eine andere
Ansicht, weldie in den Wundern allerlei naturliche Vor-
gange sehen wollte, war beseitigt. Die Wunder stellten
sich dar als dichterisches Gewand fur wirkliche Wahr-
heiten. Wie die Menschheit von ihren endlichen Interessen,
dem Leben des Ailtags, sich erhebt zu ihren unendlichen,
zur Erkenntnis der gottlichen Wahrheit und Verniinftig-
keit: das stellt der My thus in dem Bilde des sterbenden
und auferstehenden Heilandes dar. Das Endliche stirbt,
um als Unendliches wieder zu erstehen.
Im Mythus der alten Volker ist der Niederschlag des
Bildervorstellens der Urzeit zu sehen, aus dem sich das
Gedankenerleben herausentwickelt hat. Ein Gefuhl von
dieser Tatsache lebt im neunzehnten Jahrhundert bei einer
Personlichkeit wie Straufi auf. Er will sich iiber den Fort-
gang und die Bedeutung des Gedankenlebens orientieren,
indem er sich in den Zusammenhang der Weltanschauung
mit dem mythischen Denken in der geschichtlichen Zeit
vertieft. Er will wissen, wie die mythenbildende Vorstel-
lungsart noch in die neuere Weltanschauung hereinwirkt.
Und zugleich will er das menschliche Selbstbewufksein in
einer Wesenheit verankern, die au£erhalb der einzelnen
Personlichkeit liegt, indem er die ganze Menschheit als
eine Verkorperung des Gottwesens sich vorsteilt. Dadurdi
gewinnt er fur die einzelne Mensdienseele eine Stiitze in
der All-Menschenseele, welche ihre Entfaltung in dem
Verlauf des geschichtlichen Werdens findet.
Noch radikaler geht Straufi zu Werke in seinem 1840
bis 1 84 1 erschienenen Buche «Die christliche Glaubens-
lehre in ihrer gesdiichtlichen Entwickelung und im Kampf e
mit der modernen Wissenschaft.» Hier handelt es sich ihm
um Auflosimg der christlichen Dogmen aus ihrer dichte-
rischen Gestalt in die Gedankenwahrheiten, die ihnen
zugrunde liegen. Er betont jetzt die Unvertraglichkeit
des modernen Bewufitseins mit demjenigen, das sich an
die alten bildlich-mythischen Darstellungen der Wahrheit
halt. «Also lasse der Glaubende den Wissenden, wie die-
ser jenen, ruhig seine Strafie ziehen; wir lassen ihnen ihren
Glauben, so lassen sie uns unsere Philosophic; und wenn
es den Oberfrommen gelingen sollte, uns aus ihrer Kirche
auszuschlieften, so werden wir dies fiir Gewinn achten.
Falsche Vermittelungsversuche sind jetzt genug gemacht;
nur die Sche^idung der Gegensatze kann weiterfuhren.»
Eine ungeheure Aufregung der Gemuter hatten Strau£'
Anschauungen hervorgebracht. Bitter wurde es empf unden,
dafi die mod erne Weltanschauung sich nicht mehr begniig-
te, die religiosen Grundvorstellungen im allgemeinen zu
treffen, sondern dafi sie durch eine mit alien wissenschaft-
lichen Mitteln ausgeriistete Geschichtsforschung die «In-
konsequenz» beseitigen wollte, von der emst Lichtenberg
gesagt hatte, sie bestehe darin, da£ sich die menschliche
Natur sogar unter das Joch eines Buches geschmiegt habe.
«Man kann sich» - fahrt er fort - «nichts Entsetzlicheres
denken, und dieses Beispiel allein zeigt, was fiir ein hilf-
loses Gesdiopf der Mensch in concreto, ich meine in diese
zweibeinige Phiole aus Erde, Wasser und Salz einge-
schlossen, ist. Ware es moglich, dafi die Vernunft sidb je
einen despotisdien Thron erbaute, so miiflte ein Mann,
der im Ernst das kopernikanische System durch die Auto-
ritat eines Budies widerlegen wollte, gehenkt werden.
Dafi in einem Buche stent, es sei von Gott, ist nodi kein
Beweis, dafi es von Gott sei; dafi aber unsere Vernunft
von Gott sei, ist gewifi, man mag nun das Wort Gott
nehmen, wie man will. - Die Vernunft straft da, wo sie
herrscht, blofi mit den naturlichen Folgen des Vergehens
oder mit Belehrung, wenn belehren strafen genannt wer-
den kann.» Straufi wurde seiner Stelle als Repetent am
Tubinger Stift infolge des «Lebens Jesu» enthoben; und
als er dann eine Professur der Theologie an der Universi-
tat Zurich antrat, kam das Landvolk mit Dreschflegeln
herbei, urn den Aufloser des Mythus unmoglich zu ma-
chen und seine Pensionierung zu erzwingen.
Weit iiber das Ziel hinaus, das sidi Straufi setzte, ging
ein anderer Denker in seiner Kritik der alten Welt-
anschauung vom Standpunkte der neuen aus: Bruno Bauer.
Die Ansicht, die Feuerbach vertritt, dafi das Wesen des
Menschen audi dessen hochstes Wesen sei und jedes an-
dere hohere nur eine Illusion, die er nach seinem Eben-
bild geschafEen und selbst iiber sidi gesetzt hat, treffen wir
audi bei Bruno Bauer, aber in grotesker Form. Er schil-
dert, wie das menschliche Ich dazu kam, sidi ein illusori-
sches Gegenbild zu schaffen, in Ausdriicken, denen man
ansieht, dafi sie nicht aus dem Bediirfnis eines liebevollen
Begreifens des religiosen Bewufitseins, wie bei Straufi,
sondern aus Freude an der Zerstorung hervorgingen. Er
sagt, dem «alles verschlingenden Ich graute vor sidi selbst;
es wagte sidi nicht als alles und als die allgemeinste Madit
zu fassen, das heilk, es blieb noch der religiose Geist und
vollendete seine Entfremdung, indem es seine allgemeine
Macht als eine fremde sich selbst gegeniiberstellte und die-
ser Macht gegenuber in Furcht und Zittern fiir seine Er-
haltung und Seligkeit arbeitete». Bruno Bauer ist eine
Personlichkeit, die darauf ausgeht, ihr temperamentvolles
Denken an allem Vorhandenen kritisch zu erproben. Dafi
das Denken berufen sei, zum Wesen der Dinge vorzudrin-
gen, hat er, als seine Oberzeugung, aus Hegels Welt-
anschauung iibernommen. Aber er ist nicht, gleich Hegel,
dazu veranlagt, das Denken sich in einem Ergebnis, in
einem Gedankengebaude ausleben zu lassen. Sein Denken
ist kein hervorbringendes, sondern ein kritisches. Durch
einen bestimmten Gedanken, durch eine positive Idee
hatte er sich beschrankt gefuhlt. Er will die kritisdie Kraft
des Denkens nicht dadurch festlegen, dafi er von einem
Gedanken als von einem bestimmten Gesichtspunkt aus-
geht, wie Hegel das getan hat. «Die Kritik ist einerseits
die letzte Tat einer bestimmten Philosophic, welche sich
darin von einer positiven Bestimmtheit, die ihre wahre
Allgemeinheit noch beschrankt, befreien mufi, und darum
andererseits die Voraussetzung, ohne welche sie sich nicht
zur letzten Allgemeinheit des Selbstbewufkseins erheben
kann.» Dies ist das Glaubensbekenntnis der « Kritik der
Weltanschauung», zu dem sich Bruno Bauer bekannte. Die
«Kritik» glaubt nicht an Gedanken, Ideen, sondern nur
an das Denken. «Der Mensch ist nun erst gefunden»,
triumphiert Bauer. Denn der Mensch ist nun durch nichts
mehr gebunden als durch sein Denken. Menschlich ist
nicht, sich an irgend etwas Aufiermenschliches hinzugeben,
sondern alles im Schmelztiegel des Denkens zu bearbeiten.
Nicht Ebenbild eines anderen Wesens soil der Mensch
sein, sondern vor alien Dingen «Mensch», und das kann
er nur dadurch, daft er sidi durch sein Denken dazu macht.
Der denkende Mensch ist der wahre Mensch. Nicht irgend
etwas Aufieres, nicht Religion, Recht, Staat, Gesetz usw.
kann den Menschen zum Mensdien machen, sondern allein
sein Denken. In Bauer tritt die Ohnmadit des Denkens
auf, die an das Selbstbewufttsein heranreichen will aber
nicht kann.
#»
Was Feuerbach als des Menschen hochstes Wesen er-
klart hat, wovon Bruno Bauer behauptet hat, daft es durch
die Kritik als Weltanschauung erst gefunden sei: «den
Men$cben» y ihn sich vollig unbefangen und vorausset-
zungslos anzusehen, ist die Aufgabe, die sich Max S timer
(1806 — 1856) in seinem 1845 erschienenen Buche «Der
Einzige und sein Eigentum» gestellt hat. Stirner findet:
«Mit der Kraft der Verzweiflung greift Feuerbach nach
dem gesamten Inhalt des Christentums, nicht, um ihn
wegzuwerfen, nein, um ihn an sich zu reiften, um ihn, den
langersehnten, immer ferngebliebenen, mit einer letzten
Anstrengung aus seinem Himmel zu ziehen und auf ewig
bei sich zu behalten. Ist dies nicht ein Griff der letzten
Verzweiflung, ein Griff auf Leben und Tod, und ist es
nicht zugleich die christlidie Sehnsucht und Begierde nach
dem Jenseits? Der Heros will nicht in das Jenseits ein-
gehen, sondern das Jenseits an sich heranziehen und zwin-
gen, daft es zum Diesseits werde! Und schreit seitdem
nicht alle Welt, mit mehr oder weniger Bewufttsein, aufs
jDiesseits* komme es an, und der Himmel miisse auf die
Erde kommen und hier schon erlebt werden?» Stirner
stellt der Ansicht Feuerbachs einen heftigen Widerspruch
gegeniiber: «Das hochste Wesen ist aller dings das Wesen
des Menschen, aber eben weil es sein Wesen und nidit er
selbst ist, so bleibt es sich ganz gleich, ob wir es aufier
ihm sehen und als ,Gott e anscbauen, oder in ihm finden
und , Wesen des Menschen* oder ,der Mensch' nennen. Ich
bin weder Gott nodi der Mensch, weder das hochste "We-
sen nodi mein Wesen, und darum ist's in der Hauptsache
einerlei, ob ich das Wesen in mir oder aufier mir denke.
Ja, wir denken audi wirklich immer das hochste Wesen
in beiderlei Jenseitigkeit, in der innerlidien und aufier-
lichen, zugleich, denn der ,Geist Gottes* ist nadi christ-
licher Ansdiauung audi ,Unser Geist f und ,wohnet in uns*.
Er wohnt im Himmel und wohnt in uns; wir armen Din-
ger sind eben nur seine ,Wohnung', und wenn Feuerbadi
noch die himmlische Wohnung desselben zerstbrt und ihn
notigt, mit Sack und Pack zu uns zu ziehen, so werden
wir, sein irdisches Logis, sehr uberfullt werden. » Solange
das einzelne menschliche Idi noch irgendeine Kraft setzt,
von der es sich abhangig fuhlt, sieht es sidi selbst nicht
von seinem eigenen Gesiditspunkte, sondern von demjeni-
gen dieser fremden Macht aus. Es besitzt sich nicht selbst,
es wird von dieser Macht besessen. Der Religiose sagt: Es
gibt ein gottliches Urwesen, und dessen Abbild ist der
Mensch. Er ist von dem gottlichen Urbilde besessen. Der
Hegelianer sagt: Es gibt eine allgemeine Weltvernunft,
und diese verwirklicht sich in der Welt, um im mensch-
lichen Ich zu ihrem Gipfel zu gelangen. Das Ich ist also
von der Weltvernunft besessen. Feuerbach sagt, es gibt
ein Wesen des Menschen, und jeder einzelne ist ein indi-
viduelles Abbild dieses Wesens. Jeder einzelne ist also von
dem «Wesen der Menschheit» besessen. Denn wirklich
vorhanden ist nur der einzelne Mensch, nicht der «Gat-
tungsbegriff der Menschheit», den Feuerbach an die Stelie
des gottlichen Wesens setzt. Wenn also der einzelne
Mensch die «Gattung Mensch» iiber sich setzt, so gibt er
sich genau so an eine Illusion verloren, wie wenn er sich
von einem personlichen Gotte abhangig fiihlt. Fur Feuer-
badi werden daher die Gebote, die der Christ als von
Gott eingesetzt glaubt und deshalb fur verbindlich halt,
zu Geboten, die bestehen, weil sie der allgemeinen Idee
der Menschheit entsprechen. Der Mensch beurteilt sich
sittlich so, da& er sich fragt: Entsprechen meine Handlun-
gen als einzelner dem, was dem Wesen des Allgemein-
Menschlichen angemessen ist? Denn Feuerbach sagt: «Ist
das Wesen des Menschen das hochste Wesen des Menschen,
so mull auch praktisch das hochste und erste Gesetz die
Liebe des Menschen zum Menschen sein.Homo homim deus
est. Die Ethik ist . .. an und fur sich eine gottliche Macht,
Die moralischen Verhaltnisse sind durch sich wahrhaft
religiose Verhaltnisse. Das Leben ist uberhaupt in seinen
wesentlichen substantiellen Verhaltnissen durchaus gott-
licher Natur. Alles Richtige, Wahre, Gute hat uberall sei-
nen Heiligungsgrund in sich selbst, in seinen Eigenschaf-
ten. Heilig ist und sei die Freundschaft, heilig das Eigen-
tum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber
heilig an und fur sich selbst. » Es gibt also allgemein-
menschliche Machte; die Ethik ist eine solche. Sie ist heilig
an und fvir sich selbst; ihr hat sich das Individuum zu fii-
gen. Dieses Individuum soil nicht wollen, was es von sich
aus will, sondern was im Sinne der heiligen Ethik liegt.
Es ist von der Ethik besessen. Stirner charakterisiert diese
Ansicht: «Fiir den Gott des einzelnen ist nun der Gott
aller, namlich ,der Mensch" erhoht worden: ,es ist ja unser
aller Hochstes, Mensch zu sein 1 . Da aber niemand ganz
das werden kann, was die Idee ,Mensdi' besagt, so bleibt
der Mensch dem Einzelnen ein erhabenes Jenseits, ein un-
erreidites hodistes Wesen, ein Gott.» Ein soldi hodistes
Wesen ist aber audi das Denken, das die Kritik als Welt-
anschauung zum Gott gemacht hat. Stirner kann daher
audi vor ihm nicht haltmadien. «Der Kritiker furchtet
sich, ,dogmatisdi* zu werden oder Dogmen aufzustellen.
Naturlich, er wiirde dadurdi ja zum Gegensatz des Kri-
tikers, zum Dogmatiker, er wiirde, wie er als Kritiker
gut ist, nun bose. . . . ,Nur kein Dogma!' das ist sein -
Dogma. Denn es bleibt der Kritiker mit dem Dogmatiker
auf ein und demselben Boden, dem der Gedanken. Gleich
dem letzteren geht er stets von einem Gedanken aus, aber
darin weicht er ab, dafi er*s nidit aufgibt, den prinzipiel-
len Gedanken im Denkprozesse zu erhalten, ihn also nicht
stabil werden lafit. Er madit nur den Denkprozefi gegen
die Denkglaubigkeit, den Fortschritt im Denken gegen
den Stillstand in demselben geltend. Vor der Kritik ist
kein Gedanke sicher, da sie das Denken oder der den-
kende Geist selber ist . . . Ich bin kein Gegner der Kritik,
das heilk, ich bin kein Dogmatiker, und fuhle midi von
dem Zahne des Kritikers, womit er den Dogmatiker zer-
fleischt, nicht getrofFen. Ware ich ein ,Dogmatiker*, so
stellte ich ein Dogma, das heilk, einen Gedanken, eine Idee,
ein Prinzip obenan, und vollendete dies als ,Systemati-
ker', indem ich's zu einem System, das heilk, zu einem
Gedankenbau aussponne. Ware ich umgekehrt ein Kriti-
ker, namlich ein Gegner des Dogmatikers, so fiihrte ich
den Kampf des freien Denkens gegen den knechtenden
Gedanken, verteidigte das Denken gegen das Gedachte.
Ich bin aber weder der Champion eines Gedankens, noch
der des Denkens ...» Audi jeder Gedanke ist von dem
individuellen Ich eines einzelnen erzeugt, und ware er
audi der Gedanke der eigenen Wesenheit. Und wenn der
Mensch sein eigenes Ich zu erkennen glaubt, es irgendwie
seiner Wesenheit nach beschreiben will, so macht er es
sdion von dieser Wesenheit abhangig. Ich mag ersinnen,
was ich will: sobald ich mich begriffiich bestimme, defi-
niere, mache ich mich zu einem Sklaven dessen, was mir
der Begriff, die Definition liefert. Hegel machte das Ich
zur Erscheinung der Vernunft, das heifit, er machte es
von dieser abhangig. Aber alle solche Abhangigkeiten kon-
nen dem Ich gegenuber nicht gel ten; denn sie sind ja alle
aus ihm selbst entnommen. Sie beruhen also darauf, dafl
das Ich sich tauscht. Es ist in Wahrheit nicht abhangig.
Denn alles, wovon es abhangig sein soil, mufi es erst selbst
erzeugen. Es mufi etwas aus sich nehmen, um es als «Spuk»
iiber sich zu setzen. «Mensch, es spukt in deinem Kopfe;
du hast einen Sparren zuviel! Du bildest dir grofie Dinge
ein und malst dir eine ganze Gotterwelt aus, die fiir dich
da sei, ein Geisterreich, zu welchem du berufen seist, ein
Ideal, das dir winkt. Du hast eine fixe Idee!» In Wahr-
heit kann kein Denken an das heranrucken, was als Ich
in mir lebt. Ich kann mit meinem Denken an alles kom-
men, nur vor meinem Ich mufi ich haltmachen. Das kann
ich nicht denken, das kann ich nur erleben. Ich bin nicht
Wille; ich bin nicht Idee, ebensowenig, wie ich Ebenbild
einer Gotthek bin. Alle anderen Dinge mache ich mir
durch mein Denken begreiflich. Das Ich lebe ich. Ich
brauche mich nicht weiter zu definieren, zu beschreiben;
denn ich erlebe mich in jedem Augenblicke. Zu beschreiben
brauche ich mir nur, was ich nicht unmittelbar erlebe, was
aufier mir ist. Es ist widersinnig, dafi ich mich selbst, da
ich mich immer als Ding habe, audi noch als Gedanken,
als Idee erfassen will. Wenn ich einen Stein vor mir habe,
so suche idi mir durch mein Denken zu erklaren, was die-
ser Stein ist. Was ich selbst bin, brauche ich mir nicht erst
zu erklaren; denn ich lebe es ja. Stirner antwortet auf
einen Angriff gegen sein Buch: «Der Einzige ist ein Wort,
und bei einem Worte miilke man sich doch etwas denken
konnen, ein Wort miifke doch einen Gedankeninhalt ha-
ben. Aber der Einzige ist ein gedankenloses Wort, es hat
keinen Gedankeninhalt. - Was ist dann aber sein Inhalt,
wenn der Gedanke es nicht ist? Einer, der nicht zum zwei-
ten Male da sein, folglich auch nicht ausgedriickt werden
kann; denn konnte er ausgedriickt, wirklich und ganz
ausgedriickt werden, so ware er zum zweiten Male da,
ware im ,Ausdruck* da. - Weil der Inhalt des Einzigen
kein Gedankeninhalt ist, , darum ist er auch undenkbar
und unsagbar, weil aber unsagbar, darum ist er, diese
vollstandige Phrase, zugleich keine Phrase, - Erst dann,
wenn nichts von dir ausgesagt und du nur genannt wirst,
wirst du anerkannt als du. Solange etwas von dir aus-
gesagt wird, wirst du nur als dieses Etwas (Mensch, Geist,
Christ und so fort) anerkannt. Der Einzige sagt aber
nichts aus, weil er nur Name ist, nur dies sagt, dafi du du,
und nichts anderes als du bist, dafi du ein einziges ,Du e
und du selber bist. Hierdurch bist du pradikatlos, damit
aber zugleich bestimmungslos, beruflos, gesetzlos und so
weiter.» - (Vergleiche Stirners Kleine Schriften, heraus-
gegeben von J. H. Mackay, S. 116). Stirner hat bereits
1842 in einem Aufsatz der «Rheinischen Zeitung» iiber
das «unwahre Prinzip unserer Erziehung oder der Huma-
nismus und Realismus» (vergleiche Kleine Schrif ten S. 5 ff .)
sich dariiber ausgesprochen, daft fur ihn das Denken, das
Wissen nicht bis zu dem Kern der Personlichkeit vordrin-
gen kann. Er betrachtet es daher als ein unwahres Erzie-
hungsprinzip, wenn nidit dieser Kern der Personlichkeit
zum Mittelpunkt gemacht wird, sondern in einseitiger
Weise das Wissen. «Ein Wissen, welches sich nicht so lautert
und konzentriert, da£ es zum Wollen fortreilk, oder mit
anderen Worten, ein Wissen, welches mich nurals einHaben
und Besitz beschwert, statt ganz und gar mit mir zusammen
gegangen zu sein,so daft das frei bewegliche Ich,von keiner
nachschleppenden Habe geniert, frischen Sinnes die Welt
durchzieht, ein Wissen also, das nicht persdnlich geworden,
gibt eine armliche Vorbereitung aufs Leben ab . . . 1st es
der Drang unserer Zeit, nachdem die Denkfreiheit errun-
gen, diese bis zu jener Vollendung zu verfolgen, durch
welche sie in die Willensfreiheit umschlagt, um die letz-
tere als das Prinzip einer neuen Epoche zu verwirk-
lichen, so kann audi das letzte Ziel der Erziehung nicht
mehr das Wissen sein, sondern das aus dem Wissen ge-
borene Wollen, und der sprechende Ausdruck dessen, was
sie zu erstreben hat, ist: der persdnliche oder freie Mensch.
. , . Wie in gewissen anderen Spharen, so lalk man audi
in der padagogischen die Freiheit nicht zum Durchbruch,
die Kraft der Opposition nicht zu Worte kommen: man
will Unterwiirfigkeit. Nur ein formelles und materielles
Abriditen wird bezweckt, und nur Gelehrte gehen aus
den Menagerien der Humanisten, nur ,brauchbare Bur-
ger" aus denen der Realisten hervor, die doch beide nichts
als unterwiirjige Menschen sind . . . Das Wissen mu6 ster-
ben, um als Wille wieder aufzuerstehen und als freie Per-
son sich taglich neu zu scha£fen.» In der Person des ein-
zelnen kann nur der Quell dessen liegen, was er tut. Die
sittlichen Pflichten konnen nicht Gebote sein, die dem
Menschen von irgendwoher gegeben werden, sondern
Ziele, die er sich selbst vorsetzt. Es ist eine Tauschung,
wenn der Mensdi glaubt, er tue etwas deshalb, weil er ein
Gebot einer allgemeinen heiligen Ethik befolgt. Er tut
es, weil das Leben seines Ich ihn dazu antreibt. Ich Hebe
meinen Nachsten nicht deshalb, weil ich ein heiliges Ge-
bot der Nachstenliebe befolge, sondern weil mich mein
Ich zum Nachsten hinzieht. Ich soil ihn nicht lieben; ich
will ihn lieben. "Was die Menschen gewollt haben, das
haben sie als Gebote iiber sich gesetzt. In diesem Punkte
ist Stirner am leichtesten mifizuverstehen. Er leugnet nicht
das moralische Handeln. Er leugnet blofi das moralische
Gebot. Wie der Men-sen handelt, wenn er sich nur richtig
versteht, daswirdvon selbst eine moralische Weltordnung
ergeben. Moralische Vorschriften sind fur Stirner ein Spuk,
eine fixe Idee. Sie setzen etwas fest, wozu der Mensch
von selbst kommt, wenn er sich seiner Natur ganz iiber-
lsiftt. Die abstrakten Denker wenden da naturlich ein:Gibt
es nicht Verbrecher? Diirfen diese danach handeln, was
ihnen ihre Natur vorzeichnet? Diese abstrakten Denker
sehen das allgemeine Chaos voraus, wenn den Menschen
nicht Moral vorschriften heilig sind. Ihnen konnte Stirner
antworten: Gibt es in der Natur nicht audi Krankheiten?
Sind diese nicht ebenso nach ewigen, ehernen Gesetzen
hervorgebracht wie alles Gesunde? Aber kann man des-
halb nicht doch das Kranke von dem Gesunden unter-
scheiden? So wenig es je einem verniinftigen Menschen
einfallen wird, das Kranke zum Gesunden zu rechnen,
weil es ebenso wie jenes durch Naturgesetze hervorge-
bracht ist, so wenig mochte Stirner das Unmoralische zum
Moralischen zahlen, weil es ebenso wie dieses entsteht,
wenn der einzelne sich selbst uberlassen ist. Was aber
Stirner von den abstrakten Denkern unterscheidet, das ist
seine Oberzeugung, dafi im Menschenleben, wenn die ein-
zelnen sich selbst iiberlassen sind, das Moralische ebenso
das Herrsdiende sein werde, wie in der Natur es das Ge-
sunde ist. Er glaubt an den sittlidien Adel der Menschen-
natur, an die freie Entwickelung der Moralitat aus den
Individuen heraus; die abstrakten Denker scheinen ihm
nicht an diesen Adel zu glauben; deshalb meint er, sie er-
niedrigen die Natur des Individuums zur Sklavin allge-
meiner Gebote, den Zuchtmitteln des menschlichen Han-
delns. Sie miissen viel Boses und Ruchloses auf dem Grun-
de ihrer Seele haben, diese «moralischen Menschen», meint
Stirner, weil sie durchaus nach moralisdien Vorschriften
verlangen; sie muftten recht liebelos sein, weil sie sich die
Liebe, die doch als freier Trieb in ihnen entstehen sollte,
durch ein Gebot anbefehlen lassen wollen. Wenn vor
zwanzig Jahren in einer ernsten Schrift noch tadelnd ge-
sagt werden konnte: «Max Stirners Schrift ,Der Einzige
und sein Eigentum* zertriimmerte Geist und Menschheit,
Recht und Staat, Wahrheit und Tugend als Gotzenbilder
der Gedankenknechtschaft und bekannte frei: ,Mir geht
nichts iiber mich c !» (Heinrich von Treitschke, Deutsche
Geschichte), so ist das nur ein Beweis dafur, wie leicht
durch die radikale Ausdrucksweise Stirner mifiverstan-
den werden kann, dem das menschliche Individuum als
etwas so Hehres, Erhabenes, Einziges und Freies vor Augen
stand, dafi nicht einmal der Hochflug der Gedankenwelt
imstande sein soil, es zu erreichen. In der zweiten Halfte
des Jahrhunderts war Max Stirner so gut wie vergessen.
Den Bemiihungen John Henry Mackays ist es zu danken,
dafi wir heute von ihm ein Lebens- und Charakterbild
haben. Er hat in seinem Buche «Max Stirner, sein Leben
und sein Werk» (Berlin 1 8 98) alles verarbeitet, was jahre-
langes Suchen als Stoff fiir die Charakteristik des nach
seiner Auffassung «kuhnsten und konsequentesten Den-
kers» geliefert hat.
Stirner steht wie andere Denker der neueren Zeit der
Tatsache des zu erfassenden selbstbewufiten Ich gegen-
iiber. Andere suchen die Mittel, dieses Ich zu begreifen.
Dies Begreifen stofit auf Schwierigkeiten, weil zwischen
Naturbild und Bild des Geisteslebens eine weite Kluft
sich gebildet hat. Stirner lalk das alles unberiicksichtigt.
Er stellt sich vor die Tatsache des selbstbewufken Ich hin
und gebraucht alles, was er zum Ausdrucke bringen kann,
allein dazu, auf diese Tatsache hinzuweisen. Er will so
von dem Ich sprechen, daft ein jeder auf dieses Ich selbst
hinsieht, und niemand sich dieses Hinsehen dadurch er-
spare, daft gesagt wird: das Ich ist dieses oder jenes. Nicht
auf eine Idee, einen Gedanken des Ich will Stirner wei-
sen, sondern auf das lebende Ich selbst, das die Person-
lichkeit in sich findet.
Stirners Vorstellungsart, als der entgegengesetzte Pol
derjenigen Goethes, Schillers, Fichtes, Schellings, Hegels,
ist eine Erscheinung, die mit einer gewissen Notwendig-
keit in der neueren Weltanschauungsentwickelung auftre-
ten mufite. Grell trat vor seinen Geist die Tatsache des
selbstbewufiten Ich hin. Ihm kam jede Gedankenschop-
fung so vor wie einem Denker, der die Welt nur in Ge-
danken erfassen will, die mythische Bilderwelt vorkom-
men kann. Vor dieser Tatsache verschwand ihm aller
iibrige Weltinhalt, insofern dieser einen Zusammenhang
mit dem selbstbewufSten Ich zeigt. Ganz isoliert stellte er
das selbstbewufite Ich hin.
Dafi es Schwierigkeiten geben konne, das Ich so hinzu-
stellen, empfindet Stirner nicht. Die folgenden Jahrzehnte
konnten keine Beziehung zu dieser isolierten Stellung des
Ich gewinnen. Denn diese Jahrzehnte sind vor allem da-
mit beschaftigt, das Bild der Natur unter dem Einflusse
der naturwissenschaftlichenDenkweise zu gewinnen. Nach-
dem Stirner die eine Seite des neueren Bewufitseins hin-
gestellt hat, die Tatsache des selbstbewulken Ich, lenkt
das Zeitalter zunachst die Blicke ab von diesem Ich und
wendet sie dahin, wo dies «Ich» nicht zu finden 1st, auf
das Bild der Natur.
Die erste Halfte des neunzehnten Jahrhunderts hat ihre
Weltanschauungen aus dem Idealismus geboren. Wenn eine
Briicke zur Naturwissenschaft gezogen wird, wie bei Schel-
ling, LorenzOken (1779 — 1851), Henrik Steffens (1773
bis 1845), so gesdiieht es vom Gesichtspunkte der idealisti-
schen Weltanschauung aus und im Interesse derselben.
Die Zeit ist so wenig reif, naturwissenschaftliche Gedan-
ken fiir die Weltanschauung fruchtbar zu machen, daft
Jean Lamarcks geniale Anschauung von der Entwickelung
der vollkommensten Organismen aus den einfachen, die
1809 ans Licht trat, vollig unberiidtsichtigt geblieben ist,
und daft, als GeofTroy de St. Hilaire den Gedanken einer
allgemeinen natiirlichen Verwandtschaft aller Organis-
menformen 1830 imKampf gegenCuvier vertrat, Goethes
Genius dazu gehorte, die Tragweite dieser Idee einzu-
sehen. Die zahlreichen naturwissenschaftlichen Ergebnisse,
die auch die erste Jahrhunderthalfte gebracht hat, wur-
den fiir die Weltanschauungsentwickelung erst zu neuen
Weltenratseln, namentlich, nachdem Charles Darwin fiir
die Erkenntnis der Lebewelt im Jahre 1859 der Natur-
auiJassung selbst neue Aussichten erofTnet hatte.
ZWEITER BAND
EINLEITENDE BEMERKUNGEN
ZUR NEUAUFLAGE 1914
Die Schilderung des philosophischen Geisteslebens von der
Mitte des neunzehnten Jahrhimderts bis zur Gegenwart,
welche in diesem zweiten Bande der «Ratsel der Philo-
sophie» versucht worden ist, kann nicht das gleiche Ge-
prage tragen wie die XJberschau iiber die vorangehenden
Denkerarbeiten, die man im ersten Bande findet. - Diese
Oberschau hat sich im engsten Kreise der philosophischen
Fragen gehalten. Die letzten sedizig Jahre sind das Zeit-
alter, in dem die naturwissenschaftliche Vorstellungsart,
von verschiedenen Gesichtspunkten aus, den Boden zu er-
schiittern beabsichtigt, auf dem vorher die Philosophic
stand. Die Anschauung trat in dieser Zeit hervor, dafi
iiber das Wesen des Menschen, iiber sein Verhaltnis zur
"Welt und iiber andere Daseinsratsel die Ergebnisse des
naturwissenschaftlichen Forschens das Licht verbreiten,
das friiher durch die philosophische Geistesarbeit gesucht
worden ist. Viele Denker, welche der Philosophic jetzt
dienen wollten, bemiihten sich, die Art ihres Forschens
der Naturwissenschaft nachzubilden; andere gestalteten
Grundlegendes fiir ihre Weltanschauung nicht nach Art
der alten philosophischen Denkungsart, sondern entnah-
men es aus den Anschauungen der Naturforschung, der
Biologie, Physiologic Und diejenigen, welche der Philo-
sophic ihre Selbstandigkeit wahren wollten, glaubten das
Richtige zu tun, indem sie die Ergebnisse der Naturwis-
senschaft einer griindlichen Betrachtung unterwarfen, um
ihr Eindringen in die Philosophic zu verhindern. Man hat
deshalb fiir die Darstellung des philosophischen Lebens in
diesem Zeitalter notig, die Blicke auf die Ansichten zu
richten, die aus der Naturwissenschaft heraus in die Welt-
anschauungen eingetreten sind. Die Bedeutung dieser An-
sichten fur die Philosophic tritt nur hervor, wenn man die
wissenschaftlichen Unterlagen betraditet, aus denen sie
flieften, und wenn man sich in die Atmosphare der natur-
wissenschaftlichen Vorstellungsart versetzt, in der sie zur
Entwickelung kommen. Diese Verhaltnisse kommen in den
Ausfiihrungen dieses Buches dadurch zum Ausdruck, dafi
manches in demselben fast so gestaltet ist, als ob eine Dar-
stellung allgemeiner naturwissenschaftlicher Ideen und
nicht eine solche der philosophischen Arbeiten beabsichtigt
ware. Es kann die Meinung berechtigt ersdieinen, dafi
durch solche Art der Darstellung zum deutlichen Ausdruck
komme, wie einflufireich die Naturwissenschaft fiir das
philosophische Leben der Gegenwart geworden ist.
Wer es mit seiner Denkungsart vereinbar findet, die
Entwickelung des philosophischen Lebens so vorzustellen,
wie es die orientierende Einleitung iiber die «Leitlinien
der Darstellung» im ersten Bande dieses Buches andeutet
und wie es dessen weitere Ausfiihrungen zu begriinden
versuchen, der wird in dem charakterisierten Verhaltnis
zwischen Philosophic und Naturerkenntnis im gegenwar-
tigen Zeitalter ein notwendiges Glied dieser Entwickelung
sehen konnen. Durdi die Jahrhunderte hindurdi, seit dem
Aufkommen der griechischen Philosophic, drangte diese
Entwickelung dahin, die Menschenseele zum Erleben ihrer
inneren Wesenskrafte zu fiihren. Mit diesem ihrem inneren
Erleben wurde die Seele fremd und fremder in der Welt,
welche sich die Erkenntnis der aufieren Natur aufbaute.
Es entstand eine Naturanschauung, die so ausschliefilich
auf die Beobachtung der Auftenwelt gerichtet ist, dafi sie
keinen Trieb fiihlt, in ihr Weltbild das aufzunehmen, was
die Seek in ihrer inneren Welt erlebt. Dieses Weltbild so
zu malen, dafi sich in demselben audi diese inneren Erleb-
nisse der Menschenseeie ebenso finden wie die Forschungs-
ergebnisse der Naturwissensdiaft, halt diese Ansdiauung
fiir unbereditigt. Damit ist die Lagc gekennzeichnet, in
der sidi die Philosophic in der zweiten Halfte des neun-
zehnten Jahrhunderts befunden hat, und in welcher viele
Gedankenrichtungen in der Gegenwart noch stehen. Man
braucht das hier Gekennzeichnete nidit kiinsdich in die
Betraditung der Philosophic dieses Zeitalters hineinzutra-
gen. Man kann es aus den Tatsadien ablesen, welche die-
ser Betraditung vorliegen. Im zweiten Band dieses Buches
ist dies versucht worden. - Dafi ein soldier Versuch unter-
nommen wurde, hat dazu gefuhrt, der zweiten Auflage
dieses Budies das Schlufikapitel hinzuzufiigen, das eine
«skizzenhafte Darstellung des Ausblickes auf eine Anthro-
posophie» enthalt. Man kann die Meinung haben, dafi
diese Darstellung ganz aus dem Rahmen des in diesem
Budie Dargestellten herausfallt. Dodi wurde sdion in der
Vorrede des ersten Bandes gesagt, dafi das Ziel dieser
Darstellung «nicht nur ist, einen kurzen Abrifi der Ge-
sdiidhte der philosophisdien Fragen zu geben, sondern
iiber diese Fragen und ihre Losungsversuche selbst durdi
ihre geschichtliche Betraditung zu sprechen». Nun versudit
die Betraditung, die in dem Budie zum Ausdrudc kommt,
zu erweisen, dafi mandie Losungsverhaltnisse in der Phi-
losophie der Gegenwart dahin arbeiten, in dem inneren
Erleben der Menschenseeie etwas zu finden, das in soldier
Art sidi offenbart, dafi ihm im neueren Weltbilde der
Platz von der Naturerkenntnis nidit streitig gemacht wer-
den kann. Wenn es des Verfassers dieses Buches philoso-
phische Ansdiauung ist, dafi das in dem Schlufikapitel
Dargestellte von Seelenerlebnissen spridit, welche diesem
Suchen der neueren Philosophien Erfullung bringen kon-
nen, so durfte er wohl dieses Kapitel seiner Darstellung
anfugen. Ihm sdieint die Beobaditung zu ergeben, daft es
2um Grundcharakter dieser Philosophien und zu ihrem
geschichtlichen Geprage gehort, in ihrem Suchen die eigene
Richtung nadi dem Gesuchten nicht einzuhalten, und daft
diese Richtung in die Weltanschauung fuhren miisse, die
am Ende des Buches skizziert ist. Sie will eine wirkliche
«Wissenscbaft des Geistes» sein. Wer dieses richtig flndet,
dem wird diese Weltanschauung als das sich zeigen, was
die Antwort gibt auf Fragen, welche die Philosophic der
Gegenwart stellt, obwohl sie diese Antwort nicht selbst
ausspricht. Und ist dieses richtig, dann fallt durch das im
Schluftkapitel Gesagte auch Licht auf die geschichtliche
Stellung der neueren Philosophic
Der Verfasser dieses Buches stellt sich nicht vor, daft,
wer sich zu dem im Schluftkapitel Gesagten bekennen
kann, der Ansicht sein miisse, es sei eine Weltanschauung
notwendig, welche die Philosophic ersetzt durch etwas,
was diese selbst nicht mehr als Philosophic ansehen kann.
Die Ansicht, die in dem Buche sich aussprechen will, ist
vielmehr die, daft die Philosophic, wenn sie dazu kommt,
sich wirklich selbst zu verstehen, mit ihrem Geistesfahr-
zeug landen miisse bei einem seelischen Erleben, das wohl
die Frucht ihrer Arbeit ist, das aber liber diese Arbeit
hinauswachst. Philosophic behalt damit ihre Bedeutung
fur jeden Menschen, der eine sichere geistige Grundlage
fur die Ergebnisse dieses seelischen Erlebens durch seine
Denkungsart fordern muft. Wer sich durch das natiirliche
Wahrheitsgefiihl die "Oberzeugung von diesen Ergebnis-
sen verschaffen kann, der ist berechtigt, sich auf einem
sicheren Boden zu fuhlen, audi wenn er einer philosophi-
schen Grundlegung dieser Ergebnisse keine Aufmerksam-
keit widmet. Wer die wissenschaftliche Rechtfertigung der
Weltanschauung sucht, von der am Ende dieses Buches ge-
sprochen wird, der muiS den Weg durch die philosophisdie
Grundlegung nehmen.
Daft dieser Weg, wenn er zu Ende gegangen wird, zum
Erleben in einer geistigen Welt fuhrt, und daft die Seele
durch dieses Erleben ihre eigene geistige Wesenheit sich
auf eine Art zum Bewufitsein bringen kann, die unabhan-
gig ist von ihrem Erleben und Erkennen durch die Sinnes-
welt: das ist, was die Darstellung dieses Buches zu erwei-
sen versucht. Der Darsteller wollte diesen Gedanken nicht
als eine vorgefalke Meinung in die Beobachtung des phi-
losophischen Lebens hineintragen. Er wollte unbefangen
die Anschauung aufsuchen, welche aus diesem Leben selbst
spricht. Wenigstens war er bestrebt, so zu verfahren. Er
glaubt, dieser Gedanke konne in der Darstellung dieses
Buches dadurch auf einer ihm angemessenen Grundlage
stehen, dafi die naturwissenschaftliche Vorstellungsart an
manchen Stellen des Buches so ausgesprochen sich findet,
als ob sie durch einen Bekenner dieser Vorstellungsart
selbst zum Ausdrucke kame. Man wird einer Anschauung
nur dann vollige Gerechtigkeit widerfahren lassen kon-
nen, wenn man sich ganz in sie zu versetzen vermag. Und
eben dieses Sichhineinversetzen in eine Weitansicht laik
auch am sichersten die Menschenseele dazu gelangen, wie-
der aus ihr heraus in Vorstellungsarten zu kommen, wel-
che Gebieten entspringen, die von dieser Weitansicht nicht
umfalk werden.
Dieser zweite Band der «RatseI der Philosophic » war
bis zur Seite 206* gedruckt vor dem Ausbruch des gro-
fkn Krieges, den gegenwartig die Mensdiheit erlebt. Die
Beendigung des Buches fallt in die Zeit dieses Ereignisses.
Ich wollte damit nur hindeuten auf dasjenige, was meine
Seele von der aufieren Welt her tief bewegt und midi be-
schaftigt, wahrend die letzten Gedanken vom Inhalte die-
ses Buches mir durch das Innere ziehen mufiten.
Berlin, am 1. September 19 14.
Rudolf Steiner
* In der vorliegenden Ausgabe Seite 566.
DER KAMPF UM DEN GEIST
Hegel fiihlte sich mit seinem Gedankengebaude an dem
Ziel, nach dem die Weltanschauungsentwickelung gestrebt
hatte, seit sie innerhalb der Gedankenerlebnisse die Rat-
selfragen des Daseins zu bewaltigen suchte. In diesem Ge-
fiihle schrieb er am Ende seiner «Enzyklopadie der philo-
sophisdien Wissenschaften» die Worte: Der «BegrifT der
Philosophic ist die sich denkende Idee, die wissende "Wahr-
heit . . . Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren An-
fang zuruckgegangen, und das Logische ihr Resultat, als
das Geistige, welches sich als die an und fur sich seiende
Wahrheit erwiesen . . . hat.»
Sich selbst im Gedanken erleben, soil im Sinne Hegels
der Menschenseele das Bewufitsein geben, bei ihrem wah-
ren Urquell zu sein. Und indem sie aus diesem Urquell
schopft und sich aus ihm mit Gedanken erfullt, lebt sie
in ihrem eigenen wahren Wesen und zugleich in dem We-
sen der Natur. Denn diese Natur ist ebenso Offenbarung
des Gedankens wie die Seele selbst. Durch die Erschei-
nungen der Natur blickt die Gedankenwelt die Seele an;
und diese ergreift in sich die schopferische Gedankenkraft,
so dafi sie sich eins weifi mit allem Weltgeschehen. Die
Seele sieht ihr enges Selbstbewufitsein dadurch erweitert,
dafi sich in ihr die "Welt selbst wissend anschaut. Die Seele
hort dadurch auf, sich blofi als das anzusehen, was in dem
verganglichen Sinnenleibe sich zwischen Geburt und Tod
erfafit; in ihr weifi sich der unvergangliche, an keine
Schranken des Sinnenseins gebundene Geist, und sie weifi
sich mit diesem Geiste in unzertrennlicher Einheit ver-
bunden.
Man versetze sich in eine Menschenseele, welche mit
Hegels Ideenrichtung so weit mitgehen kann, daft sie die
Anwesenheit des Gedankens im Bewufttsein so zu erleben
vermeint, wie Hegel selbst; und man wird empfinden, wie
fiir eine soldie Seele jahrhundertealte Ratselfragen in ein
Licht gerikkt erscheinen, das den Fragenden in einem ho-
hen Grade befriedigen kann. Eine solche Befriedigung lebt
tatsachlich zum Beispiel in den zahlreichen. Schriften des
Hegelianers Karl Rosenkranz. Wer diese Schriften (u. a.
System der Wissenschaft 1850; Psychologie 1837; Kritische
Erlauterungen des Hegelschen Systems 1 840) auf sich wir-
ken laftt, der sieht sich einer Personlichkeit gegeniiber,
die in Hegels Ideen gefunden zu haben glaubt, was die
Menschenseele in ein fiir sie befriedigendes Erkenntnis-
verhaltnis zur Welt setzen kann. Rosenkranz darf in die-
ser Beziehung als bedeutsam genannt werden, weil er im
einzelnen keineswegs ein blinder Nachbeter Hegels ist,
sondern weil in ihm ein Geist lebt, der das Bewufitsein
hat: in Hegels Stellung zur Welt und zum Menschen liegt
die Moglichkeit, einer Weltanschauung die gesunde Grund-
lage zu geben.
Wie konnte ein soldier Geist gegeniiber dieser Grund-
lage empfinden? - Im Laufe der Jahrhunderte, seit der
Geburt des Gedankens im alten Griechenland, haben in-
nerhalb des philosophischen Forschens die Ratsel des Da-
seins, denen sich jede Seele im Grunde gegeniibergestellt
sieht, sich zu einer Anzahl von Hauptfragen kristallisiert.
In der neueren Zeit ist als Grundfrage diejenige nach der
Bedeutung, dem Werte und den Grenzen der Erkenntnis
in den Mittelpunkt des philosophischen Nachdenkens ge-
treten. Wie steht dasjenige, was der Mensch wahrnehmen,
vorstellen, denken kann, im Verhaltnisse zur wirklichen
Welt? Kann dieses Wahrnehmen und Denken ein solches
Wissen geben, das den Menschen aufzuklaren vermag iiber
dasjenige, woriiber er aufgeklart sein mochte? Fiir den-
jenigen, der im Sinne Hegels denkt, beantwortet sich diese
Frage durch sein Bewufitsein von der Natur des Gedan-
kens. Er glaubt, wenn er sich des Gedankens bemachtigt,
den schaffenden Geist der Welt zu erleben. In diesem Ver-
eintsein mit dem schafFenden Gedanken fiihlt er den Wert
und die wahre Bedeutung des Erkennens. Er kann nicht
fragen: welche Bedeutung hat das Erkennen? Denn, in-
dem er erkennt, erlebt er diese Bedeutung. Damit sieht
sich der Hegelianer allem Kantianismus schroff entgegen-
gestellt. Man sehe, was Hegel selbst vorbringt gegen die
Kantsche Art, das Erkennen zu untersuchen, bevor man
erkennt: «Ein Hauptgesichtspunkt der kritischen Philo-
sophic ist, daft, ehe daran gegangen werde, Gott, das We-
sen der Dinge usf. zu erkennen, das Erkenntnisvermogen
selbst vorher zu untersuchen sei, ob es solches zu leisten
fahig sei; man miisse das Instrument vorher kennen lernen,
ehe man die Arbeit unternehme, die vermittelst desselben
zustande kommen soil; wenn es unzureichend sei, wiirde
sonst alle Muhe vergebens verschwendet sein. Dieser Ge-
danke hat so plausibel geschienen, daE er die grofite Be-
wunderung und Zustimmung erweckt, und das Erkennen
aus seinem Interesse fiir die Gegenstande, und dem Ge-
schafte mit denselben, auf sich selbst zuruckgefuhrt hat.
Will man sich jedoch nicht mit Worten tauschen, so ist
leicht zu sehen, dafi wohl andere Instrumente sich auf
sonstige Weise etwa untersuchen und beurteilen lassen als
durch das Vornehmen der eigentiimlichen Arbeit, der sie
bestimmt sind. Aber das Erkennen kann nicht anders als
erkennend untersucht werden; bei diesem sogenannten
Werkzeuge heiiSt dasselbe untersuchen nichts anderes als
Erkennen. Erkennen wollen aber, ehe man erkennt, ist
ebenso ungereimt als der weise Vorsatz jenes Scholastikus,
schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage.» Fiir
Hegel handelt es sich darum, dafi die Seele sich, mit dem
Weltgedanken erfiillt, erlebe. So wachst sie iiber ihr ge-
wohnliches Sein hinaus; sie wird gewissermafien das Ge-
fafi, in dem sich der im Denken lebende Weltgedanke be-
wufit erfafit. Aber sie ftihlt sidi nicht blofi als Gefaft die-
ses Weltengeistes, sondern sie weifi sich eins mit ihm. Man
kann also das Wesen des Erkennens im Sinne Hegels nicht
untersuchen; man mufi sich zum Erleben dieses Wesens er-
heben und steht damit unmittelbar im Erkennen darin.
Stent man darin, so hat man es und braucht es nicht mehr
nach seiner Bedeutung zu fragen; steht man noch nicht
darinnen, so hat man audi noch nicht die Fahigkeit, es zu
untersuchen. Die Kantsche Philosophic ist fiir die Hegel-
sche Weltanschauung eine Unmoglichkeit. Denn, um die
Frage zu beantworten: Wie ist Erkenntnis moglich, - mufi-
te die Seele erst die Erkenntnis schaffen; dann aber konnte
sie sich nicht beif alien lassen, nach deren Mogiichkeit erst
zu fragen.
Hegels Philosophie lauft in gewissem Sinne darauf hin-
aus, die Seele iiber sich emporwachsen zu lassen zu einer
Hohe, auf der sie mit der Welt in eins verwachst. Mit der
Geburt des Gedankens in der griechischen Philosophie
trennte sich die Seele von der Welt. Sie lernte, sich dieser
in Einsamkeit gegeniiberzufuhlen. In dieser Einsamkeit
entdeckt sie sich mit dem in ihr waltenden Gedanken. He-
gel will dieses Erleben des Gedankens bis zu seiner Hohe
fiihren. Er findet im hochsten Gedankenerlebnis zugleich
das schopferische Weltprinzip. Damit hat die Seele einen
Kreislauf beschrieben, indem sie sich erst von der Welt
getrennt hat, um den Gedanken zu sudien. Sie fiihlt sich
so lange von der Welt getrennt, als sie den Gedanken nur
als Gedanken erkennt. Sie fiihlt sidi aber mit ihr wieder
vereinigt, indem sie im Gedanken den Urquell der Welt
entdeckt; und der Kreislauf ist geschlossen. Hegel kann
sagen: «Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihr en An-
fang zuriickgegangen.»
Von solchem Gesichtspunkt aus werden die andern
Hauptfragen der menschlichen Erkenntnis in ein soldies
Licht geriickt, dafi man glauben kann, das Dasein in einer
liickenlosen Weltanschauung zu iiberblicken. Als eine zwei-
te Hauptfrage kann die nach dem Gottlichen als Welten-
grund angesehen werden. Fur Hegel ist diejenige Erhe-
bung der Seele, durch welche sich der Weltengedanke in
ihr lebend erkennt, zugleich ein Einswerden mit dem gott-
lichen Weltengrunde. Man kann also in seinem Sinne nicht
fragen: was ist der gottliche Weltengrund, oder: wie ver-
halt sich der Mensch zu ihm? Man kann nur sagen: wenn
die Seele wirklich die Wahrheit erkennend erlebt, so ver-
senkt sie sich in diesen Weltengrund.
Eine dritte Hauptfrage in dem angedeuteten Sinne ist
die kosmologische; das ist die nach dem inneren Wesen der
aufieren Welt. Fiir Hegel kann dieses Wesen nur im Ge-
danken selbst gesucht werden. Gelangt die Seele dazu,
den Gedanken in sich zu erleben, so findet sie in ihrem
Selbsterlebnis audi jene Form des Gedankens, die sie wie-
derzuerkennen vermag, wenn sie in die Vorgiinge und
Wesenheiten der aufieren Welt blickt. So kann die Seele
zum Beispiel in ihren Gedankenerlebnissen etwas finden,
wo von sie unmittelbar weifi: Das ist das Wesen des Lich-
tes. Blickt sie dann mit dem Auge in die Natur, so sieht
sie im aufieren Lichte die OfFenbarung des Gedanken-
wesens des Lichtes.
So lost sidi fiir Hegel die ganze Welt in Gedanken-
wesenheit auf. Die Natur schwimmt in dem Gedanken-
kosmos gleichsam als ein erstarrter Teil in demselben; und
die menschliche Seele ist Gedanke in der Gedankenwelt.
Die vierte Hauptfrage der Philosophie, diejenige nadi
dem Wesen des Seelischen und nadi dessen Schicksalen,
scheint sich im Hegelschen Sinne durch den wahren Fort-
gang des Gedankenerlebens in befriedigender Weise zu
beantworten. Die Seele findet sich zunachst mit der Natur
verbunden; in dieser Verbindung erkennt sie nodi nicht
ihre wahre Wesenheit. Sie lost sich aus diesem Natursein,
findet sich dann getrennt im Gedanken, sieht aber zuletzt,
dafi sie im Gedanken mit dem wahren Wesen der Natur
audi ihr eigenes wahres Wesen als das des lebendigen
Geistes erfafit hat, in dem sie als ein Glied desselben lebt
und webt.
Aller Materialismus scheint damit uberwunden. Die
Materie selbst erscheint nur als eine Offenbarung des Gei-
stes. Die Menschenseele darf sich fuhlen als im Geistesall
werdend und wesend.
Nun enthiillt sich wohl am deutlichsten an der Seelen-
frage das Unbefriedigende der Hegelschen Weltanschau-
ung. Mit dem Blicke auf diese Weltanschauung mufi die
Menschenseele fragen: Kann ich mich in dem wirklich fin-
den, was Hegel als ein umfassendes Gedanken-Welten-
gebaude hingestellt hat? Es hat sich gezeigt, wie alle neuere
Weltanschauung nach einem solchen Bilde der Welt suchen
muike, in dem die Menschenseele mit ihrer Wesenheit einen
entsprechenden Platz hat. Hegel lafit die ganze Welt Ge-
danke sein; in dem Gedanken hat audi die Seele ihr iiber-
sinnlidies Gedankensein. Kann sich aber die Seele damit
fur befriedigt erklaren, als Weltengedanke in der allge-
meinen Gedankenwelt enthalten zu sein? Diese Frage
taudite bei denjenigen auf, welche sich in der Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts den Anregungen der Hegel-
schen Philosophic gegeniibersahen.
Welches sind doch die bedrangenden Seelenratsel? Die-
jenigen, nach deren Beantwortung die Seele sich sehnen
mufi, urn innere Sicherheit und Halt im Leben zu haben.
Es ist zunachst die Frage: Was ist die Menschenseele ihrem
innersten Wesen nach? Ist sie eins mit dem korperlichen
Dasein und horen ihre Auflerungen mit dem Hingange
des Korpers auf, wie die Bewegung der Uhrzeiger auf-
hort, wenn die Uhr in ihre Glieder zerlegt ist? Oder ist
die Seele gegeniiber dem Korper ein selbstandiges Wesen,
das Leben und Bedeutung hat noch in einer anderen Welt
als diejenige ist, in welcher der Korper entsteht und ver-
geht? Damit aber hangt dann die andere Frage zusam-
men: Wie gelangt der Mensch zur Erkenntnis einer sol-
chen anderen Welt? Erst mit der Beantwortung dieser
Frage kann dann der Mensch hoffen, auch Licht zu erhal-
ten fiir die Fragen des Lebens: Warum bin ich diesem oder
jenem Schicksal unterworfen? Woher stammt das Leiden?
Wo liegt der Ursprung des Sittlichen?
Eine befriedigende Weltanschauung kann nur diejenige
sein, welche auf eine Welt hinweist, aus der Antwort
kommt auf die angedeuteten Fragen. Und welche zugleich
ihr Recht nachweist, solche Antworten geben zu durfen.
Hegel gab eine Welt der Gedanken. Soil diese Welt der
alles erschopfende Kosmos sein, so sieht sich ihr gegeniiber
die Seele genotigt, sich in ihrem innersten Wesen als Ge-
danke anzusehen. Macht man mit diesem Gedankenkos-
mos Ernst, so verschwimmt ihm gegeniiber das individu-
elle Seelenleben des Mensdben. Man mufi davon absehen,
dieses zu erklaren und zu verstehen; man mufi sagen: Be-
deutungsvoll in der Seele ist nicht ihr individuelles Er-
leben, sondern ihr Enthaltensein in der allgemeinen Ge-
dankenwelt. Und so sagt im Grunde doch die Hegelsche
Weltanschauung. Man vergleiche sie, urn sie in dieser Be-
ziehung zu erkennen, mit dem, was Lessing vorschwebte,
als er die Gedanken seiner «Erziehung des Menschen-
gesdilechts» fafite. Er fragte nach einer Bedeutung der
einzelnen Menschenseele iiber das Leben hinaus, das zwi-
schen Geburt und Tod eingesdilossen ist. Man kann in
der Verfolgung dieses Lessingschen Gedankens davon
sprechen, dafi die Seele nach dem physischen Tode eine
Daseinsform in einer Welt durchmacht, welche aufierhalb
derjenigen liegt, in welcher der Mensch im Korper lebt,
wahrnimmt, denkt, und dafi nach entsprechender Zeit sol-
ches rein geistiges Erleben iibergeht in ein neues Erden-
leben. Damit ist in eine Welt verwiesen, mtt welcher die
Menschenseele als einzelnes, individuelles Wesen verknupft
ist. Auf diese Welt sieht sie sich verwiesen, wenn sie nach
ihrem wahren Wesen sucht. Sobaid man sich diese Seele
herausgehoben denkt aus ihrem Zusammenhange mit dem
leiblichen Dasein, hat man sie sich in dieser Welt zu den-
ken. Fur Hegel dagegen lauft das Leben der Seele, mit
Abstreifung alles Individuellen, in den allgemeinen Ge-
dankenprozefi zunachst des geschichtlichen Werdens, dann
der allgemeinen geistig-gedanklichen Weltvorgange ein.
Man lost in seinem Sinne das Seelenratsel, indem man alles
Individuelle an der Seele unberucksichtigt lafit. Nicht die
einzelne Seele ist wirklich, der geschichtliche Prozefi ist es.
Man nehme, was am Ende von Hegels «Phiiosophie der
Geschichte» steht: «Wir haben den Fortgang des Begriffs
allein betraditet und haben dem Reize entsagen mussen,
das Gliick, die Perioden der Bliite der Volker, die Schon-
heit und Grofk der Individuen, das Interesse ihres Schick-
sals in Leid und Freud naher zu schildern. Die Philoso-
phic hat es nur mit dem Glanze der Idee zu tun, die sich
in der Weltgeschichte spiegelt. Aus dem Uberdrufi an den
Bewegungen der unmittelbaren Leidenschaften in der
Wirklichkeit macht sich die Philosophic zur Betrachtung
heraus; ihr Interesse ist, den Entwickelungsgang der sich
verwirklichenden Idee zu erkennen.»
Man iiberblicke die Seelenlehre Hegels. Man findet in
ihr geschildert, wie sich die Seele innerhalb des Leibes als
«natiirliche Seele» entwickelt, wie sie das Bewulksein, das
Selbstbewufitsein, die Vernunft entfaltet; wie sie dann in
der Aufienwelt die Ideen des Rechtes, der Sittlichkeit, des
Staates verwirklicht, wie sie in der Weltgeschichte das in
einem fortdauernden Leben schaut, was sie als Ideen denkt,
wie sie diese Ideen als Kunst, als Religion darlebt, urn
dann in dem Einswerden mit der sich denkenden Wahr-
heit sich selbst in dem lebendig wirksamen Allgeist zu
schauen.
DaS die Welt, in welche sich der Mensch gestellt sieht,
ganz Geist ist, dafi auch alles materielle Dasein nur Offen-
barung des Geistes ist, das mufi fiir jeden Hegelisch Fiih-
lenden feststehen, Sucht ein soldier diesen Geist, so findet
er ihn, scinem Wesen nach, als wirksamen Gedanken, als
lebendig schopferische Idee. Davor steht nun die Seele und
mufi sich fragen: Kann idi wirklich mich als ein Wesen
ansehen, das im Gedankensein erschopft ist? Es kann als
das Grofie, das Unwiderlegliche der Hegelschen Welt-
anschauung empfunden werden, dafi die Seele, wenn sie
sich zu dem wahren Gedanken erhebt, sich in das schop-
ferische des Daseins entriickt fiihlt. So sich in ihrem Ver-
haltnisse zur Welt fiihlen zu diirfen, empfanden diejeni-
gen Personlichkeiten als tief befriedigend, welche mehr
oder weniger weit Hegels Gedankenentwickelung folgten.
Wie sich mit dem Gedanken leben lafit? Das war die
grofte Ratselfrage der neueren Weltanschauungsentwicke-
lung. Sie hatte sich ergeben aus dem Fortgange dessen, was
in der griechischen Philosophic aufgetreten ist aus dem
Aufleben des Gedankens und der damit gegebenen Los-
iosung der Seele aus dem aufieren Dasein. Hegel hat nun
versucht, den ganzen Umfang des Gedankenerlebens vor
die Seele hinzustellen, ihr gewissermafien alles gegeniiber-
zuhaken, was sie aus ihren Tiefen als Gedanke herauf-
zaubern kann. Diesem Gedankenerleben gegenuber for-
dert er nun von der Seele: Erkenne dich deiner tiefsten
Wesenheit nach m diesem Erlebnis, erfiihle dich darinnen
als in deinem tiefsten Grunde.
Die Menschenseele ist mit dieser Hegelschen Forderung
vor einen entscheidenden Punkt gebracht in der Erkennt-
nis ihres eigenen Wesens. Wohin soil sie sich wenden,
wenn sie beim reinen Gedanken angekommen ist und bei
demselben nicht stehenbleiben will? Vom Wahrnehmen,
vom Fiihlen, vom Wollen kann sie zum Gedanken gehen
und fragen: Was ergibt sich, wenn ich iiber das Wahr-
nehmen, das Fiihlen, das Wollen denke? Vom Denken
aus kann sie zunachst nicht weitergehen; sie kann nur
immer wieder denken. Es kann dem, der die neuere Welt-
anschauungsentwickelung bis zum Zeitalter Hegels ver-
folgt, als das Bedeutungsvolle an diesem Philosophen er-
scheinen, daft derselbe die Impulse dieser Entwickelung
bis zu einem Punkte verfolgt, iiber den sie nicht hinaus-
gebracht werden konnen, wenn man den Charakter bei-
behalt, mit dem sie sich bis zu ihm gezeigt haben. Wer
solches wahrnimmt, der kann zu der Frage kommen:
Wenn das Denken zunadist im Sinne des Hegeltums dazu
fiihrt, ein Gedankengemalde im Sinne eines Weltbildes
vor der Seele auszubreiten: hat damit das Denken alles
dasjenige wirklich aus sich heraus entwickelt, was leben-
dig in ihm beschlossen liegt? Es konnte doch sein, dafi im
Denken noch mehr liege als blofies Denken. Man betrachte
eine Pflanze, welche sich von der Wurzel, durch Stamm
und Blatter hindurch, zur Bltite und Frucht entwickelt.
Man kann nun das Leben dieser Pflanze damit beendigen,
dafi man der Frucht die Keime entnimmt und sie zum
Beispiel zur menschlichen Nahrung verwendet. Man kann
aber auch den Pflanzenkeim in geeignete Verhaltnisse
bringen, so dafi er sich zu einer neuen Pflanze entwickelt.
Wer den Blick auf den Sinn der Hegelschen Philosophic
richtet, dem kann diese so erscheinen, dafi in ihr das ganze
Bild, welches sich der Mensch von der "Welt macht, sich
gleich einer Pflanze entfaltet; dafi diese Entfaltung bis zu
dem Keime, dem Gedanken, gebracht wird, dann aber ab-
geschlossen wird wie das Leben einer Pflanze, deren Keim
nicht im Sinne des Pflanzenlebens weiterentwickelt wird,
sondern zu etwas verwandt wird, was diesem Leben aufier-
lich gegeniibersteht, wie die menschKche Ernahrung. In der
Tat: Sobald Hegel zu dem Gedanken gekommen ist, setzt
er den Weg nicht fort, der ihn bis zu dem Gedanken ge-
fuhrt hat. Er geht aus von der Wahrnehmung der Sinne
und entwickelt nun alles in der menschlichen Seele, was
zuletzt zum Gedanken fiihrt. Bei diesem bleibt er stehen
und zeigt an ihm, wie er zur Erklarung der Weltvorgange
und Weltwesenheiten fiihren konne. Dazu kann der Ge-
danke gewifi dienen, ebenso wie der Pflanzenkeim zur
menschlichen Nahrung. Aber sollte aus dem Gedanken
nicht Lebendiges sich entwickeln konnen? Sollte er nicht
seinem eigenen Leben durdi den Gebrauch entzogen wer-
den, welchen Hegel von ihm macht, wie der Pflanzenkeim
seinem Leben entzogen wird, wenn er zur menschlidien
Nahrung verwendet wird? In weldiem Lichte mufi die
Hegelsche Philosophic erscheinen, wenn es etwa Wahrheit
ware, dafi der Gedanke zwar zur Aufhellung, zur Erkla-
rung der Weltvorgange dienen kann, wie der Pflanzen-
same zur Nahrung, dafi er dies aber nur dadurch kann,
dafi er seinem fortlaufenden Wachstum entzogen wird?
Der Pflanzenkeim wird allerdings nur eine Pflanze glei-
cher Art aus sich hervorgehen lassen. Der Gedanke als Er-
kenntniskeim konnte aber, wenn er seiner lebendigen Ent-
wickelung zugefiihrt wird, etwas vollig Neues gegeniiber
dem Weltbilde hervorbringen, aus dem er sich entwickelt
hat. Wie im Pflanzenleben Wiederholung herrscht, so
konnte Steigerung im Erkenntnisleben stattfmden. 1st es
denn undenkbar, dafi alle Verwendung des Gedankens
zur Erklarung der Welt im Sinne der aufieren Wissen-
sdiaft nur gewissermafien eine Verwendung des Gedan-
kens ist, die einen Nebenweg der Entwickelung verfolgt,
wie im Gebrauch des Pflanzensamens zur Nahrung ein
Nebenweg gegeniiber der fortlaufenden Entwickelung
liegt? Es ist ganz selbstverstandlich, dafi man von soldier*
Gedankengangen sagen kann, sie seien der blofien Will-
kiir entsprungen und stellen nur wertlose Moglichkeiten
dar. Ebenso selbstverstandlich ist es, dafi man einwenden
kann, wo der Gedanke in dem angedeuteten Sinne weiter-
gefiihrt wird, da beginne das Reich der willkurlichen
Phantasievorstellungen. Dem Betrachter der geschicht-
lichen Entfaltung des Weltanschauungslebens im neun-
zehnten Jahrhundert kann die Sadie doch anders erschei-
nen. Die Art, wie Hegel den Gedanken auffafit, fiihrt in
der Tat die Weltanschauungsentwickelung zu einem toten
Punkt. Man fuhlt, man hat es mit dem Gedanken zu
einem Aufiersten gebracht; doch will man den Gedanken
so, wie man ihn erfafit hat, in das unmittelbare Leben des
Erkennens iiberfiihren, so versagt er; und man lechzt nach
einem Leben, das aus der Weltanschauung erspriefien
moge, zu der man es gebracht hat. Friedricb Theodor Vi-
scher beginnt um die Mitte des Jahrhunderts seine «Asthe-
tik» im Sinne der Hegelschen Philosophic zu sdireiben.
Er vollendet sie als ein monumentales Werk. Nach der
Vollendung wird er selbst der scharfsinnigste Kritiker
dieses Werkes. Und sucht man nach dem tieferen Grund
dieses sonderbaren Vorganges, so findet man, dafi Vischer
gewahr wird, er habe sein Werk mit dem Hegelschen Ge-
danken als mit einem Elemente durchsetzt, das, aus seinen
Lebensbedingungen herausgenommen, tot geworden ist,
wie der Pflanzenkeim als Totes wirkt, wenn er seiner Ent-
wickelungsstromung entrissen wird. Eine eigenartige Per-
spektive eroffnet sich, wenn man die Hegelsche Welt-
anschauung in dieses Licht riickt. Der Gedanke konnte
fordern, dafi er als lebendiger Keim erfafk und unter ge-
wissen Bedingungen in der Seele zur Entfaltung gebracht
werde, damit er iiber das Weltbild Hegels hinaus zu einer
Weltanschauung fuhre, in der sich die Seele, ihrem Wesen
nach, erst erkennen konne und mit der sie sich erst wahr-
haft in die Aufienwelt versetzt fuhlen konne. Hegel hat
die Seele so weit gebracht, dafi sie sich mit dem Gedanken
erleben kann; der Fortgang iiber Hegel hinaus wiirde da-
zu fuhren, dafi in der Seele der Gedanke iiber sich hinaus
und in eine geistige Welt hinein wachst. Hegel hat begrif-
fen, wie die Seele den Gedanken aus sich hervorzaubert
und sich in dem Gedanken erlebt; er hat der Nachwelt die
Aufgabe iiberlassen, mit dem lebendigen Gedanken als in
einer wahrhaft geistigen Welt das Wesen der Seele zu
finden, das sich im blofien Gedanken nicht in seiner Ganz-
lieit erleben kann.
Es hat sich in den vorangegangenen Ausfuhrungen ge-
zeigt, wie die neuere Weltanschauungsentwickelung von
der Wahrnehmung des Gedankens zu einem Erleben des
Gedankens hinstrebt; in Hegels Weltanschauung scheint
die Welt als selbsterzeugtes Gedankenerlebnis vor der
Seele zu stehen; doch die Entwickelung scheint auf einen
weiteren Fortgang hinzuweisen. Der Gedanke darf nicht
als Gedanke verharren; er darf nicht bloft gedacht, nicht
nur denkend erlebt werden; er mufi zu einem noch hohe-
ren Leben erwachen.
So willkiirlich alles dies erscheinen mag, so notwendig
muft es sich einer tiefer dringenden Betrachtung der Welt-
anschauungsentwickelung im neunzehnten Jahrhundert
aufdrangen. Man sieht bei einer solchen Betrachtung, wie
die Forderungen eines Zeitalters in den Tiefen der ge-
schichtlichen Entwickelung wirken und wie die Bestrebun-
gen der Menschen Versuche sind, mit diesen Forderungen
sich abzufmden. Dem naturwissenschaftlichen Weltbilde
stand die neuere Zeit gegeniiber. Unter Aufrechterhaltung
desselben mufiten Vorstellungen iiber das Seelenleben ge-
funden werden, welche diesem Weltbilde gegeniiber be-
stehen konnen. Die ganze Entwickelung iiber Descartes,
Spinoza, Leibniz, Locke bis zu Hegel erscheint als ein Rin-
gen um solche Vorstellungen. Hegel bringt das Ringen zu
einem gewissen Abschlusse. Wie er die Welt als Gedanke
hinstellt, das scheint bei seinen Vorgangern iiberall ver-
anlagt; er falk den kiihnen DenkerentschluS, alle Welt-
anschauungsvorstellungen in ein umfassendes Gedanken-
gemaide einlaufen zu lassen. - Mit ihm hat das Zeitalter
zunachst die vorwartsstrebende Kraft der Impulse er-
schopft. Was oben ausgesprochen ist - die Forderung, das
Leben des Gedankens zu erfuhlen: es wird unbewufit emp-
f unden; es lastet auf den Gemiitern um die Mitte des neun-
zehnten Jahrhunderts. Man verzweifelt an der Moglich-
keit, diese Forderung zu erfiillen; doch man bringt sich
dieses Verzweifeln nicht zum Bewuiksein. So tritt ein
Nicht- Vorwarts-Konnen auf dem philosophischen Felde
ein. Die Produktivitat an philosophischen Ideen hort auf.
Sie mufite sich in der angedeuteten Richtung bewegen;
doch scheint erst notig zu sein, dafi man sich iiber das Er-
langte besinne. Man sucht an diesen oder jenen Punkt bei
philosophischen Vorgangern anzukniipfen; doch fehlt die
Kraft zu fruchtbarer Weiterbildung des Hegelschen Welt-
bildes. - Man sehe, was Karl Rosenkranz in der Vorrede
zu seinem «Leben Hegels» 1844 schreibt: «Nicht ohne
Wehmut trenne ich mich von dieser Arbeit, miifite man
doch nicht irgendeinmal das Werden auch zum Dasein
kommen lassen. Denn scheint es nicht, als seien wir Heuti-
gen nur die Totengraber und Denkmalsetzer fur die Phi-
losophen, welche die zweite Halfte des vorigen (achtzehn-
ten) Jahrhunderts gebar, um in der ersten des jetzigen zu
sterben? Kant nng 1804 dies Sterben der deutschen Philo-
sophen an. Ihm folgten Fichte, Jacobi, Solger, Reinhold,
Krause, Schleiermacher, W. v. Humboldt, Fr. Schlegel,
Herbart, Baader, Wagner, Windischmann, Fries und so
vieie andere. . . . Sehen wir Nachwuchs fur jene Ernte des
Todes? Sind wir fahig, in die zweite Halfte unseres Jahr-
hunderts ebenfalls eine heilige Denkersdiar hiniiberzusen-
den? Leben unter unseren Jiinglingen die, welchen plato-
nischer Enthusiasmus und aristotelische Arbeitsseligkeit
das Gemtit zu unsterblicher Anstrengung fiir die Spekula-
tion begeistert? . . . Seltsam genug scheinen in unseren Ta-
gen gerade die Talente nicht redit aushalten zu konnen.
Schnell nutzen sie sich ab, werden nadi einigen verspre-
chenden Bliiten unfruchtbar und beginnen sich selbst zu
kopieren und zu wiederholen, wo nach Oberwindung der
unreiferen und unvollkommeneren, einseitigen und stiir-
mischen Jugendversuche die Periode kraftigen und gesam-
melten Wirkens erst folgen sollte. Manche, schonen Eifers
voll, uberstiirzen sich im Lauf und miissen, wie Constantin
Frantz, in jeder nachsten Schrift ihre vorangehende schon
wieder teilweise zuriicknehmen ...»
Dafi man nach der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
sich gedrangt fand, bei einer solchen Beurteilung der phi-
losophischen Zeitlage zu verharren, kommt oft zum Aus-
drucke. Der ausgezeichnete Denker Franz Brentano sprach
in der Antrittsrede fiir seine Wiener Professur «Uber die
Griinde der Entmutigung auf philosophischem Gebiete»
1874 die Worte: «In den ersten Dezennien unseres Jahr-
hunderts waren die Horsale der deutschen Philosophen
iiberfiillt: in neuerer Zeit ist der Flut eine tiefe Ebbe ge-
folgt. Man hort darum oft, wie bejahrtere Manner die
jiingere Generation anklagen, als ob ihr der Sinn fiir die
hochsten Zweige des Wissens mangele. - Das ware eine
traurige, aber zugleich audi eine unbegreifliche Tatsache.
Woher sollte es kommen, dafi das neue Geschlecht in sei-
ner Gesamtheit an geistigem Schwung und Adel so tief
hinter dem friiheren zuriickstande? - In Wahrheit war nicht
ein Mangel an Begabung, sondern - . . (ein) Mangel an
Vertrauen die Ursache, welche die Abnahme des philoso-
phischen Studiums zur Folge hatte. Ware die Hoffnung
auf Erfolg zuriickgekehrt, so wiirde sidier audi jetzt die
schonste Palme der Forschung nicht vergeblich winken ...»
Sdion in der Zeit, als Hegel nodi lebte und kurz nach-
her, fiihlten einzelnePersonlidikeiten, wie sein Weltgemalde
eben darin seine Schwache bekundet, worin seine Grofie
liegt. Es fuhrt die Weltanschauung zum Gedanken, notigt
dafiir aber audi die Seele, ihr Wesen im Gedanken er-
schopft zu sehen. Brachte es im oben gesdiilderten Sinne
den Gedanken zu einem ihm eigenen Leben, so konnte dies
nur innerhalb des individuelien Seelenlebens gesdiehen; die
Seele wiirde dadurdi als individuelles Wesen ihr Verhalt-
nis zum gesamten Kosmos finden. Dies fiihlte zum Bei-
spiel Troxler; doch kam es bei ihm iiber ein dunkles Ge-
fiihl da von nicht hinaus. Er spricht sidi 1835 in Vortra-
gen, die er an der Hochschule in Bern gehalten hat, in der
folgenden Art aus: «Nicht erst jetzt, sondern sdion vor
zwanzig Jahren lebten wir der innigsten Oberzeugung,
und suditen in wissenschaftlicher Schrift und Rede darzu-
tun, dafi eine Philosophic und Anthropologie, welche den
einen und ganzen Menschen und Gott und Welt umfassen
sollte, nur auf die Idee und Wirklichkeit der IndividuaH-
tat und Unsterblichkeit des Menschen begriindet werden
konnte. Dafiir ist die ganze im Jahre 18 11 erschienene
Schrift: ,Blicke in das Wesen des Menschen* der unwider-
sprechlichste Beweis, und der mit dem Titel ,Die absolute
Personlichkeit' iiberschriebene letzte Abschnitt unserer, in
Heften vielfaltig verbreiteten Anthropologie der sicherste
Beleg. Wir erlauben uns demnach, aus letzterer die An-
fangsstelle des erwahnten Abschnitts anzufiihren: Es ist
die ganze Natur des Menschen auf gottliche Mifiverbalt-
nisse in ihrem Innern gebaut, die in der Herrlichkeit einer
iiberirdischen Bestimmung sidi auflosen, indem alle trei-
benden Federn im Geiste, und nur die Gewichte in der
Welt liegen. Wir haben nun diese Mifiverhaltnisse mit
ihren Erscheinungen von der dunklen, irdischen Wurzel
an verfolgt, und sind den Gewmden des himmlischen Ge-
wadises nadigegangen, die uns nur einen grofien, edlen
Stamm von alien Seiten und in alien Richtungen zu um-
ranken schienen; bis an den Wipfel sind wir nun gekom-
men, aber der erhebt sich unerklimmbar und unabsehlich
in die obern, lichtern Raume einer andern Welt, deren
Licht uns leise dammert, deren Luft wir wittern mo-
gen ...» - Solche Worte klingen fur den gegenwartigen
Menschen sentimental und wenig wissenschaftHch. Man
hat jedoch nur notig, das Ziel zu beachten, auf das Trox-
ler zusteuert. Er will das Wesen des Mensdien nidit in
eine Ideenwelt aufgelost wissen, sondern er sucht zu er-
fassen «den Menschen im Menscben», als die «individuelle
und unsterblidie Personlichkeit». Troxler will die Men-
sdiennatur verankert wissen in einer Welt, die nicht blo-
fier Gedanke ist; daher macht er darauf aufmerksam, dafi
man von etwas im Menschen sprechen konne, welches den
Menschen an eine iiber die Sinneswelt hinausliegende Welt
bindet, und das nicht blo£er Gedanke ist. «Schon friiher
haben die Philosophen einen feinen, hehren Seelleib un-
terschieden von dem groberen Korper, oder in diesem
Sinne erne Art von Hulle des Geistes angenommen, eine
Seele, die ein Bild des Leibes an sich habe, das sie Schema
nannten und das ihnen der innere hohere Mensch war.»
Troxler selbst hat den Menschen gegliedert in Korper,
Leib, Seele und Geist. Damit hat er auf das Wesen der
Seele so hingewiesen, dafi dieses mit Korper und Leib in
die Sinnes-, mit Seele und Geist in eine iibersinnliche Welt
so hineinragt, dafi sie in der letzteren als individuelles
Wesen wurzelt, und nicht sich individuell nur in der Sin-
neswelt betatigt, in der geistigen Welt jedodi in die All-
gemeinheit des Gedankens verliert. Nur kommt Troxler
nicht dazu, den Gedanken als lebendigen Erkenntniskeim
zu erfassen und etwa durch das Lebenla-ssen dieses Er-
kenntniskeimes in der Seele die individuellen Seelen-
wesensglieder Seele und Geist wirklich aus einer Erkennt-
nis heraus zu rechtfertigen. Er ahnt nicht, da£ der Ge-
danke in seinem Leben sich zu dem gewissermafien aus-
wachsen konne, was als individuelles Leben der Seele an-
zusprechen ist; sondern er kann iiber dieses individuelle
Wesen der Seele nur wie aus einer Ahnung heraus spre-
chen. - Zu etwas anderem als zu einer Ahnung iiber diese
Zusammenhange konnte Troxler nicht kommen, weil er
zu sehr von positiv-dogmatischen religiosen Vorstellungen
abhangig war. Da er aber einen weiten Oberblick iiber
die Wissenschaft seiner Zeit und einen tiefen Einblick in
den Entwickelungsgang des Weltanschauungslebens hatte,
so darf seine Ablehnung der Hegelschen Philosophic doch
als mehr denn nur als aus personlicher Antipathle ent-
springend angesehen werden. Sie kann als ein Ausdruck
dessen gelten, was man aus der Stimmung des Hegelschen
Zeitalters selbst heraus gegen Hegel vorbringen konnte.
So ist zu betrachten, wenn Troxler sagt: «Hegel hat die
Spekulation auf die hochste Stufe ihrer Ausbildung ge-
fiihrt und sie eben dadurch vernichtet. Sein System ist das:
bis hierher und nicht weiter! in dieser Richtung des Gei-
stes geworden.» - In dieser Form stellt Troxler die Frage,
die von der Ahnung zur deutlichen Idee gebracht, wohl
heiften miifite: Wie kommt die Weltanschauung iiber das
hlofle Erleben des Gedankens im Hegelsdien Sinne hinaus
zu einer Teilnahme an dem Lebendigwerden des Gedan-
kens?
Fur die Stellung der Hegelsdien Weltanschauung zur
Stimmung der Zeit ist charakteristisch eine Schrift, die
1834 C. H. Wei fie erschemen Hefi und welche den Titel
tragt «Die philosophische Geheimlehre von der Unsterb-
lichkeit des menschlidien Individuums.» In derselben heifk
es: «Wer die Hegelsche Philosophic in ... ihrem ... Zu-
sammenhange studiert hat, dem ist es bekannt, wie sie auf
eine Weise, die durchaus folgerecht in ihrer dialektischen
Methode begriindet ist, den subjektiven Geist des end-
lichen Individuums erst in dem objektiven Geiste, dem
Geiste des Rechtes, des Staates und der Sitte . . . aufgebo-
ben werden, das heifit als untergeordnetes, zugleich bejah-
tes und verneintes, kurz als unselbstandiges Moment in
diesen hoheren Geist eingehen lafit. Das endliche Indivi-
duum wird hierdurch, wie man schon langst sowohl inner-
halb als aufierhalb der Schule Hegels bemerkt hat, zu einer
voriibergehenden Erscheinung ... Was fiir einen Zweck,
was fiir eine Bedeutung konnte ... die Fortdauer eines
solchen Individuums haben, nachdem durch dasselbe der
Weltgeist hindurchgezogen ist ...» Weifie sucht dieser
Bedeutungslosigkeit der individuellen Seele gegeniiber auf
seine Art deren Unverganglichkeit darzulegen. Dafi auch
er iiber Hegels Darstellung hinaus es zu keinem wirklichen
Fortschritt bringen kann, wird aus den von ihm befolg-
ten Gedankengangen, welche ein voriges Kapitel dieses
Buches skizziert, begreiflich sein.
Wie man die Ohnmacht des Hegelsdien Gedanken-
gemaides empfinden konnte gegeniiber dem individuellen
Wesen der Seele, so konnte man sie audi gewahr werden
gegenuber der Forderung, wirklidi in weitere Tiefen der
Natur einzudringen, als diejenigen sind, welche audi der
Sinnenwelt offen sind. Dafi alles dasjenige, was den Sin-
nen sich darbietet, in Wahrheit Gedanke und als soldier
Geist ist, das war fur Hegel klar; ob aber mit diesem
«Geiste der Natur» oiler Geist m der Natur durchsdiaut
ist, das konnte als eine neue Frage empfunden werden.
Wenn die Seele mit dem Gedanken ihr eigenes Wesen
nicht erfafit, konnte es dann nicht sein, dafi sie bei einem
andersartigen Erleben ihres eigenen Wesens doch tiefere
Krafte und Wesenheiten in der Natur erlebte? Ob man
sich solche Fragen mit aller Deutlichkeit stellt oder nicht,
darauf kommt es nicht an; sondern darauf, ob sie gegen-
iiber einer "Weltanschauung gestellt werden kbnnen. Kon-
nen sie es, dann macht durch diese Moglichkeit die Welt-
anschauung den Eindruck des Unbefriedigenden. "Weil dies
bei der Hegelschen Weltanschauung der Fall war, deshalb
empfand man ihr gegenuber nicht, dafi sie das rechte Bild
der "Welt gebe, auf die sich die hochsten Ratselfragen des
Daseins beziehen. Dies mulS ins Auge gefalk werden, wenn
das Bild in dem richtigen Lichte gesehen werden soli, in
dem sich die Weltanschauungsentwickelung in der Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts darstellt. In dieser Zeit
machte man in bezug auf das Bild von der aufieren Natur
weitere Fortschritte. Noch gewaltiger als vorher driickte
dieses Bild auf die gesamte menschliche Weltanschauung.
Begreiflich mu£ es erscheinen, dafi die philosophischen
Vorstellungen in dieser Zeit in einen harten Kampf ver-
wickelt wurden, da sie gewissermafien in dem geschilderten
Sinne an einem kritischen Punkte angelangt waren. - Be-
deutsam ist zunachst, wie Hegels Anhanger die Verteidi-
gung von dessen Philosophic versuchten.
Carl Ludwig Micbelet, der Herausgeber von Hegels
«Naturphilosophie»hat in seiner Vorrede zu derselbeni84i
geschrieben: «Wird man es noch langer fiir eine Schranke
der Philosophic halten, nur Gedanken, nidit einmal einen
Grashalm schaflFen zu konnen? Das heifit nur das Allge-
meine, Bleibende, einzig Wertvolle, nidit das Einzelne,
Sinnliche, Vergangliche? Soil aber die Sdiranke der Phi-
losophic nidit blofi darin bestehen, dafi sie nichts Indivi-
duelles machen konne, sondern audi darin, dafi sie nidit
einmal wisse, wie es gemacht werde: so ist zu antworten,
dafi dies Wie nicht iiber dem Wissen, -sondern vielmehr
unter dem Wissen steht, dieses also keine Schranke daran
haben kann. Bei dem Wie dieser Wandlung der Idee in
die Wirklichkeit geht namlich das Wissen verloren, eben
weil die Natur die bewufitlose Idee ist und der Grashalm
ohne irgendein Wissen wadist. Das wahre Schaffen, das
des Allgemeinen, bleibt aber der Philosophic, in ihrer Er-
kenntnis selber, un verloren . . . Und nun behaupten wir:
die keuscheste Gedankenentwickelung der Spekulation
wird am vollstandigsten mit den Resultaten der Erfah-
rung ubereinstimmen, und der grofie Natursinn in dieser
wiederum am unverhohlensten nichts weiter als die ver-
korperten Ideen erblicken lassen.»
Michelet spricht in derselben Vorrede audi noch eine
HofFnung aus: «So sind Goethe und Hegel die zwei Ge-
nien, welche, meiner Ansicht nadi, bestimmt sind, einer
spekulativen Physik in der Zukunft die Bahn zu brechen,
indem sie die Versohnung der Spekulation mit der Erfah-
rung vorbereiteten . . . Namentlich mochte es diesen He-
gelschen Vorlesungen am ersten gelingen, sich in dieser
Hinsicht Anerkennung zu verschafFen; denn da sie von
umfassenden empirischen Kenntnissen zeugen, so hat He-
gel an diesen die sicherste Probe seiner Spekulationen bei
der Hand gehabt.»
Die Folgezeit hat eine solche Versohnung nicht herbei-
gefuhrt. Eine gewisse Animositat gegen Hegel ergriff im-
mer weitere Kreise. Man sleht, wie diese Stimmung ihm
gegeniiber sich im Laufe der funfziger Jahre immer wei-
ter verbreitete an den Worten, die Friedricb Albert Lange
in seiner «Geschichte des Materialismus» (1866) gebraucht:
«Sein (Hegels) ganzes System bewegt sich innerhalb un-
serer Gedanken und Phantasien iiber die Dinge, denen
hochklingende Namen gegeben werden, ohne dafi es zur
Besinnung dariiber kommt, welche Geltung den Erschei-
nungen und den aus ihnen abgeleiteten BegrifFen iiber-
haupt zukommen kann . . . Durch Schelling und Hegel
wurde der Pantheismus zur herrschenden Denkweise in
der Naturphilo sophie, eine Weltanschauung, welche bei
einer gewissen mystischen Tiefe zugleich die Gefahr phan-
tastischer Ausschweifungen fast im Prinzip schon in sich
schlieEt. Statt die Erfahrung und die Sinnenwelt vom
Idealen streng zu scheiden und dann in der Natur des
Menschen die Versohnung dieser Gebiete zu suchen, voll-
zieht der Pantheist die Versohnung von Geist und Natur
durch einen Machtspruch der dichtenden Vernunft ohne
alle kritische Vermittelung.»
Zwar entspricht diese Anschauung iiber Hegels Denk-
weise dessen Weltanschauung so wenig als moglich (ver-
gleiche die Darstellung derselben in dem Kapitel «Die
Klassiker der Weltanschauung»); aber sie beherrschte um
die Mitte des Jahrhunderts schon zahlreiche Geister, und
sie eroberte sich einen immer weiteren Boden. Ein Mann,
der von 1833 bis 1872 als Philosophieprofessor in Berlin
eine einflufireiche Stellung innerhalb des deutschen Gei-
steslebens innehatte, Trendelenburg, konnte eines grofien
Beifalles sidier sein, als er iiber Hegel urteilte: dieser woll-
te durch seine Methode «lehren, ohne zu lernen», weil er
«sich im Besitze des gottlichen BegrifFes wahnend, die
miihsame Forsdiung in ihrem sicheren Besitze hemmt».
Vergeblich sudite Michelet solches zu beriditigen mit He-
gels eigenen Worten, wie diesen: «Der Erfahrung ist die
Entwickelung der Philosophic zu verdanken. Die empi-
rischen Wissenschaften bereiten den Inhalt des Besonderen
dazu vor, in die Philosophic aufgenommen zu werden.
Anderseits enthalten sie damit die Notigung fur das Den-
ken selbst, zu diesen konkreten Bestimmungen fortzu-
gehen.»
Charakteristisch fur den Gang der Weltanschauungs-
entwickelung in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahr-
hunderts ist der Ausspruch eines bedeutenden, aber leider
wenig zur Geltung gekommenen Denkers: K. Ch. Planck.
Von ihm erschien 1850 eine hervorragende Schrift «Die
Weltalter», in deren Vorrede cr sagt: «Zugleich die rein
natiirliche Gesetzmafiigkeit und Bedingthek alles Seins
zum Bewufttsein zu bringen und wiederum die voile
selbstbewufite Freiheit des Geistes, das selbstandige innere
Gesetz seines Wesens herzustellen, diese doppelte Ten-
denz, weldie der untersdieidende Grundzug der neueren
Geschichte ist, bildet in ihrer ausgesprochensten und rein-
sten Gestalt audi die Aufgabe der vorliegenden Schrift.
Jene erstere Tendenz liegt seit dem Wiederaufleben der
Wissenschaften in der erwachten selbstandigen und um-
fassenden Naturforschung und ihrer Befreiung von der
Herrschaft des rein Religiosen, in der durch sie hervor-
gebrachten Umwandlung der ganzen physischen "Welt-
anschauung und der immer mehr nuchtern-verstandig ge-
wordenen Betrachtung der Dinge iiberhaupt, wie endlich
in hochster Form in dem philosophisdien Streben, die Na-
turgesetze nach ihrer inneren Notwendigkeit zu begreifen,
nach alien Seiten hin zutage; sie zeigt sich aber audi prak-
tisch in der immer vollstandigeren Ausbildung dieses un-
mittelbar gegenwartigen Lebens nadi seinen natiirlidien
Bedingungen.» Der wachsende Einflufi der Naturwissen-
sdiaften driickt sich in solchen Satzen aus. Das Vertrauen
zu diesen Wissenschaften wurde immer grofier. Der Glau-
be wurde mafigebend, dafi sich aus den Mitteln und Er-
gebnissen der Naturwissenschaften heraus eine Welt-
anschauung gewinnen lasse, welche das Unbefriedigende
der Hegelschen nicht an sich hat.
Eine Vorstellung des Umschwunges, der sich in dieser
Richtung vollzog, gibt ein Buch, das im vollsten Sinne des
Wortes fur diese Zeit als ein representatives angesehen
werden kann: Alexander von Humboldts «Kosmos, Ent-
wurf einer physischen Weltbeschreibung». Der auf der
Hohe der naturwissenschaftlichen Bildung seiner Zeit ste-
hende Mann spricht von seinem Vertrauen in eine natur-
wissenschaftliche Weltbetrachtung: «Meine Zuversicht
griindet sich auf den glanzenden Zustand der Naturwis-
senschaften selbst: deren Reichtum nicht mehr die Fulle,
sondern die Verkettung des Beobachteten ist. Die allge-
meinen Resultate, die jedem gebildeten Verstande Inter-
esse einflofien, haben sich sek dem Ende des achtzehnten
Jahrhunderts wundervoll vermehrt. Die Tatsachen stehen
minder vereinzelt da; die Kliifte zwischen den Wesen
werden ausgefiillt. Was in einem engeren Gesichtskreise,
in unserer Nahe, dem forschenden Geiste lange unerklar-
lich blieb, wird durch Beobachtungen aufgehellt, die auf
einer Wanderung in die entlegensten Regionen angestellt
worden sind. Pflanzen- und Tiergebilde, die lange isoliert
erschienen, reihen sich durch neu entdeckte Mittelglieder
oder durch Obergangsformen aneinander. Eine allgemeine
Verkettung: nidit in einfacher linearer Richtung, sondern
in netzartig verschlungenem Gewebe, nadi hoherer Aus-
bildung oder Verkummerung gewisser Organe, nach viel-
seitigem Schwanken in der relativen Obermacht der Teile,
stellt sich allmahlich dem forschenden Natursinne dar. . . .
Das Sttfdium der allgemeinen Naturkunde weckt gleich-
sam Organe in uns, die lange geschlummert haben. Wir
treten in einen innigeren Verkehr mit der Aufienwelt.»
Humboldt selbst fiihrt im «Kosmos» die Naturbeschrei-
bung nur bis zu der Pforte, die den Zugang zur Welt-
anschauung eroffnet. Er sucht nicht danach, die Fiille der
Erscheinungen durch allgemeine Naturideen zu verknup-
fen; er reiht die Dinge und Tatsachen in naturgemafter
Weise aneinander, wie es «der ganz objektiven Richtung
seiner Sinnesart» entspricht.
Bald aber grifFen andere Denker in die Geistesentwicke-
lung ein, die kiihn im Verkniipfen waren, die vom Boden
der Naturwissenschaft aus in das Wesen der Dinge ein-
zudringen suchten. Was sie herbeifiihren wollten, war
nichts Geringeres als eine durchgreifende Umgestaltung
aller bisherigen philosophischen Welt- und Lebensanschau-
ung auf Grund moderner Wissenschaf t und Naturerkennt-
nis. In der krafugsten Weise hatte ihnen die Naturerkennt-
nis des neunzehnten Jahrhunderts vorgearbeitet. In radi-
kaler Weise deutet Feuerbach auf das hin, was sie wollten :
«Gott friiher setzen als die Natur ist ebensoviel, als wenn
man die Kirche friiher setzen wollte als die Steine, woraus
sie gebaut wird, oder die Architektur, die Kunst, welche
die Steine zu einem Gebaude zusammengesetzt hat, friiher
als die Verbindung der chemischen Stoffe zu einem Steine,
kurz, als die natiirliche Entstehung und Bildung des Stei-
nes.» Die erste Jahrhunderthalfte hat zahlreiche natur-
wissenschaftliche Steine zu der Architektur eines neuen
Weltanschauungsgebaudes geschaffen. Nun ist gewifl ridi-
tig, dafi man ein Gebaude nicht auffiihren kann, wenn
keine Bausteine dazu vorhanden sind. Aber nicht weniger
riditig ist es, dafi man nut den Steinen nichts anfangen
kann, wenn man nicht unabhdngig von ibnen ein Bild des
aufzufiihrenden Baues hat. Wie aus dem planlosen Uber-
einander- und Nebeneinanderlegen und Verkitten der
Steine kein Bau entstehen kann, so aus den erkannten
Wahrheiten der Naturforschung keine Weltanschauung,
wenn nicht unabbdngig von dem, was die Naturforschung
geben kann, in der Menschenseele die Kraft zu dem Bil-
den der Weltanschauung vorhanden ist. Dieses wurde von
den Bekampfern einer selbstandigen Philosophic durchaus
unberucksichtigt gelassen.
Wenn man die Personlichkeiten, die sich in den fiinfzi-
ger Jahren an der Auffiihrung eines Weltanschauungs-
gebaudes beteiligten, betrachtet, so treten die Physiogno-
mien dreier Manner mit besonderer Scharfe hervor: Lud-
wig Buchner (geboren 1824, gestorben 1899), Carl Vogt
(1817 — 1895) und Jacob Moleschott (1822— 1893). - Will
man die Grundempfindung, die diese drei Manner beseelt,
charakterisieren, so kann man es mit den Worten des letz-
teren tun: «Hat der Mensch alle Eigenschaften der Stoffe
erforscht, die auf seine entwickelten Sinne einen Eindruck
zu machen vermogen, dann hat er auch das Wesen der
Dinge erfafit. Damit erreicht er sein, das heifk: der Mensch-
heit absolutes Wissen. Ein anderes Wissen hat fiir den
Menschen keinenBestand.» Alle bisherige Philosophic hat,
nach der Meinung dieser Manner, dem Mensdien ein solches
bestandloses Wissen iiberlief ert. Die idealistischen Philoso-
phen glauben, nach der Meinung Buchners und seiner Gesin-
nungsgenossen, aus der Vernunft zu schopfen; durch ein
soldies Verf ahren konne aber, behauptet Buchner, kein in-
haltvolles Vorstellungsgebaude zustande kommen. «Die
Wahrheit aber kann nur der Natur und ihrem Waken
abgelauscht werden», sagt Moleschott. In ihrer und der
folgenden Zeit fafke man die Kampfer fiir eine solche der
Natur abgelauschte Weltanschauung als Materialisten zu-
sammen. Und man hat betont, dafi dieser ihr Materialis-
mus eine uralte Weltanschauung sei, von der hervor-
ragende Geister langst erkannt haben, wie unbefriedigend
sie fiir ein hoheres Denken sei. Buchner hat sich gegen eine
solche Ansicht gewandt. Er hebt hervor: «Erstens ist der
Materialismus oder die ganze Richtung iiberhaupt nie
widerlegt worden, und sie ist nicht nur die alteste philo-
sophische Weltbetrachtung, welche existiert, sondern sie
ist auch bei jedem Wiederaufleben der Philosophic in der
Geschichte mit erneuten Kraften wieder aufgetaucht; und
zweitens ist der Materialismus von heute nicht mehr der
ehemalige des Epikur oder der Enzyklopadisten, sondern
eine ganz andere, von den Errungenschaften der positiven
Wissenschaften getragene Richtung oder Methode, die sich
iiberdem von ihren Vorgangern sehr wesentlich dadurch
unterscheidet, dafi sie nicht mehr, wie der ehemalige Ma-
terialismus, System, sondern eine einfache realistisch-phi-
losophische Betrachtung des Daseins ist, welche vor allem
die einheitlichen Prinzipien in der Welt der Natur und
des Geistes aufsucht und uberall die Darlegung eines na-
tiirlichen und gesetzmafiigen Zusammenhangs der gesam-
ten Erscheinungen jener Welt anstrebt.»
Man kann an dem Verhalten eines Geistes, der im emi-
nentesten Sinne nach einem naturgemafien Denken strebte,
Goethes, zu einem der hervorragendsten Materialisten der
Franzosen - der Enzyklopadisten des vorigen Jahrhun-
derts - zu Holbach, zeigen, wie ein Geist, der naturwissen-
schaftlichem Vorstellen sein vollstes Recht widerfahren
lafit, sich zu dem Materialismus zu stellen vermag. Paul
Heinrich Dietrich von Holbach (geboren 1723), liefi 1770
das «Sy steme de la nature » erscheinen. Goethe, dem das
Buch in Strafiburg in die Hande fiel, schildert in «Dich-
tung und Wahrheit» den abstofienden Eindruck, den er
von ihm erhalten hat: «Eine Materie sollte sein von Ewig-
keit, und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit
dieser Bewegung rechts und links und nach alien Seiten,
ohne weiteres, die unendlichen Phanomene des Daseins
hervorbringen. Dies alles waren wir sogar zufrieden ge-
wesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten
Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut hatte.
Aber er mochte von der Natur so wenig wissen ah wir;
denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepf ahlt, ver-
lafit er sie sogleich, um dasjenige, was hoher als die Natur,
oder was als hohere Natur in der Natur erscheint, zur
materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch ridi-
tungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt
dadurch redit viel gewonnen zu haben.» Goethe war von
der t)berzeugung durchdrungen: «Die Theorie an und fur
sich ist nichts niitze, als insofern sie uns an den Zusam-
menhang der Erscheinungen glauben macht.» (Spriiche in
Prosa. Deutsche Nationalliteratur, Goethes Werke, Bd. 36,
2. Abt, S. 357).
Die naturwissenschaftlichen Ergebnisse aus der ersten
Halfte des neunzehnten Jahrhunderts waren nun aller-
dings als Tatsachenerkenntnisse geeignet, den Materiali-
sten der ftinfziger Jahre eine Unterlage fur ihre Welt-
anschauung zu liefern. Denn man war immer tiefer in die
Zusammenhange der materiellen Vorgange eingedrungen,
sofern sich diese der Sinnenbeobachtung und demjenigen
Denken ergeben, das sich nur auf diese Sinnesbeobachtung
stiitzen will. Wenn man nun auch bei einem solchen Ein-
dringen vor sich und anderen ableugnen will, daft in der
Materie Geist wirkt, so enthiillt man doch unbewuftt die-
sen Geist. In gewissem Sinne ist namlich durchaus richtig,
was Friedrich Theodor Vischer im dritten Heft von «Altes
und Neues» sagt: «Daft die sogenannte Materie etwas her-
vorbringen kann, dessen Funktion Geist ist, das eben ist
ja der voile Beweis gegen den Materialismus.» Und in die-
sem Sinne widerlegt unbewuftt Biichner den Materialismus,
indem er versucht zu beweisen, daft die geistigen Vor-
gange aus den Tiefen der materiellen Tatsachen fur die
Sinnesbeobachtung hervorgehen.
Ein Beispiel, wie die naturwissenschaftlichen Erkennt-
nisse solche Formen annahmen, die von tief gehendem Ein-
flusse auf die Weltanschauung sein konnten, gibt die Ent-
deckung Wdhlers vom Jahre 1828. Diesem gelang es, einen
StofT, der sich im lebendigen Organismus bildet, aufterhalb
desselben kiinstlich darzustellen. Dadurch schien der Be-
weis geliefert, daft der bisher bestandene Glaube unrich-
tig sei, welcher annahm, gewisse Stoffverbindungen konn-
ten sich nur unter dem Einfluft einer besonderen Lebens-
kraft, die im Organismus vorhanden sei, bilden. Wenn
man aufterhalb des lebendigen Korpers ohne Lebenskraft
solche Stoffverbindungen herstellen konnte, so durfte ge-
folgert werden, daft auch der Organismus nur mk den
Kraften arbeitet, mit denen es die Chemie zu tun hat.
Fur die Materialisten lag es nahe, zu sagen, wenn der
lebendige Organismus keiner besonderen Lebenskraft be-
darf, um das hervorzubringen, was man friiher einer sol-
chen zuschrieb: warum sollte er besonderer geistiger Krafte
bediirfen, damit in ihm die Vorgange zustande kommen,
an welche die geistig-seelisdien Erlebnisse gebunden sind?
Der StofF mit seinen Eigenschaften wurde nunmehr den
Materialisten dasjenige, was aus seinem Mutterschoft alle
Dinge und Vorgange erzeugt. Es war nicht weit von der
Tatsache, daft Kohlenstoff, WasserstofT, SauerstofF und
Stickstoff zu einer organischen Verbindung sich zusam-
menschliefien, zu der Behauptung Buchners: «Die Worte
Seele, Geist, Gedanke, Empfindung, Wille, Leben bezeich-
nen keine Wesenheken, keine wirklichen Dinge, sondern
nur Eigenschaften, Fahigkeiten, Verrichtungen der leben-
den Substanz oder Resultate von "Wesenheiten, welche in
den materiellen Daseinsformen begriindet sind.» Nicht
mehr ein gottliches Wesen, nicht mehr die menschliche
Seele, sondern den StofF mit seiner Kraft nannte Buchner
unsterblich. Und Moleschott kleidet dieselbe Uberzeugung
in die Worte: «Die Kraft ist kein stofiender Gott, kein
von der stofflichen Grundlage getrenntes Wesen der Din-
ge. Sie ist des Stoffes unzertrennliche, ihm von Ewigkeit
innewohnende Eigenschaft. - Kohlensaure, Wasser- und
Sauerstorf sind die Machte, die auch den {estesten Felsen
zerlegen und in den Flufi bringen, dessen Stromung das
Leben erzeugt. - Wechsel von StofF und Form in den ein-
zelnen Teilen, wahrend die Grundgestalt dieselbe bleibt,
ist das Geheimnis des tierischen Lebens.»
Die naturwissenschaftHche Forscherarbeit der ersten
Jahrhunderthalfte gab Ludwig Buchner die Moglichkeit,
Anschauungen wie diese auszusprechen: «In ahnlicher
Weise nun, wie die Dampfmaschine Bewegung hervor-
bringt, erzeugt die verwickelte organische Komplikation
kraftbegabter Stoffe im Tierleibe eine Gesamtsumme Ef-
fekte, welche, zu einer Einheit verbunden, von uns Geist,
Seele, Gedanke genannt wird.» Und Karl Gustav Reuschle
erklart in seinem Buche «Philosophie und Naturwis-
senschaft. Zur Erinnerung an David Friedrich Strauft»
(1874), daft die naturwissenschaftlichen Ergebnisse selbst
ein philosophisches Moment in sich schlossen. Die Ver-
wandtschaften, die man zwischen den Naturkraften ent-
deckte, betrachtete man als Fuhrer in die Geheimnisse des
Daseins.
Eine solche wichtige Verwandtschaft fand 18 19 Oersted
in Kopenhagen. Es zeigte sich ihm, daft die Magnetnadel
durch den elektrischen Strom abgelenkt wird. Faraday
entdeckte 1831 dazu das Gegenstuck, daft durch die An-
naherung eines Magneten in einem spiralformig gewun-
denen Kupferdraht Elektrizitat hervorgerufen werden
kann. Elektrizitat und Magnetismus waren damit als mit-
einander verwandte Naturphanomene erkannt. Beide
Krafte standen nicht mehr isoliert nebeneinander da; man
wurde darauf hingewiesen, daft ihnen im materiellen Da-
sein etwas Gemeinsames zugrunde liege. Einen tiefen Blick
in das Wesen von Stoff und Kraft hat Julius Robert Mayer
in den vierziger Jahren getan, als ihm klar wurde, daft
zwischen mechanischer Arbeitsleistung und Warme eine
ganz bestimmte, durch eine Zahl ausdriickbare Beziehung
herrscht. Durch Druck, Stoft, Reibung usw., das heiftt aus
Arbeit, entsteht Warme. In der Dampfmaschine wird
Warme wieder in Arbeitsleistung umgewandelt. Die Menge
der Warme, die aus Arbeit entsteht, laftt sich aus der
Menge dieser Arbeit berechnen. Wenn man die Warme-
menge, die notwendig ist, urn ein Kilogramm Wasser urn
einen Grad zu erwarmen, in Arbeit umwandelt, so kann
man mit dieser Arbeit 424 Kilogramm ein Meter hodi
heben. Es ist nicht zu verwundern, dafi in solchen Tat-
sachen ein ungeheurer Fortsdiritt gesehen wurde gegen
Erklarungen iiber die Materie, wie sie Hegel gegeben hat:
«Der Obergang von der Idealitat zur Realitat, von der
Abstraktion zum konkreten Dasein, hier von Raum und
Zeit zu der Realitat, welche als Materie erscheint, ist fiir
den Verstand unbegreiflich, und madit sich fiir ihn daher
immer aufierlich und als ein Gegebenes.» Soldi eine Be-
merkung wird nur in ihrer Bedeutung erkannt, wenn man
in dem Gedanken als solchen etwas Wertvolles sehen
kann. Das aber lag den hier genannten Denkern ganz
fern.
Zu solchen Entdeckungen iiber den einheitlichen Cha-
rakter der unorganischen Naturkrafte kamen andere, die
iiber die Zusammensetzung der Organismenwelt Auf schlufi
gaben. 1838 erkannte der Botaniker Schleiden die Bedeu-
tung der einfachen Zelle fiir den Pflanzenkorper. Er zeig-
te, wie sich alle Gewebe der Pflanze und daher diese selbst
aus diesen «Elementarorganismen» aufbauen. Schleiden
hatte diesen «Elementarorganismus» als ein Klumpchen
fliissigen Pflanzenschleimes, das von einer Hiille (Zell-
haut) umgeben ist und einen festeren Zellkern enthalt, er-
kannt. Diese Zellen vermehren sich und lagern sich so an-
einander, dafi sie pflanzliche Wesen aufbauen. Bald dar-
auf entdeckte Schwann das gleiche audi fiir die Tierwelt.
Im Jahre 1827 hat der geniale Carl Ernst Baer das mensch-
liche Ei entdeckt. Er hat audi die Vorgange der Entwkke-
lung der hoheren Tiere und des Menschen aus dem Ei ver-
folgt.
So war man iiberall davon abgekommen, die Ideen zu
suchen, die den Naturdingen zugrunde liegen. Man hat
dafiir die Tatsachen beobaditet, die zeigen, wie sich die
hoheren, komplizierteren Naturprozesse und Naturwesen
aus einfachen und niedrigen aufbauen. Die Manner wur-
den immer seltener, die nach einer idealistischen Deutung
der Welterscheinungen suchten. Es war noch der Geist der
idealistischen Weltanschauung, der 1837 dem Anthropo-
logen Burdach die Ansicht eingab, dafi das Leben seinen
Grund nicht in der Materie habe, sondern dafi es vielmehr
durch eine hohere Kraft die Materie umbilde, wie es sie
brauchen kann. Moleschott konnte bereits sagen: «Die Le-
benskraft, wie das Leben, ist nichts anderes als das Ergeb-
nis der verwickelt zusammenwirkenden und ineinander-
greifenden physischen und chemischen Krafte.»
Das Zeitbewufitsein drangte dazu, das Weltall durch
keine anderen Erscheinungen zu erklaren, als diejenigen
sind, die sich vor den Augen der Menschen abspielen.
Charles Lyells 1830 veroffentlichtes Werk «Principles of
geology» hatte mit diesem Erklarungsgrundsatz die ganze
alte Geologie gestiirzt. Bis zu Lyells epochemachender Tat
glaubte man, dafi die Entwickelung der Erde sich sprung-
weise vollzogen habe. Wiederholt soil alles, was auf der
Erde entstanden war, durch totale Katastrophen zerstort
worden, und iiber dem Grabe vergangener Wesen soli eine
neue Schopfung entstanden sein. Man erklarte daraus das
Vorhandensein der Pflanzen- und Tierreste in den Erd-
schichten. Cuvier war der Hauptvertreter soldier wieder-
holter Schopfungsepochen. Lyell kam zu der Anschau-
ung, daft man keine solche Durchbrechung des stetigen
Ganges der Erdentwickelung braucht. Wenn man nur ge-
niigend lange Zeitraume voraussetzt, dann konne man sagen,
da/S die Krafte, die heute noch auf der Erde tatig sind, diese
ganze Entwickelung bewirkt haben. In Deutschland haben
sich Goethe und Karl von Hoff schon friiher zu einer sol-
chen Ansicht bekannt. Der letztere vertrat sie in seiner 1822
erschienenen «Geschichte der durch Oberlieferung nachge-
wiesenen natiirlichen Veranderungen der Erdoberflache».
Mit der ganzen Kuhnheit von Enthusiasten des Gedan-
kens gingen Vogt, Buchner und Molesdiott an die Erkla-
rung aller Erscheinungen aus materiellen Vorgangen, wie
sie sich vor den menschlichen Sinnen abspielen.
Einen bedeutsamen Ausdruck fand der Kampf, den der
Materialismus zu fiihren hatte, als sich der Gottinger
Physiologe Rudolf Wagner und Carl Vogt gegemiberstan-
den. Wagner trat 1852 in der «Allgemeinen 2eitung» fiir
ein selbstandiges Seelenwesen gegen die Anschauung des
Materialismus ein. Er sprach davon, «da& die Seele sich
teilen konne, da ja das Kind vieles vom Vater und vieles
von der Mutter erbe». Vogt antwortete zunachst in seinen
«Bildern aus dem Tierleben». Man erkennt Vogts Stel-
lung in dem Streite, wenn man in seiner Antwort folgen-
den Satz liest: «Die Seele, welche gerade der Inbegriflf, das
Wesen der Individualitat des einzelnen, unteilbaren ¥e-
sens ausmachen soil, die Seele soli sich teilen konnen!
Theologen, nehmt Euch diesen Ketzer zur Beute - er war
bisher der Euren Einer! Geteilte Seelen! Wenn sich die
Seele im Akte der Zeugung, wie Herr R. Wagner meint,
teilen kann, so konnte sie sich auch vielleicht im Tode
teilen, und die eine mit Siinden beladene Portion ins
Fegefeuer gehen, wahrend die andere direkt ins Para-
dies geht. Herr Wagner verspricht zum Schlusse seiner
physiologischen Briefe auch Exkurse in das Gebiet der
Physiologie — wir sind sehr begierig auf diese Physiologie
der geteilten Seelen.» Heftig wurde der Kampf, als Wag-
ner 1854 auf der Naturforscherversammlung in Gottingen
einen Vortrag iiber «Menschensdiopfung und Seelensub-
stanz» gegen den Materialismus hielt. Er wollte zweierlei
beweisen. Erstens, dafi die Ergebnisse der neueren Natur-
wissensdiaft dem biblisdien Glauben an die Abstammung
des Menschengeschledites von einem Paare nidit wider-
sprechen; zweitens, daft diese Ergebnisse nichts iiber die
Seeie entscheiden. Vogt schrieb 1855 gegen Wagner eine
Streitschrift «K6hlerglaube und Wissenschaft», die ihn
einerseits auf der vollen Hohe naturwissenschaftlicher Ein-
sicht seiner Zeit zeigt, anderseits aber audi als scharfen
Denker, der riickhaltlos die Schluftfolgerungen des Geg-
ners als Truggebilde enthullt. Sein Widerspruch gegen
Wagners erste Behauptung gipfelt in den Satzen: «Alle
historischen wie naturgeschichtlichen Forschungen liefern
den positiven Beweis von dem vielfaltigen Ursprung der
Menschenarten. Die Lehren der Sdirift iiber Adam und
Noah und die zweimalige Abstammung der Menschen von
einem Paare sind wissensdiaftlidi durchaus unhaltbare
Marchen.» Und gegen die Wagnersdie Seelenlehre wandte
Vogt ein: Wir sehen die Seelentatigkeiten des Menschen
sich allmahlich entwickeln mit der Entwickelung der kor-
perlichen Organe. Wir sehen die geistigen Verrichtungen
vom Kindesalter an bis zur Reife des Lebens vollkomme-
ner werden; wir sehen, daft mit jeder Einschrumpfung der
Sinne und des Gehirnes audi der «Geist» entsprechend ein-
schrumpft. «Eine solche Entwickelung ist unvereinbar mit
der Annahme einer unsterblichen Seelensubstanz, die in
das Gehirn als Organ hineingepflanzt Ist. » Dafi die Ma-
terialisten bei ihren Gegnern nidit allein Verstandes-
grunde, sondern audi Empfindungen zu bekampfen hat-
ten, zeigt gerade der Streit zwisdien Vogt und Wagner
mit vollkommener Klarheit. Hat doch der letztere in sei-
nem Gottinger Vortrage an das moralische Bedtirfnis ap-
pelliert, das es nicht vertragt, wenn «mechanische, auf
zwei Armen und Beinen herumlaufende Apparate» zuletzt
sich in gleidigiiltige Stoffe auflosen, ohne daft man die
Hoffnung haben konnte, dafi das Gute, das sie tun, be-
lohnt und ihr Boses bestraft werde. Vogt erwidert darauf :
«Die Existenz einer unsterblichen Seele ist Herrn Wagner
nicht das Resultat der Forschung oder des Nadidenkens.
. . . Er bedarf einer unsterblichen Seele, um sie nach dem
Tode des Menschen qualen und strafen zu konnen.»
Dafi es einen Gesichtspunkt gibt, von dem aus auch die
moralische Weltordnung der materialistischen Ansicht zu-
stimmen kann, das versuchte Heinrich Czolbe (1819 bis
1873) zu zeigen. Er setzt in seiner 1865 erschienenen Schrift
«Die Grenzen und der Ursprung der menschlichen Er-
kenntnis im Gegensatz zu Kant und Hegel» auseinander,
dafi jede Theologie aus der Unzufriedenheit mit dieser
Welt entspringe. «Zur Ausschliefiung des Obernatiirlichen
oder alles des Unbegreiflichen, was zur Annahme einer
zweiten Welt fiihrt, mit einem Worte, zum Naturalismus,
notigt also keineswegs die Macht naturwissenschaftlicher
Tatsachen,zunachst auch nicht die alles begreifen wollende
Philosophic: sondern in tiefstem Grunde die Moral, nam-
lich dasjenige sittliche Verhaltnis des Menschen zur Welt-
ordnung, was ich Zufriedenheit mit der nauirlichen Welt
genannt habe.» Czolbe sieht in dem Begehren einer iiber-
natiirlichen Welt geradezu einen Ausflufi der Undankbar-
keit gegen die natiirlidie. Die Fundamente der Jenseits-
philosophie sind ihm moralische Fehler, Sun den wider den
Geist der natiirlichen Weltordnung. Denn sie fuhren ab
von «dem Streben nadi dem moglichsten Gliicke jedes
einzelnen» und der Pmchterfiillung, die aus solchem Stre-
ben folgt «gegen uns selbst und andere ohne Riicksicht auf
iibernatiirlichen Lohn und Strafe». Nadi seiner Ansidit
soli der Mensch erfiillt sein von «dankbarer Hinnahme
des ihm zufallenden, vielleicht geringen irdischen Gliicks
nebst der in der Zufriedenheit mit der nattirlichen Welt
liegenden Demutigung unter ihre Schranken, ihr notwen-
diges Leid». Wir begegnen hier einer Ablehnung der uber-
natiirlichen moralischen Weltordnung - aus moralischen
Griinden.
In Czolbes Weltanschauung sieht man auch klar, welche
Eigenschaften den Materialismus fiir das menschliche Den-
ken so annehmbar machen. Denn das ist zweifellos, dafi
Biichner, Vogt und Moleschott nicht Philosophen genug
waren, um die Fundamente ihrer Ansicht logi-sch klarzu-
legen. Auf sie wirkte die Macht der naturwissenschaft-
lichen Tatsadien. Ohne sich bis in die Hohen einer ideen-
gemafien Denkweise, wie Goethe sich auszudriicken pfleg-
te, zu versteigen, zogen sie mehr als Naturdenker die Fol-
gerungen aus dem, was die Sinne wahrnehmen. Sich aus
der Natur des menschlichen Erkennens Rechenschaft zu
geben iiber ihr Verfahren, war nicht ihre Sache. Czolbe
tat das. In seiner «Neuen Darstellung des Sensualismus»
(1855) finden wir Griinde angegeben, warum er nur eine
Erkenntnis auf der Grundlage der sinnlichen Wahrneh-
mungen fiir wertvoll halt. Nur eine solche Erkenntnis Ue-
fert deutlich vorstellbare und anschauliche Begriffe, Ur-
teile und Schlusse. Jeder Schlufi auf etwas Unvorstell-
bares, sowie jeder undeutliche BegrifF sind abzuweisen.
Anschaulich klar ist nun, nach Czolbes Ansicht, nicht das
Seelische als solches, sondern das Materielle, an dem das
Geistige als Eigenschaft ersdieint. Deshalb bemiiht er sich
in seiner 1856 ersdiienenen Sdirift «Die Entstehung des
Selbstbewufttseins, eine Antwort an Herrn Professor Lot-
ze», das Selbstbewufttsein auf materiell-anschauliche Vor-
gange zuruckzufiihren. Er nimmt eine Kreisbewegung der
Teile des Gehirns an. Durdi eine soldie in sidi selbst zu-
rUckkehrende Bewegung werde ein Eindruck, den ein Ding
auf die Sinne mache, zu einer bewufiten Empflndung.
Merkwiirdig ist, daft diese physikalische Erklarung des
Bewufitseins fiir Czolbe zugleidi die Veranlassung wurde,
seinem Materialismus untreu zu werden. Hier zeigt sidi
an ihm eine der Schwachen, die dem Materialismus anhaf-
ten. Wenn er seinen Grundsatzen treu bliebe, dann wiirde
er mit seinen Erklarungen niemals weiter gehen, als ihm
die mit den Sinnen erforschten Tatsachen gestatten. Er
wiirde von keinen anderen Vorgangen im Gehirn spre-
dien, als solchen, die sidb mit naturwissensdiaftlidienMit-
teln wirklich feststellen lassen. Das, was er sich vorsetzt,
ist somit ein unendlich femes Ziel. Geister wie Czolbe
sind nicht zufrieden mit dem, was erforscht ist; sie neh-
men hypothetisch Tatsachen an, die noch nicht erforscht
sind. Eine solche Tatsache ist die erwahnte Kreisbewegung
der Gehirnteile. Eine vollstandige Durchforschung des Ge-
hirns wird sicherlich solche Vorgange innerhalb desselben
kennen lehren, die sonst nirgends in der Welt vorkom-
men. Daraus wird folgen, daft die durch Gehirnvorgange
bedingten seelischen Vorgange auch nur im Zusammen-
hange mit einem Gehirne vorkommen. Von seiner hypo-
thetischen Kreisbewegung konnte Czolbe nicht behaupten,
daft sie nur auf das Gehirn beschrankt sei. Sie konnte auch
aufterhalb des tierischen Organismus vorkommen. Dann
aber miiftte sie seelische Erscheinungen auch in unbelebten
Dingen mit sich fiihren. Der auf anschauliche Klarheit
dringende Czolbe halt tatsachlich eine Beseeltheit der gan-
zen Natur nicht fur ausgeschlossen. «Sollte» - sagt er -
«meine Ansicht nicht eine Realisierung der schon von Plato
in seinem Timaus verteidigten Weltseele sein? Sollte hier
nicht der Vereinigimgspunkt» des Leibnizschen Idealismus,
der die ganze Welt aus beseelten Wesen (Monaden) be-
stehen liefi, mit dem modernen Naturalismus liegen?
In vergrofiertem Mafie tritt der Fehler, den Czolbe mit
seiner Gehirnkreisbewegung gemacht hat, bei dem genia-
len Karl Christian Planck (1819 — 1880) auf. Die Schrif-
ten dieses Mannes sind ganz vergessen worden, trotzdem
sie zu dem Interessantesten gehoren, was die neuere Phi-
losophic hervorgebracht hat. Ebenso lebhaft wie der Ma-
terialismus strebte Planck nach einer Welterklarung aus
der wahrnehmbaren Wirklichkeit heraus. Er tadelt an
dem deutschen Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels,
daB dieser einsekig in der Idee das W esen der Dinge such-
te. «Die Dinge wahrhaft unabhangig aus sich selbst er-
klaren, heifit sie in ihrer urspriinglichen Bedingtheit und
Endlichkeit erkennen.» (Vgl. Planck, Die Wei taker, S. 103.)
«Es ist nur die eine und wahrhafte reine Natur, so dafi
die blofie Natur im engeren Sinne und der Geist nur Ge-
gensatze innerhalb der einen Natur im hoheren und um-
fassenden Sinne sind» (a. a. O. S. 101). Nun tritt aber bei
Planck das Merkwiirdige ein, dafi er das Reale, das Aus-
gedehnte fiir dasjenige erklart, was die Welterklarung
suchen mufi, und daiS er dennoch nicht an die sinnliche
Erfahrung, an die Beobachtung der Tatsachen herantritt,
um zu dem Realen, zu dem Ausgedehnten zu gelangen.
Denn er glaubt, dafi die menschliche Vernunft durch sich
selbst bis zu dem Realen vordringen kann. Hegel habe
den Fehler gemadit, dafi er die Vernunft sich selbst be-
traditen liefi, so dafi sie in alien Dingen audi sich selbst
sah; er aber wolle die Vernunft nicht in sidi selbst ver-
harren lassen, sondern sie iiber sich hinausfiihren zu dem
Ausgedehnten, als dem Wahrhaft-Wirklichen. Planck ta-
delt Hegel, weil dieser die Vernunft ihr eigenes Gespinst
aus sich spinnen lafk; er selbst ist verwegen genug, die
Vernunft das objektive Dasein spinnen zu lassen. Hegel
sagte, der Geist kann das Wesen der Dinge begreifen, weil
die Vernunft das Wesen der Dinge ist und die Vernunft
im Menschengeiste zum Dasein kommt; Planck erklart:
das Wesen der Dinge ist nicht die Vernunft; dennoch ge-
braucht er lediglich die Vernunft, urn dieses Wesen dar-
zustelien. Eine kiihne Weltkonstruktion, geistvoll erdacht>
aber erdacht fern von wirklicher Beobachtung, fern von
den realen Dingen, und dennoch in dem Glauben entwor-
fen, sie sei ganz durchtrankt mit echtester Wirklichkeit,
das ist Plancks Ideengebaude. Als ein lebendiges Wechsel-
spiel von Ausbreitung und Zusammenziehung sieht er das
Weltgeschehen an. Die Schwerkraft ist fiir ihn das Stre-
ben der im Raum ausgebreketen Korper, sich zusammen-
zuziehen. Die Warme und das Licht sind das Streben eines
Korpers, seinen zusammengezogenen Stoff in der Entfer-
nung zur Wirksamkeit zu bringen, also das Streben nach
Ausbreitung.
Plancks Verhaltnis zu seinen Zeitgenossen ist ein hochst
interessantes. Feuerbach sagt von sich: «Hegel steht auf
einem die Welt konstruierenden, ich auf einem die Welt . . .
als seiend erkennen wollenden Standpunkt; er steigt her-
ab, ich hinauf. Hegel stellt den Menschen auf den Kopf,
ich auf seine auf der Geologie ruhenden Fiifie.» Damit
hatten audi die Materialisten ihr Glaubensbekenntnis cha-
rakterisieren konnen. Planck aber verfahrt der Art und
Weise nach genau so wie Hegel. Dennoch glaubt er so zu
verfahren wie Feuerbach und die Materialisten. Sie aber
hatten ihm, wenn sie seine Art in ihrem Sinne gedeutet
hatten, sagen mussen: Du stehst auf einem die Welt kon-
struierenden Standpunkt; dennoch glaubst du, sie als
seiend zu erkennen; du steigst herab, und haltst den Ab-
stieg fur einen Aufstieg; du stellst die Welt auf den Kopf
und bist der Ansicht, der Kopf sei Fufi. Der Drang nach
natiirlicher, tatsachlicher Wirklichkeit im dritten Viertel
des neunzehnten Jahrhunderts konnte wohl nicht scharfer
zum Ausdruck gelangen als durch die Weltanschauung
eines Mannes, der nicht nur Ideen, sondern Realitat aus
der Vernunft hervorzaubern wollte. Nicht minder inter-
essant wirkt Plancks Personlichkeit, wenn man sie mit
derjenigen seines Zeitgenossen Max Stirner vergleicht. In
dieser Beziehung kommt in Betracht, wie Planck uber die
Motive des menschlichen Handelns und des Gemeinschafts-
lebens dachte. Wie die Materialisten von den wirkhch den
Sinnen gegebenen StofTen und Kraften fiir die Naturerkla-
rung ausgingen, so Stirner von der wirklichen Einzelper-
sonlichkeit fiir die Richtschnur des menschlichen Verhal-
tens. Die Vernunft ist nur bei dem einzelnen. Was sie als
Richtschnur des Handelns bestimmt, kann daher audi nur
fiir den einzelnen gelten. Das Zusammenleben wird sich
von selbst ergeben aus der naturgemafien Wechselwirkung
der Einzelpersonlichkeiten. Wenn jeder seiner Vernunft
gemaft handelt, so wird durch freies Zusammenwirken
aller der wiinschenswerteste Zustand entstehen. Das natur-
gema£e Zusammenleben entsteht von selbst, wenn jeder
m seiner Individualitat die Vernunft walten lafit, im Sinne
Stirners ebenso, wie nach der Ansicht der Materialisten
die naturgemafie Ansidit von den Welterscheinungen ent-
steht, wenn man die Dinge ihr Wesen selbst ausspredien
lafk und die Tatigkeit der Vernunft lediglich darauf be-
schrankt, die Aussagen der Sinne entsprechend zu verbin-
den und zu deuten. Wie nun Planck die Welt nicht dadurch
erklart, dafi er die Dinge fiir sich sprechen lafk, sondern
durch seine Vernunft entscheidet, was sie angeblich sagen;
so la£t er es audi in bezug auf das Gemeinschaftsleben
nicht auf eine reale Wechselwirkung der Personlichkeken
ankommen, sondern er traumt von einem durch die Ver-
nunft geregelten, dem allgemeinen Wohle dienenden Vol-
kerverband mit einer obersten Rechtsgewalt. Er halt es also
auch hier fiir moglich, dafi die Vernunft das meistere, was
jenseits der Personlichkeit liegt. «Das urspriingliche allge-
meine Rechtsgesetz fordert notwendig sein aufSeres Da-
sein in einer allgemeinen Rechtsmacht; denn es ware selbst
gar nicht wirklich als allgemeines auf aufiere Weise vor-
handen, wenn es nur den einzelnen selbst iiberlassen ware,
es durchzufuhren, da die einzelnen fiir sich ihrer recht-
lichen Stellung nach nur Vertreter ihres Rechtes, nicht des
allgemeinen als solchen sind.» Planck konstruiert eine all-
gemeine Rechtsmacht, weil die Rechtsidee nur auf diese
Weise sich wirklich machen kann. Funf Jahre vorher hat
Max Stirner geschrieben: «Eigener und Schopfer meines
Rechts, erkenne ich keine andere Rechtsquelle als - mich,
we der Gott, noch den Staat, noch die Natur, noch auch
den Menschen selbst mit seinen ,ewigen Menschenrechten',
weder gottliches, noch menschliches Recht.» Er ist der An-
sicht, da£ das wirkliche Recht des einzelnen innerhalb
eines allgemeinen Rechtes nicht bestehen kann. Durst nach
Wirklichkeit ist es, was Stirner zur Verneinung eines un-
wirklichen allgemeinen Rechtes treibt; aber Durst nach
Wirklichkek ist es audi, was Planck zu dem Streben bringt,
aus einer Idee einen realen, den Rechtszustand, heraus-
konstruieren zu wollen.
"Wie eine Planck im starksten Mafie beunruhigende
Macht liest man aus seinen Schriften das Gefiihl heraus,
dafi der Glaube an zwei ineinanderspielende Weltordnun-
gen, eine naturgemafie und eine rein geistige, nicht natur-
gemafie, unertraglich ist.
Nun hat es ja schon in friiherer Zeit Denker gegeben,
die nach einer rein naturwissenschaftlichen Vorstellungs-
art strebten. Von mehr oder minder klaren Versuchen
anderer abgesehen, hat Lamarck im Jahre 1809 ein Bild
von der Entstehung und Entwickelung der Lebewesen ent-
worfen, das, nach dem Stande der damaligen Kenntnisse,
fiir eine zeitgemafie Weltanschauung viel Anziehendes
hatte haben sollen. Er dachte sich die einfachsten Lebe-
wesen durch unorganische Vorgange unter gewissen Be-
dingungen entstanden. Ist einmal auf diesem Wege ein
Lebewesen gebildet, dann entwickelt es, durch Anpassung
an gegebene Verhaltmsse der Auftenwelt, aus sich neue
Gebilde, die seinem Leben dienen. Es treibt neue Organe
aus sich heraus, weil es sie fiir sich notig hat. Die Wesen
konnen sich also umbilden und in dieser Umbildung audi
vervollkommnen. Die Umbildung stellt sich Lamardt zum
Beispiel so vor: Es gibt ein Tier, das darauf angewiesen
ist, seine Nahrung hohen Baumen zu entnehmen. Es mufi
zu diesem Zwecke seinen Hals in die Lange strecken. Im
Laufe der Zeit verlangert sich dann der Hals unter dem
Einflusse des Bediirfnisses. Aus einem kurzhalsigen Tiere
entsteht die Giraffe mit dem langen Hals. Die Lebewesen
sind also nicht in der Mannigfaltigkeit entstanden, son-
dern diese Mannigfaltigkeit hat sich naturgemafi im Laufe
der Zeit durdi die Verhaltnisse erst entwickelt. Lamarck
ist der Ansicht, dafi der Mensch in diese Entwickelung ein-
gesdilossen ist. Er hat sidi im Laufe der Zeit aus ihm ahn-
lidien affenahnlichen Tieren entwickelt zu Formen, die es
ihm gestatten, hohere leibliche und geistige Bediirfnisse
zu befriedigen. Bis zum Menschen herauf hatte also La-
marck die ganze Organismenwelt an das Reich des Un-
organisdien angeschlossen.
Lamarcks Versuch einer Erklarung der Lebensmannig-
faltigkeit bradite seine Zeit wenig Beachtung entgegen.
Zwei Jahrzehnte spater brach in der franzosischen Aka-
demie ein Streit zwisdien Geoffroy St. Hilaire und Cuvier
aus. Geoffroy St. Hilaire glaubte in der Fulle der tierischen
Organismen, trotz ihrer Mannigfaltigkeit, einen gemein-
samen Bauplan zu erkennen. Ein soldier war die Vor-
bedingung f iir eine Erklarung ihrer Entwickelung aus ein-
ander. Wenn sie sich aus einander entwickelt haben, so
mufi ihnen trotz ihrer Mannigfaltigkeit etwas Gemein-
sames zugrunde liegen. In dem niedersten Tiere mufi noch
etwas zu erkennen sein, das nur der Vervollkommnung
bedarf , um im Laufe der Zeit zu dem Gebilde des hoheren
Tieres zu werden. Cuvier wandte sich energisch gegen die
Konsequenzen dieser Anschauung. Er war der vorsichuge
Mann, der darauf hinwies, dafi die Tatsachen zu soldi
weitgehenden SchHissen keine Veranlassung geben. Goethe
betrachtete diesen Streit, sofort als er davon horte, als das
wichtigste Ereignis der Zeit. Fur ihn verblafite gegeniiber
diesem Kampfe das Interesse an einem gleichzeitigen po-
litischen Ereignisse, wie es die f ranzosi-sche Julirevolution
war, vollstandig. Er sprach das deutlich genug in einem
Gespradie mit Soret (im August 1830) aus, Es war ihm
klar, dafi an dieser Streitfrage die naturgemafie Auffas-
sung der organischen Welt hing. In einem Aufsatz, den er
schrieb, trat er intensiv fur Geoffroy St. Hilaire ein (vgl.
Goethes Naturwissenschaftliche Schriften im 33. Band der
Goethe-Ausgabe von Kurschners deutscher Nationallitera-
tur). Zu Johannes von Miiller sagte er, daft Geoff roy St.
Hilaire auf einem Wege wandle, den er selbst vor funfzig
Jahren betreten habe. Daraus ergibt sich klar, was Goethe
wollte, als er bald nach seinem Eintritte in Weimar an-
ting, Studien liber das Tier- und Pflanzenwesen zu treiben.
Ihm schwebte schon dazumal eine naturgemafie Erklarung
der lebendigen Mannigfaltigkek vor; aber audi er war
vorsichtig. Er behauptete nie mehr, als wozu ihn die Tat-
sachen berechtigten. Und er sagt in seiner Einleitung zur
« Metamorphose der Pflanzen», dafi die damalige Zeit in
bezug auf diese Tatsachen unklar genug war. Man glaub-
te, so driickt er sich aus, der Affe brauche sich nur aufzu-
richten und auf den Hinterbeinen zu gehen, dann konne
er zum Menschen werden.
Die naturwissenschaftlichen Denker lebten in einer
ganz anderen Vorstellungsart als die Hegelianer. Diese
konnten innerhalb ihrer ideellen Welt stehen bleiben. Sie
konnten ihre Idee des Menschen aus ihrer Idee des Affen
heraus entwickeln, ohne sich darum zu kummern, wie die
Natur es fertigbringt, in der wirklichen Welt den Men-
schen neben dem Affen entstehen zu lassen. Hatte doch
noch Michelet gesagt (vgl. oben S. 348), es sei nicht Sache
der Idee, sich iiber das «Wie» der Vorgange in der wirk-
lichen Welt auszusprechen. Der Bildner einer idealistischen
Weltanschauung ist in dieser Beziehung in dem Falle des
Mathematikers, der audi nur zu sagen braucht, durch
welche Gedankenoperationen ein Kreis in eine Ellipse und
diese in eine Parabel oder Hyperbel sich verwandelt. Wer
aber eine Erklarung aus Tatsachen anstrebt, miifke die
wirklichen Vorgange aufzeigen, durch die eine solche Ura-
wandlung sich vollziehen konnte. In diesem Falle ist er
Bildner einer realistischen Weltanschauung. Er wird sich
nidit auf den Standpunkt stellen, den Hegel mit den Wor-
ten andeutet: «Es ist eine ungeschickte Vorstellung alterer,
audi neuerer Naturphilosophie gewesen, die Fortbildung
und den Obergang einer Naturform und Sphare in eine
hohere fiir eine 'aufierlich-wirkliche Produktion anzusehen,
die man jedoch, um sie deutlicher zu machen, in das Dun-
kel der Vergangenheit zuriickgelegt hat. Der Natur ist ge-
rade die Aufierlichkeit eigentumlich, die Unterschiede aus-
einanderfallen und sie als gleichgiiltige Existenzen auftre-
ten zu lassen; der dialektische Begriff*, der die Stufen fort-
leitet, ist das Innere derselben. Solcher nebuloser im
Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das
sogenannte Hervorgehen zum Beispiel der Pflanzen und
Tiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der
entwickelteren Tierorganisationen aus den niedrigeren
usw. ist, mu£ sich die denkende Betrachtung entschlagen»
(Hegels Werke, 1847, 7. Band, 1. Abt., S. 33). Einem sol-
chen Ausspruch eines idealistischen Denkers steht der des
realistischen, Lamarcks, gegenuber: «Im ersten Anfang
sind nur die allereinfachsten und niedrigsten Tiere und
Pflanzen entstanden und erst zuletzt diejenigen von der
hochst zusammengesetzten Organisation. Der Entwicke-
lungsgang der Erde und ihrer organischen Bevolkerung
war ganz kontinuierlich, nicht durch gewaltsame Revolu-
tionen unterbrochen. . . . Die einfachsten Tiere und die ein-
fachsten Pflanzen, welche auf der tiefsten Stufe der Orga-
nisationsleiter stehen, sind entstanden und entstehen noch
heute durch Urzeugung (Genera tio spontanea). »
Lamarck hatte audi in Deutsdiland einen Gesinnungs-
genossen. Audi Lorenz Oken (1779 — 18 51) vertrat eine
auf «sinnliche VorstelIungen» gegriindete natiirliche Ent-
wickelung der Lebewesen. « Alles Organische ist aus Schleim
hervorgegangen, ist nichts als verschieden gestalteter
Schleim. Dieser Urschleim ist im Meere im Verfolge der
Planetenentwickelung aus anorganischer Materie entstan-
den.»
Trotz soldi eingreifender Gedankengange mufiten ge-
rade bei Denkern, die in vorsichtiger Weise niemals den
leitenden Fa den der Tatsachenerkenntnis verlassen woll-
ten, Zweifel gegentiber einer naturgemafien Anschauungs-
art bestehen, solange die Zweckmaftigkeit der belebten
Wesen unaufgeklart war. Selbst einem so bahnbrechenden
und richtungweisenden Denker und Forscher wie Johannes
MUller legte die Betrachtung dieser Zweckmafiigkeit die
Idee nahe: «Die organischen Korper unterscheiden sich
nicht bloft von den unorganischen durch die Art ihrer Zu-
sammensetzung aus Elementen, sondern die bestandige
Tatigkeit, welche in der lebenden organischen Materie
wirkt, scharTt audi in den Gesetzen eines verniinftigen
Planes mit Zweckmafiigkeit, indem die Teile zum Zwecke
eines Ganzen angeordnet werden, und dies ist gerade, was
den Organismus auszeichnet» (J. Miillers Handbuch der
Physiologie des Menschen, 3. Aufl., 1838, I, S. 19). Bei
einem Manne wie Johannes Miiller, der sich streng inner-
halb der Grenzen der Naturforschung hielt, und bei dem
dieAnsdiauung von derZweckmafiigkek alsPrivatgedanke
im Hintergrunde seiner Tatsachenforschung blieb, konnte
diese Anschauung allerdings keine besonderen Konsequen-
zen hervorbringen. Er untersuchte streng sachlich die Ge-
setze der Organismen trotz ihres zweckmafiigen Zusam-
menhanges und wurde durch seinen umfassenden Sinn, der
sich in uneingeschranktem Mafie des physikalischen, che-
mischen, anatomischen, zoologischen, mikroskopischen und
embryologisdien Wissens zu bedienen wufke, ein Refor-
mator der modernen Naturlehre. Ihn hinderte seine An-
sicht nicht, die Erkenntnis der seelischen Eigensdiaften der
Wesen auf ihre korperiichen Eigentiimlichkeiten zu stiit-
zen. Eine seiner Grundanschauungen war, dafi man nicht
Psychologe sein konne, ohne Physiologe zu sein. Wer aber
aus den Grenzen der Naturforschung heraus in das Ge-
biet der allgemeinen "Weltanschauung kam, war nicht in
der glucklichen Lage, die Zweckmaftigkeitsidee ohne wei-
teres in den Hintergrund treten zu lassen. Und so scheint
es denn nur zu verstandlich, wenn ein so bedeutender
Denker wie Gustav Theodor Fecbner (i 801 — 1887) in sei-
nem 1852 erschienenen Buch «2end-A vesta oder iiber die
Dinge des Himmels und des Jenseits» den Gedanken aus-
spricht, dafi es in jedem Falle sonderbar sei, zu glauben,
es gehore kein Bewufttsein dazu, bewufke Wesen zu schaf-
fen, wie die Menschen sind, da die unbewuftten Maschinen
doch nur durch den bewuf^ten Menschen geschafTen wer-
den konnen. Hat doch auch Carl Ernst von Baer, der die
Entwickelung des tierischen Wesens bis in ihre Anfangs-
zustande hinauf verfolgt hat, von dem Gedanken nicht
lassen konnen, da£ die Vorgange im lebendigen Korper
bestimmten Zielen zustreben, ja, daft fur die Gesamtheit
der Natur der voile ZweckbegrifT anzuwenden sei. (C. E.
v. Baer, Studien aus dem Gebiete der Naturwissenschaft,
1876, S. 73 und 82.)
Solche Schwierigkeiten, die sich fur gewisse Denker
einem Weltbild entgegenstellen, das seine Elemente nur
aus der sinnenfallig wahrnehmbaren Natur entnehmen
will, bemerkten die materialistisch gesinnten Denker nicht.
Sie strebten danach, dem idealistischen Weltbild der ersten
Jahrhunderthalfte ein solches gegeniiberzustellen, das alles
Licht fiir eine Welterklarung nur aus den Tatsachen der
Natur empfangt. Zu den Erkenntnissen, die auf Grund
dieser Tatsachen gewonnen sind, hatten sie allein Ver-
trauen.
Nichts lafit uns besser als dieses Vertrauen in die Her-
zen der Materialisten schauen. Man hat ihnen vorgewor-
fen, dal5 sie den Dingen die Seele nehmen und damit das-
jenige, was zum Herzen, zum Gemiite des Menschen
spricht. Und scheint es nicht, da£ sie alle das Gemiit er-
hebenden Eigenschaften der Natur dieser rauben und sie
zu einem toten Ding herabwiirdigen, an dem ihr Verstand
nur den Trieb befriedigt, fiir alles die Ursachen zu suchen,
die das menschliche Herz ohne Teilnahme lassen? Scheint
es nicht, als ob sie die iiber die blofien Naturtriebe sich
erhebenden, nach hoheren, rein geistigen Motiven aus-
sdiauende Moral untergraben und die Fahne der tierischen
Triebe entrollen wollten, die sich sagen: Essen und trin-
ken wir, befriedigen wir unsere leiblichen Instinkte, denn
morgen sind wir tot? Lotze (1817-1881) sagt geradezu
von der Zeit, von der hier die Rede ist, ihre Angehorigen
schatzen die Wahrheit der nuchternen Erfahrungserkennt-
nis nach dem Grade der Feindseligkeit, mit welchem sie
alles beleidigte, was das Gemiit fiir unantastbar erachtet.
Man lernt aber in Carl Vogt einen Mann kennen, der
ein tiefes Verstandnis fiir die Schonheiten der Natur hatte
und diese als Dilettant in der Malerei festzuhalten suchte.
Einen Mann, der nicht stumpf war fiir die Geschopfe der
menschlichen Phantasie, sondern in dem Umgang mit Ma-
lern und Dichtern sich wohl fiihlte. Nicht zum wenigsten
scheint es der asthetische Genuft an dem wunderbaren Bau
der organisdien Wesen zu sein, der die Materialisten bei
dem Gedanken zur Begeisterung fortrift, daft die herr-
lichen Phanomene des Korperlichen audi den Seelen ihren
Ursprung geben konnen. Sollten sie sich nicht gesagt ha-
ben: Wieviel mehr Anspruch, als Ursadhe des Geistes zu
gelten, hat der groftartige Bau des menschlichen Gehirnes,
als die abstrakten Begriffswesen, mit denen die Philoso-
phic sich beschaftigt?
Und audi der Vorwurf einer Herabwiirdigung des Sitt-
lidien trifft die Materialisten nicht unbedingt. Mit ihrer
Naturerkenntnis verbanden sich bei ihnen tiefe ethische
Motive. Was Czolbe besonders betont, daft der Naturalis-
mus einen sittlichen Grund hat, empfanden audi andere
Materialisten. Sie wollten dem Menschen die Freude an
dem naturlichen Dasein einpflanzen; sie wollten in ihm
das Gefiihl erwecken, daft er auf der Erde Pflichten und
Aufgaben zu suchen habe. Sie betrachteten es als eine Er-
hohung der menschlichen Wtirde, wenn in dem Menschen
das Bewufttsein wirkt, daft er sich aus untergeordneten
Wesen heraufentwickelt habe zu seiner gegenwartigen
Vollkommenheit. Und sie versprachen sich allein von dem
die richtige Beurteilung der menschlichen Handlungen, der
die naturgemaften Notwendigkeiten kennt, aus denen
heraus die Personlichkek wirksam ist. Sie sagten sich, nur
der vermag einen Menschen nach seinem Werte zu erken-
nen, der weift, daft mit dem StofFe das Leben durch das
Weltall kreist, daft mit dem Leben der Gedanke, mit dem
Gedanken der gute oder bose Wille naturnotwendig ver-
bunden sind. Denjenigen, welche die sittliche Freiheit
durch den Materialismus gefahrdet glauben, antwortet
Moleschott, «daft jeder frei ist, der sich der Naturnotwen-
digkeit seines Daseins, seiner Verhaltnisse, seiner Bediirf-
nisse, Anspriiche und Forderungen, der Schranken und
Tragweite seines Wirkungskreises mit Freude bewufit ist.
Wer diese Naturnotwendigkeit begriffen hat, der kennt
audi sein Recht, Forderungen durchzukampfen, die dem
Bediirfnis der Gattung entspringen. Ja, mehr noch, weil
nur die Freiheit, die mit dem echt Menschlichen im Ein-
klang ist, mit Naturnotwendigkeit von der Gattung ver-
fochten wird, darum ist in jedem Freiheitskampf um
menschliche Gu'ter der endliche Sieg iiber die Unterdriicker
verbiirgt.»
Mit solchen Gefuhlen, mit soldier Hmgabe an die Wun-
der der Naturvorgange, mit solchen sittlichen Empfin-
dungen konnten die Materialisten den Mann erwarten,
der nach ihrer Ansicht iiber kurz oder lang kommen mufi-
te, den Mann, der das grofte Hindernis zu einer natur-
gemafien Weltanschauung uberwand. Dieser Mann er-
schien fur sie in Charles Darwin, und sein Werk, durch
das audi die Zweckmaftigkeitsidee auf den Boden der Na-
turerkenntnis gestellt wurde, ist 1859 erschienen unter
dem Titel: «Die Entstehung der Arten durch natiirliche
Zuchtwahl oder Erhaltung der bevorzugten Rassen im
Kampfe urns Dasein.»
Fiir die Erkenntnis der Impulse, welche in der philo-
sophischen Weltanschauungsentwickelung tatig sind, sind
die als Beispiele erwahnten naturwissenschaftlidien Fort-
schritte (zu denen noch andere hinzugefugt werden konn-
ten) nicht als solche von Bedeutung, sondern die Tatsache,
daE Fortschritte solcher Art zusammenflelen mit der Ent-
stehung des Hegelschen Weltbildes. Es hat die Darstellung
des Entwickelungsganges der Philosophic in den voran-
gegangenen Kapiteln gezeigt, wie das neuere Weltbild seit
den Zeiten des Kopcrnikus, Galilei usw. unter dem Ein-
flusse der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart stand.
Dieser Einflufi konnte aber kein so bedeutsamer sein wie
derjenige von seiten der naturwissensdiaftlichen Errun-
genschaften des neunzehnten Jahrhunderts. An derWende
des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts wurden
auch bedeutsame naturwissenschaftliche Fortschritte ge-
macht. Man denke an die Entdeckung des Sauerstoffes
durch Lavoisier und an diejenigen auf dem Gebiete der
Elektrizitat durch Volta und an vieles andere. Trotzdem
konnten Geister wie Fichte, Schelling, Goethe bei voller
Anerkennung dieser Fortschritte zu einem Weltbilde kom-
men, das vom Geiste ausging. Auf sie konnte die natur-
wissenschaftliche Vorstellungsart noch nicht mit solcher
Macht wirken wie auf die materialistisch gesinnten Den-
ker in der Mitte des Jahrhunderts. Man konnte noch auf
die eine Seite des Weltanschauungsbildes die naturwissen-
schaftlichen Vorstellungen stellen und hatte fur die an-
dere Seite gewisse Vorstellungen, die mehr enthielten als
«blofie Gedanken». Eine solche Vorstellung war zum Bei-
spiel die der «Lebenskraft» oder diejenige des «zweck-
mafiigen Aufbaues» eines Lebewesens. Solche Vorstellun-
gen machten es moglich, zu sagen: In der Welt wirkt et-
was, das nicht unter die gewohnliche Naturgesetzlichkeit
fallt, das geistartig ist. Das ergab eine Vorstellung vom
Geiste, die gewissermafien einen «tatsachlichen Inhalt»
hatte. Hegel hatte nun aus dem Geiste alles «Tatsachliche»
herausgetrieben. Er hatte ihn bis zum «blofien Gedanken»
verdiinnt. Fur diejenigen, fur welche «blofie Gedanken»
nichts sein konnen als Bilder des Tatsachlichen, war damit
durch die Philosophic selbst der Geist in seiner Nichtig-
keit aufgezeigt. Sie muftten an Stelle der «blofien Gedan-
kendinge» Hegels etwas setzen, das fur sie einen wirk-
lidien Inhalt hat. Deshalb such ten sie fur die «geistigen
Erscheinungen» den Ursprung in den materiellen Vor-
gangen, die man «als Tatsachen» sinnlich beobachten kann.
Die Weltanschauung wurde durch das, was Hegel aus
dem Geiste gemacht hatte, zu dem Gedanken an den mate-
riellen Ursprung des Geistes hingedrangt.
Wer einsieht, dafi in dem geschichtlichen Verlauf der
Menschheitsentwickelung tiefere Krafte als die an der
Oberflache erscheinenden mitwirken, der wird etwas fiir
die Weltanschauungsentwickelung Bedeutsames flnden in
der Art, wie der Materialismus des neunzehnten Jahrhun-
derts zum Entstehen der Hegelschen Philosophic steht. -
In Goethes Gedanken lagen Keime fiir einen Fortgang der
Philosophic, die von Hegel nur mangelhaft aufgegriffen
worden sind. Wenn Goethe von der «Urpflanze» eine
solche Vorstellung zu gewinnen suchte, daft er mit dieser
Vorstellung innerlich leben und aus ihr gedanklich solche
speziellen Pflanzengebilde hervorgehen lassen konnte, die
lebensmoglich sind, so zeigt er, daft er nach einem Leben-
digwerden der Gedanken in der Seele strebt. Er stand vor
dem Eintritt des Gedankens in eine lebendige Entwicke-
iung dieses Gedankens, wahrend Hegel bei dem Gedan-
ken stehen blieb. In dem seelischen Zusammensein mit
dem lebendig gewordenen Gedanken, wie es Goethe an-
strebte, hatte man ein geistiges Erlebnis gehabt, das den
Geist auch im Stoffe hatte anerkennen konnen; in dem
«bloften Gedanken» hatte man ein solches nicht. So war
die Weltentwickelung vor eine harte Probe gestellt. Nach
den tieferen geschichtlichen Impulsen drangte die neue Zeit
dazu, nicht nur den Gedanken zu erleben, sondern fiir das
selbstbewuftte Ich eine Vorstellung zu flnden, durch die
man sagen konnte: Dieses Ich stent fest im Weltengefuge
darinnen. Dadurch, dafi man es als Ergebnis stofflicher
Vorgange dachte, hatte man dies in einer der Zeitbildung
verstandlichen Art erreicht. Audi in der Verleugnung der
geistigen Wesenheit des selbstbewufiten Ich durch den Ma-
terialismus des neunzehnten Jahrhunderts liegt noch der
Impuls des Suchens nach dem Wesen dieses Ich. Deshalb
gehort der naturwissenschaftliche Anstofi, der in diesem
Zeitalter auf die Weltanschauung ausgevibt wurde, in ganz
anderem Sinne in deren Geschichte als die Einflusse der
naturwissenschaftlichen Vorstellungsart auf vorangegan-
gene materialistische Stromungen. Diese waren noch nicht
von einer Hegelschen Gedankenphilosophie gedrangt wor-
den, nach einer Sicherheit von den Naturwissenschaften
her zu suchen. Dieses Drangen spielt sich nun allerdings
nicht so ab, daft es mit voller Klarheit den fuhrenden Per-
sonlichkeiten zum Bewufitsein kommt; allein es wirkt als
Zeitimpuls in den unterbewulken Seelengriinden.
DARWIN1SMUS UND WELTANSCHAUUNG
Sollte der Zweckmafiigkeitsgedanke eine Reform im Sinne
einer naturgemafien Weltanschauung erfahren, so mulken
die zweckmafiigen Gebilde der belebten Natur in dersel-
ben Art erklart werden, wie der Physiker, der Chemiker
die unbelebten Vorgange erklaren. Wenn ein Magnetstab
Eisenspane an sich zieht, so denkt kein Physiker daran,
dafi in dem Stab eine auf das Ziel, den Zweck des An-
ziehens hinarbeitende Kraft wirke. Wenn WasserstofF und
SauerstofF zu Wasser sich verbinden, so deutet das der
Chemiker nicht so, als wenn in den beiden Materien et-
was wirkte, dem der Zweck der Wasserbildung vor-
schwebt. Eine von eben solcher naturgemafien Sinnesart
beherrschte Erklarung der Lebewesen mufi sich sagen: Die
Organismen werden zweckmafiig, ohne dafi etwas in der
Natur auf diese Zweckmafiigkeit abzielt. Die Zweck-
mafiigkeit entsteht, ohne dafi sie irgendwo als solche ver
anlagt ware. Eine solche Erklarung des Zweckmaftigen hat
Charles Darwin gegeben. Er stellte sich auf den Stand-
punkt, anzuerkennen, dafi nichts in der Natur das Zweck-
mafiige will. Es kommt fiir die Natur gar nicht in Be-
tracht, ob das, was in ihr entsteht, zweckmaftig ist oder
nicht. Sie brmgt also wahllos das Unzweckmaftige und
das ZweckmafSige hervor.
Was ist iiberhaupt zweckma#ig? Doch das, was so ein-
gerichtet ist, da$ seinen Bediirfnissen, seinen Lebensbedin-
gungen die aufteren Verhaltnisse des Daseins entsprechen.
Unzweckma&g dagegen ist, bei dem solches nicht der Fall
ist. Was wird geschehen, wenn bei der vollstandigen Plan-
losigkeit der Natur von dem Zweckmaftigsten bis zu dem
Unzweckmafiigsten alle Grade von mehr oder minder
Zweckmafiigem entstehen? Jedes Wesen wird sudien, sein
Dasein in Gemaftheit der gegebenen Verhaltnisse zu ge-
stalten. Dem Zweckmafiigen gelingt das ohne weiteres,
dem mehr oder weniger Zweckmafiigen nur in geringem
Grade. Nun kommt eines hinzu: die Natur 1st keine spar-
same Wirtin in bezug auf die Hervorbringung der Lebe-
wesen. Die Zahl der Keime ist eine ungeheure. Dieser
Oberfiille in der Produktion der Keime stent nur ein be-
schranktes Mafi der Mittel des Lebens gegeniiber. Die
Folge wird sein, dafi diejenigen Wesen ein leichteres Spiel
fiir ihre Entwickelung haben, die zweckmafiiger fiir die
Aneignung der Lebensmittel gebildet sind. Strebt ein
zweckrnafiiger eingeriditetes neben einem unzweckma£iger
eingeriditeten Wesen nach Erhaltung seines Daseins, so
wird das Zweckmaftigere dem Unzweckmaftigeren den
Rang ablaufen. Das Letzte mufi neben dem Ersten zu-
grunde gehen. Das Tiichtige, das heiftt das Zweckmafiige,
erhalt sich, das Untiichtige, das heifk das Unzweckmafiige,
erhalt sidi nicht. Das ist der «Kampf urns Dasein». Er be-
wirkt, daf$ Zweckmafiiges sich erhalt, auch wenn in der
Natur wahllos das UnzweckmaEige neben dem Zweck-
mafiigen entsteht. Durch ein Gesetz, das so objektiv, so
weisheitlos ist, wie nur ein mathematisches oder mechani-
sches Naturgesetz sein kann, erhalt der Gang der Natur-
entwickelung die Tendenz zur Zweckmaftigkeit, ohne dafi
diese Tendenz irgendwie in die Natur gelegt ware.
Darwin wurde auf diesen Gedanken durch das Werk
des Nationalokonomen Malthus gefiihrt «t)ber die Bedin-
gungen und die Folgen der Volksvermehrung». In diesem
ist ausgefiihrt, dafi innerhalb der menschlichen Gesell-
schaft ein unaufhorlicher Wettkampf stattfindet, weil die
Bevdlkerung in viel rascherem Ma6e wiichst als die Nah-
rungsmittelmenge. Dieses hier fur die Menschheitsgeschich-
te aufgestellte Gesetz verallgemeinerte Darwin zu einem
umfassenden Gesetz der ganzen Lebewelt.
Darwin wollte nun zeigen, wie dieser Kampf urns Da-
sein zum Schopfer der mannigfaltigen Formen lebender
Wesen wird, wie durdi ihn der alte Linnesche Grundsatz
umgestoften wird, daft wir «Spezies im Tier- und Pflan-
zenreich so viele zahlen, als verschiedene Formen im Prin-
zip geschafFen sind». Die Zweifel an diesem Grundsatz
bildeten sich bei Darwin klar aus, als er sich im Sommer
1835 auf einer Reise nach Siidamerika und Australien be-
fand. Er teilt mit, wie diese Zweifel bei ihm sich fest-
setzten: «Als ich wahrend der Fahrt des Beagle den Gala-
pagosarchipel, der im Stillen Ozean etwa fiinfhundert
englische Meilen von der siidamerikanischen Kiiste ent-
fernt liegt, besuchte, sah ich mich von eigentumlichen Ar-
ten von Vogeln, Reptilien und Schlangen umgeben, die
sonst nirgends in der Welt existieren. Doch trugen sie fast
alle amerikanisches Geprage an sich. Im Gesang der Spott-
drossel, in dem scharfen Geschrei des Aasgeiers, in den
grofien, leuchterahnlichen Opuntien bemerkte ich deutlich
die Nachbarschaft mit Amerika; und doch waren diese
Inseln durch so viele Meilen vom Festlande entfernt und
wichen in ihrer geologischen Konstitution, in ihrem Klima
weit von ihm ab. Noch iiberraschender war die Tatsache,
daft die meisten Bewohner jeder einzelnen Insel dieses
kleinen Archipels spezifisch verschieden waren, wenn auch
untereinander nahe verwandt. Ich habe mich damals oft
gefragt, wie diese eigentumlichen Tiere und Menschen
entstanden seien. Die einfachste Art schien zu sein, daft
die Bewohner der verschiedenen Inseln voneinander ab-
stammen und im Verlauf ihrer Abstammung Modifikatio-
nen erlitten hatten, und daft alle Bewohner des Archipels
von denen des nachsten Festlandes, namlich Amerika, von
welchem die Kolonisation naturlich herriihren wiirde, ab-
stammen. Es blieb mir aber lange ein unerklarliches Pro-
blem, wie der notwendige Modifikationsgrad erreidit wor-
den sein konne.» In der Antwort auf dieses Wie liegt die
naturgemafie AufTassung der Entwickelung des Lebendi-
gen. Wie der Physiker einen Stoff in verschiedene Ver-
haltnisse bringt, um seine Eigenschaften kennen zu lernen,
so beobachtete Darwin nach seiner Heimkehr die Erschei-
nungen, die sidi am lebendigen Wesen in versdiiedenen
Verhaltnissen ergeben. Er machte Zuchtungsversuche mit
Tauben, Hiihnern, Hunden,Kaninchen undKulturgewadi-
sen. Durch sie zeigte sich, wie die lebenden Formen im
Verlaufe ihrer Fortpflanzung sidi fortwahrend verandern.
In gewissen Verhaltnissen verandern sidi gewisse Lebe-
wesen nadi wenigen Generationen so, daft man, falls man
die neuentstandenen Formen mit ihren Ahnen vergleicht,
von zwei ganz versdiiedenen Spezies spredien konnte, von
denen jede nadi einem eigenen Organisationsplan sidi
riditet. Solche Veranderlidikeit der Formen benutzt der
Ziichter, um Kulturorganismen zur Entwickelung zu brin-
gen, die gewissen Absichten entsprechen. Er kann eine
Schafsorte mit besonders feiner Wolle ziiditen, wenn er
nur diejenigen Individuen seiner Herde sich fortpflanzen
lafit, die die feinste Wolle haben. Innerhalb der Nach-
kommenschaft sucht er wieder die Individuen heraus, die
mit der feinsten Wolle ausgestattet sind. Die Feinheit der
Wolle steigert sich dann im Laufe der Generationen. Man
erlangt nach einiger Zeit eine Schafspezies, die in der Bil-
dung der Wolle sich sehr weit von ihren Vorfahren ent-
fernt. Ein Gleiches ist bei anderen Eigenschaften der Lebe-
wesen der Fall. Es folgt zweierlei aus dieser Tatsache*
Einmal, dafi in der Natur die Tendenz liegt, die Lebe-
wesen zu wandeln; und dann, dafi eine Eigenschaft, die
nadi einer gewissen Richtung sich zu wandeln angefangen
hat, sich nach dieser Richtung steigert, wenn bei der Fort-
pflanzung der Lebewesen diejenigen Individuen fern-
gehalten werden, welche diese Eigenschaft noch nicht ha-
ben. Die organischen Formen nehmen also im Laufe der
Zeit andere Eigenschaften an und halten sich in der Rich-
tung ihrer einmal eingeschlagenen Verwandlung. Sie ver-
wandeln sich und vererben gewandelte Eigenschaften auf
ihre Nachkommen.
Die naturliche Folgerung aus dieser Beobachtung ist,
dafi Wandlung und Vererbung zwei in der Entwickelung
der Lebewesen treibende Prinzipien sind. Nimmt man
nun an, dafi in naturgemafier Weise in der Welt die "We-
sen sich so wandeln, dafi Zweckmafiiges neben Unzweck-
mafiigem und mehr oder minder Zweckmafiigem entsteht,
so mufi man audi einen Kampf der mannigfaltigen ge-
wandelten Formen voraussetzen. Dieser Kampf bewirkt
planlos, was der Zuchter planvoll macht. Wie dieser die-
jenigen Individuen von der Fortpflanzung ausschliefit, die
in die Entwickelung dasjenige hineinbringen wiirden, was
er nicht will, so beseitigt der Kampf urns Dasein das Un-
zweckmafiige. Es bleibt nur das Zweckmafiige fur die
Entwickelung. In diese wird dadurch, wie ein mechanisches
Gesetz, die Tendenz zur steten Vervollkommnung gelegt.
Darwin durfte, nachdem er dieses erkannt und damit der
naturgemafien Weltanschauung ein sicheres Fundament
gelegt hatte, an das Ende seines eine neue Epoche des Den-
kens einleitenden Werkes «Die Entstehung der Arten»
die enthusiastischen Worte setzen: «Aus dem Kampf der
Natur, aus Hunger und Tod geht daher das Hochste, was
wir zu erfassen vermogen, die Produktion der hoherenTiere
direkt hervor. Es Hegt etwas Grofiartiges in dieser Ansicht
vom Leben, wonadi es mit alien seinen versdiiedenen
Kraften von dem Schopfer aus wenig Formen, oder viel-
leicht nur einer, urspriinglich erschaffen wurde; und dafi,
wahrend dieser Planet gemafi den bestimmten Gesetzen der
Schwerkraft im Kreise sich bewegt, aus einem so schlich-
ten Anfang eine endlose Zahl der schonsten und wunder-
vollsten Formen entwickelt wurden und nodi entwickelt
werden.» Zugleich ist aus diesem Satze zu ersehen, dafi
Darwin nicht durch irgendwelche antireligiose Empfin-
dungen, sondern allein aus den Folgerungen heraus, die
sich ihm aus den deutlich sprechenden Tatsachen ergeben
haben, zu seiner Anschauung gelangt ist. Bei ihm war es
gewifi nicht der Fall, dafi Feindseligkeit gegen die Be-
diirfnisse des Gefiihls ihn zu einer verniinftigen Natur-
ansicht bestimmte, denn er sagt uns in seinem Buche deut-
lich, wie die gewonnene Ideenwelt zu seinem Herzen
spricht: «Sehr hervorragende Schriftsteller scheinen von
der Ansicht, dafi jede der Arten unabhangig erschaffen
wurde, vollig befriedigt zu sein. Meiner Meinung nach
stimmt es besser mit den, soweit wir es wissen, der Materie
vom Schopfer eingepragten Gesetzen uberein, dafi das
Hervorbringen und Erloschen der friiheren und jetzigen
Bewohner der Erde, ebenso wie die Bestimmungen iiber
Geburt und Tod eines Individuums, von sekundaren Ur-
sachen abhangig sind. Betrachte ich alle Wesen nicht als
Sonderschopfungen, sondern als lineare Abkommlinge
einiger weniger Wesen, die schon lange, bevor die jiinge-
ren geologischen Schichten abgelagert waren, lebten, so
scheinen sie mir dadurch veredelt zu sein . . . Wir diirfen
vertrauensvoll einer Zukunft von grower Lange entgegen-
sehen. Und da die naturliche Zuchtwahl nur durch und
fur das Gute jedes Wesens wirkt, so werden alle korper-
lidien und geistigen Begabungen der Vollkommenheit zu-
streben.»
An einer Fiille von Tatsachen zeigte Darwin, wie die
Organismen wachsen und sich fortpflanzen, wie sie im
Verlaufe ihrer Fortentwickelung einmal angenommene
Eigenschaften vererben, wie neue Organe entstehen und
sich durch Gebrauch oder Nichtgebrauch wandeln, wie sich
also die Geschopfe an ihre Daseinsbedingungen anpassen;
und endlich wie der Kampf urns Dasein eine naturliche
Auswahl (Zuchtwahl) trifft, wodurch mannigfaltige, im-
mer vollkommenere Formen entstehen,
Damit scheint eine Erklarung zweckmafiiger Wesen ge-
funden, die es nicht notig macht, in der organischen Natur
anders zu verfahren als in der unorganischen. Solange
man eine solche Erklarung nicht geben konnte, mufke
man, wenn man folgerichtig sein wollte, zugeben, daft
iiberall da, wo innerhalb der Natur ein Zweckmaftiges
entsteht, eine der Natur fremde Macht eingreift. Damit
war im Grunde fiir jeden solchen Fall ein Wunder zu-
gegeben.
Diejenigen, die sich jahrzehntelang vor dem Erscheinen
des Darwinschen Werkes um eine naturgemafie Welt- und
Lebensansicht bemiihten, empfanden nunmehr in der aller-
lebhaftesten Weise, dafi eine neue Richtung des Denkens
gegeben war. Eine solche Empfindung hat 1872 David
Friedrich Straufi in seinem «Alten und neuen Glauben»
mit den Worten zum Ausdruck gebracht: «Man sieht, da-
hin . . . mufi es gehen, wo die Fahnlein lustig im Winde
flattern. Ja lustig, und zwar im Sinne der reinsten er*
habensten Geistesfreude. Wir Philosophen und kritischert
Theologen haben gut reden gehabt, wenn wir das Wun-
der in Abgang dekretierten; unser Machtspruch verhallte
ohne Wirkung, weil wir es nicht entbehrlich zu machen,
keine Naturkraft nachzuweisen wufiten, die es an den
Stellen, wo es bisher am meisten fur unerlafilich gait, er-
setzen konnte. Darwin hat diese Naturkraft, dieses Na-
turverfahren nachgewiesen, er hat die Tiir geoffnet, durch
welche eine gliicklidiere Nachwelt das Wunder auf Nim-
merwiederkehr hinauswerfen wlrd. Jeder, der weift, was
am Wunder hangt, wird ihn dafiir als einen der grofiten
Wohltater des menschlichen Geschledits preisen.»
Durch Darwins Zweckma£igkeitsidee ist es moglich, den
Begriff der Entwickelung wirklich in naturgesetzlicher
Weise zu denken. Der alten Einschachtelungslehre, die an-
nimmt, da£ alles, was entsteht, in verborgener Form schon
friiher vorhanden war (vgl. Seite 286 des ersten Bandes
dieses Buches), waren damit ihre letzten Hoffnungen ge-
raubt. Innerhalb eines im Sinne Darwins gedachten Ent-
wickelungsvorgangs ist das Vollkommene in keiner Weise
in dem Unvollkommenen schon enthalten. Denn die Voll-
kommenheit eines hoheren "Wesens entsteht durch Vor-
gange, die mit den Vorfahren dieses Wesens schlechter-
dings gar nichts zu tun haben. Man denke: eine gewisse
Entwickelungsreihe sei bei den Beuteltieren angelangt. In
der Form der Beuteltiere liegt nichts, rein gar nichts von
einer hoheren, vollkommeneren Form. Es liegt in ihr nur
die Fahlgkeit, sich im weiteren Verlaufe ihrer Fortpflan-
zung wahllos zu verwandeln. Es treten nun Verhaltnisse
ein, die von jeder «inneren» Entwickelungsanlage der
Beuteltierform unabhangig sind, die aber solche sind, dafi
sich von alien moglichen Wandelformen aus den Beutel-
tieren die Halbaffen erhalten. Es war in der Beuteltier-
form so wenig die Halbaffenform enthalten, wie in der
Richtung einer rollenden Billardkugel der Weg enthalten
ist, den sie einschlagt, nadidem sie von einer zweiten Ku-
gel gestofien worden ist.
Denen, die an eine idealistische Denkweise gewohnt wa-
ren, wurde die Auffassung dieses reformierten Entwicke-
lungsbegriffes nicht leicht. Der aus Hegels Sdbule hervor-
gegangene, aufierst scharfsinnige und feine Geist Friedricb
Theodor Vischer schreibt noch 1874 in einem Aufsatze:
«Entwickelung ist ein Herauswickeln aus einem Keime,
welches von Versuch zu Versuch fortschreitet, bis das Bild,
das als Moglichkeit im Keime lag, wirklich geworden ist,
dann aber stillstehend die gefundene Form als bleibende
festhalt. Oberhaupt jeder Begriff kommt ins Schwanken,
wenn wir die Typen, die nun seit so vielen Jahrtausenden
auf unserem Planeten bestehen, und vor allem, wenn wir
unseren eigenen Menschentypus fur immer noch verander-
lich halten sollen. Wir konnen dann unseren Gedanken,
ja unseren Denkgesetzen, unseren Gefuhlen, den Ideal-
bildern unserer Phantasie, die doch nichts anderes sind als
lauternde Nachbildungen von Formen der uns bekannten
Natur: wir konnen keinem dieser festen Halte unserer
Seele mehr trauen. Alles ist in Frage gestellt.» Und an
einer anderen Stelle desselben Aufsatzes lesen wir: «Es
wird mir zum Beispiel immer noch etwas schwer, zu glau-
ben, daft man das Auge vom Sehen, das Ohr vom Horen
bekomme. Das ungemeine Gewicht, das auf die Zucht-
wahl gelegt wird, will mir audi nicht einleuchten.»
"Wenn Vischer gefragt worden ware, ob er sich vorstellt,
da£ im Wasserstoff und Sauerstoff ein Bild des Wassers
im Keime liege, damit dieses sich aus ihnen herausent-
wickeln konne, so wiirde er ohne Zweifel geantwortet
haben: Nein; weder im Sauerstoff noch im Wasserstoff
liegt etwas vom Wasser; die Bedingungen zur Entstehung
dieses Stoffes sind erst in dem Augenblicke vorhanden, in
dem Wasserstoff und Sauerstoff unter gewissen Verhalt-
nissen zusammentreten. Braucht es nun anders zu sein,
wenn aus dem Zusammenwirken der Beuteltiere mit den
aufieren Daseinsbedingungen die Halbaffen entstehen?
Warum sollen die Halbaffen sdion als Moglichkeit, als
Bild in den Beuteltieren verborgen liegen, damit sie sidi
aus ihnen herausentwickeln konnen? Was durch Entwicke-
lung entsteht, entsteht neu, ohne dafi es vorher in irgend-
einer Form vorhanden gewesen ist.
Besonnene Naturforscher empfanden das Gewicht der
neuen Zweckmafiigkeitslehre nicht weniger als Denker wie
Straufi. Ohne Zweifel gehort Hermann Helmholtz zu
denen, die in den fiinfziger und sechziger Jahren als Re-
prasentanten soldier besonnenen Naturforscher gelten
konnten. Er betont, wie die wunderbare und vor der
wachsenden Wissenschaft immer reicher sich entfaltende
Zweckmaftigkeit im Aufbau und in den Verrichtungen der
Lebewesen geradezu herausfordert, die Lebensvorgange
mit menschlichen Handlungen zu vergleichen. Denn diese
sind die einzige Reihe von Erscheinungen, die einen ahn-
lichen Charakter wie die organischen Phanomene tragen.
Ja, die zweckmafiigen Einrichtungen in der Organismen-
welt ubersteigen fiir unser Beurteilungsvermogen zumeist
das weit, was menschliche Intelligenz zu schaffen vermag.
Es ist also nicht zu verwundern, wenn man darauf ver-
f alien ist, Bau und Tatigkeit der Lebewelt auf eine der
menschlichen weit uberlegene Intelligenz zuruckzufuhren.
«Man wufite daher» - sagt Helmholtz - «vor Darwin nur
zwei Erklarungen der organischen Zweckmaftigkeit zu
geben, welche aber beide auf Eingriffe freier Intelligenz
in den Ablauf der Naturprozesse zuriickfiihrten. Ent-
weder betrachtete man, der vitalistischen Theorie gemaft,
die Lebensprozesse als fortdauernd geleitet durch eine
Lebensseele; oder man griff fur jede lebende Spezies auf
einen Akt iibernatiirlicher Intelligenz zuriick, durch die
sie entstanden sein sollte. . , . Darwins Theorie enthalt
einen wesentlich neuen schopferischen Gedanken. Sie
zeigt, wie ZweckmaEigkeit der Bildung in den Orga-
nismen auch ohne alle Einmischung von Intelligenz durch
das blinde Walten eines Naturgesetzes entstehen kann.
Es ist dies das Gesetz der Forterbung der individuellen
Eigentiimlichkeiten von den El tern auf die Nachkommen;
ein Gesetz, das langst bekannt und anerkannt war und
nur eine bestimmte Abgrenzung zu erhalten brauchte.»
Helmholtz ist nun der Ansicht, daft durch das Prinzip der
natiirlichen Zuchtwahl im Kampf urns Daseih eine solche
Abgrenzung des Gesetzes gegeben worden sei.
Und ein Forscher, der nicht weniger als Helmholtz zu
den vorsichtigsten gehorte, /. Henle, fiihrt in einem Vor-
\rag aus: «Sollten die Erfahrungen der kunstlichcn Ziich-
tung auf die Oken-Lamarcksche Hypothese Anwendung
finden, so muftte gezeigt werden, wie die Natur es an-
fangt, um von sich aus die Veranstaltungen zu treffen,
mittels deren der Experimentator sein Ziel erreicht. Dies
ist die Aufgabe, welche Darwin sich gestellt und mit be-
wundernswertem Eifer und Scharfsinn verfolgt hat.»
Die grofite Begeisterung unter alien empfanden die Ma-
terialisten iiber Darwins Tat. Ihnen war ja langst klar,
daft ein soldier Mann iiber kurz oder lang kommen mufi-
te, der das aufgehaufte, nach einem leitenden Gedanken
drangendeTatsachengebiet philosophisch beleuchtete. Nach
ihrer Meinung konnte, nadi Darwins Entdeckung, der
Weltanschauung, fur die sie sich eingesetzt hatten, der
Sieg nicht ausbleiben.
Darwin ist als Naturforscher an seine Aufgabe heran-
getreten. Er hat sich zunachst innerhalb der Grenzen eines
sokhen gehalten. Dafi seine Gedanken auf die Grundfra-
gen der Weltanschauung, auf das Verhaltnis des Menschen
zur Natur, ein helles Licht werfen konnen, das wird in
seinem grundlegenden Buch nur gestreift: «In der Zukunft
sehe ich ein offenes Feld fiir weit wichtigere Forschungen.
Die Psychologie wird sich sicherlich auf . . . die Grund-
lage stiitzen: die Notwendigkeit, jede geistige Kraft und
Fahigkeit stufenweise zu erwerben. Viel Licht mag auch
nodi iiber den Ursprung des Menschen und seine Geschich-
te verbreitet werden.» Diese Frage nach dem Ursprung
des Menschen wurde den Materialisten, nach Biichners
Ausdruck, geradezu zur Herzensangelegenheit. Er sagte
in den Vorlesungen, die er in dem Winter 1866/67 m
Offenbach hielt: «Muft die Umwandlungstheorie auch auf
unser eigenes Geschlecht, auf den Menschen oder auf uns
selbst angewendet werden? Mussen wir uns gefallen las-
sen, daft dieselben Prinzipien oder Regeln, welche die iibri-
gen Organismen in das Leben gerufen haben, auch fiir
unsere eigene Entstehung und Herkunft gel ten sollen?
Oder machen wir - die Herren der Schopfung - eine Aus-
nahme?»
Die Naturwissenschaft lehrte deutlich, daft der Mensch
keine Ausnahme machen konne. Auf Grund genauer ana-
tomischer Untersuchungen konnte der englische Natur-
forscher Huxley 1863 in seinen «Zeugnissen fiir die Stel-
lung des Menschen in der Natur » den Satz aussprechen:
«Die kritisdie Vergleichung aller Organe und ihrer Modi-
fikationen innerhalb der Affenreihe fiihrt uns zu diesem
einen und demselben Resultate, dafi die anatomischen Ver-
schiedenheiten, weldie den Mensdien vom Gorilla und
Sdiimpansen trennen, nicht so grofi sind, als die Unter-
schiede, welche diese Menschenaffen von den niedrigeren
AfTenarten scheiden.» Konnte man solchen Tatsadien ge-
geniiber nodi zweifeln, dafi die naturgemafie Entwicke-
lung, die durch Wachstum und Fortpflanzung, durch Erb-
lidikeit, Veranderlichkeit der Formen und Kampf urns
Dasein die Reihe der organischen Wesen bis zum Affen
herauf hat entstehen lassen, zuletzt auf dem ganz gleichen
Wege audi den Mensdien erzeugt hat?
Die Grundanschauung drang eben im Laufe des Jahr-
hunderts immer tiefer ein in den Bestand der naturwissen-
schaftlidien Erkenntnisse, von der Goethe - allerdings auf
seine Art - durchdrungen war, und wegen weldier er mit
aller Energie daran ging, die Meinung seiner Zeitgenos-
sen zu berichtigen, daft dem Mensdien in der oberen Kinn-
lade ein sogenannter Zwischenkieferknochen fehle. Alle
Tiere sollen diesen Knodien haben, nur der Mensch nidit,
dadite man. Und darin sah man den Beweis, dafi der
Mensch anatomi-sch von den Tieren sidi unterscheide, dafi
er, seinem Bauplan nach, anders gedacht sei. Die natur-
gemafte Denkart Goethes forderte von ihm, dafi er zur
HinwegscharTung dieses Irrtums emsige anatomisdie Stu-
dien betrieb. Und als ihm sein Ziel gelungen war, schneb
er im Voligefuhl davon, dafi er etwas getan, was der Er-
kenntnis der Natur im hochsten Mafie forderlich sei, an
Herder: «Idi verglidi . . . Mensdien- und Tierschadel, kam
auf die Spur, und siehe, da ist es! Nun bitt' ich didi, lafi
didi nichts merken; denn es mufi geheim behandelt wer-
den. Es soil dich audi redit herzlich freuen; denn es ist wie
der Schlufistein zum Mensdien, fehlt nidit, ist audi da!
Aber wie!»
Unter dem Einflusse soldier Vorstellungen wurde die
grofSe Weltanschauungsfrage nadi dem Verhaltnis des
Mensdien zu sidi selbst und zur Aufienwelt zu der Auf-
gabe, auf naturwissenschaftlichem Wege zu zeigen, wel-
ches die tatsachlichen Vorgange sind, die im Laufe der
Entwidtelung zur Bildung des Mensdien gefiihrt haben.
Damit anderte sidi der Gesiditspunkt, von dem aus man
die Naturerscheinungen zu erklaren sudite. Solange man
in jedem Organismus, und damit audi im Mensdien, einen
zweckmafiigen Bauplan verwirklicht sah, mufite man bei
der Erklarung der Wesen diesen Zweck ins Auge fassen.
Man mufite eben darauf Bedadit nehmen, dafi im Embryo
sich der spatere Organismus in der Anlage vorher verkiin-
digt. Aufs ganze Weltall ausgedehnt, bedeutete dies, dafi
diejenige Naturerklarung ihre Aufgabe am besten erfulle,
die zeigt, wie die Natur auf den friiheren Stufen ihrer Ent-
wickelung sich darauf vorbereitet, die spateren, und, auf
dem Gipfel, den Mensdien zu erzeugen.
Die moderne Entwickelungsidee verwarf alle Neigung
der Erkenntnis, in dem Friiheren bereits das Spatere zu
sehen. Fur sie war ja in keiner Weise das Spatere im Frii-
heren enthalten. Dagegen bildete sidi in ihr immer mehr
der Grundsatz aus, in dem Spateren das Friihere zu su-
chen. Dieser Grundsatz bildete ja ein Bestandstiick des
Prinzips der Vererbung. Man darf geradezu von einer
Umkehrung der Richtung des Erklarungsbediirfnisses spre-
chen. "Wichtig wurde diese Umkehrung fur die Ausbildung
der Gedanken liber die Entwickelung des einzelnen orga-
nischen Individuums vom Ei bis zum reifen Zustande, fiir
die sogenannte Keimesgeschidite (Ontogenie). Statt sich
vorzuhalten, dafi sich im Embryo die spateren Organe
vorbereiten, ging man daran, die Formen, die der Orga-
nismus im Laufe seiner individuellen Entwickelung vom
Ei bis zur Reif e annimmt, mit anderen Organismenformen
zu vergleichen. Schon Lorenz Oken verfolgte eine solche
Spur. Er schrieb im vierten Band seiner «AlIgemeinen Na-
turgeschichte fiir alle Stande» (S. 468): «Ich bin durdi
meine physiologischen Untersudiungen schon vor einer
Reihe von Jahren auf die Ansicht gekommen, dafi die
Entwickelungszustande des Kuchelchens im Ei Ahnlichkeit
haben mit den verschiedenen Tierklassen, so daft es an-
fangs gieichsam nur die Organe der Infusorien besitze,
dann allmahlich die der Polypen, Quallen, Muscheln,
Sdinedken usw. erhalte. Umgekehrt mufke icb dann audi
die Tierklassen als Entwickelungsstufen betrachten, wel-
die denen des Kuchelchens parallel gingen. Diese Ansicht
von der Natur forderte die genaueste Vergleichung der-
jenigen* Organe, welche in einer jeden hoheren Tierklasse
neu zu den andern hinzukommen, und ebenso derjenigen,
welche im Kuchelchen sich wahrend des Briitens nachein-
ander entwickeln. Ein vollkommener Parallelismus ist
natiirlich nicht so leicht bei einem so schwierigen und noch
lange nicht hinlanglich beobachteten Gegenstande herzu-
stellen. Zu beweisen aber, dafi er wirklich vorhanden sei,
ist in der Tat nicht schwer: dieses zeigt am deutlichsten
die Verwandlung der Insekten, welche nichts weiter ist,
als eine Entwickelung der Jungen, die aufierhalb dem Ei
vor unsern Augen vorgeht, und zwar so langsam, dafi wir
jeden embryonischen Zustand mit Mufie betrachten und
untersuchen konnen.» Oken vergleicht die Verwandlungs-
zustande der Insekten mit anderen Tieren und findet, dafi
die Raupen die groike Ahnlichkeit mit den Wiirmern ha-
ben, die Puppen mit den Krebsen. Aus soldien Ahnlich-
keiten schliefk der geniale Denker: «Es ist daher kein
Zweifel, dafi hier eine auffallende Ahnlichkeit besteht,
welche die Idee reditfertigt, dafi die Entwicklungsgesdiich-
te im Ei nidits anderes sei, als eine Wiederholung der
Schopfungsgeschichte der Tierklassen.» Es lag in der Na-
tur dieses geistvollen Mannes, eine grofie Idee auf Grund
eines gliicklidien Apercus zu ahnen. Er braudite zu einer
soldien Ahnung nidit einmal die entsprechend vollrichti-
gen Tatsachen. Aber es liegt audi in der Natur soldier ge-
ahnten Ideen, dafi sie auf die Arbeiter im Felde der Wis-
sensdiaft keinen grofien Eindruck machen. Wie ein Komet
blitzt Oken am deutsdien Weltanschauungshimmel auf.
Eine Fiille von Licht entwickelt er. Aus einem reichen
Ideenbesitz heraus gibt er Leitbegriffe fiir die verschieden-
sten Tatsadiengebiete. Doch hatte die Art, wie er sich Tat-
sachenzusammenhange zurechtlegte, zumeist etwas Ge-
waltsames. Er arbeitete auf die Pointe los. Das war audi
bei dem oben genannten Gesetze der "Wiederholung ge-
wisser Tierformen in der Keimentwickelung anderer der
Fall.
Im Gegensatz zu Oken hielt sidi Carl Ernst von Baer
moglichst an das rein Tatsachliche, als er 1828 in seiner
«Entwickelungsgeschichte der Tiere» von dem sprach, was
Oken zu seiner Idee gefiihrt hat. «Die Embryonen der
Saugetiere, Vogel, Eidechsen und Schlangen, wahrscheinlich
auch der Schildkroten, sind in fruheren Zustanden ein-
ander ungemein ahnlich im Ganzen sowie in der Entwicke-
lung der einzelnen Teile; so ahnlidi, dafi man oft die Em-
bryonen nur nach der Grofie unterscheiden kann. Idi be-
sitze zwei kleine Embryonen in Weingeist, fiir die ich ver-
saumt habe, die Namen zu notieren; und ich bin jetzt
durchaus nidit imstande, die Klasse zu bestimmen, der sie
angehoren. Es konnen Eidedisen, kleine Vogel oder ganz
junge Saugetiere sein. So Ubereinstimmend ist Kopf- und
Rumpfbildung in diesen Tieren. Die Extremitaten fehlen
aber jenen Embryonen nodi. Waren sie audi da, auf der
ersten Stufe der Ausbildung begriffen, so wiirden sie doch
nidits lehren, da die Fufte der Eidedisen und Saugetiere,
die Flugel und Fufte der Vogel, sowie die Hande und Fiifte
der Menschen sidi aus derselben Grundform entwickeln.»
Soldie Tatsachen der Keimesgeschidite muftten bei den-
jenigen Denkern, die zum Darwinismus mit ihren Uber-
zeugungen neigten, das groftte Interesse hervorrufen. Dar-
win hatte die Moglichkeit erwiesen, daft die organischen
Formen sich wandeln, und daft auf dem Wege der Um-
wandlung die heute lebenden Arten von wenigen, viel-
leidit nur von einer urspriinglichen abstammen. Nun zei-
gen sidi die mannigfaltigen Lebewesen auf ihren ersten
Entwickelungsstufen so ahnlich, daft man sie kaum oder
gar nidit unterscheiden kann. Beides, diese Tatsadie der
Ahnlidikeit und jene Abstammungsidee, bradite 1864
Fritz MUller in einer gedankenvollen Sclirift «Fur Dar-
win » in organisdie Verbindung. Muller ist eine von den-
jenigen hochsinnigen Personlidikeiten, deren Seelen eine
naturgemafie Weltanschauung zum geistigen Atmen un-
bedingt braudien. Er empfand audi an seinem eigenen
Handeln allein Befriedigung, wenn er nur den Motiven
gegeniiber das Gefiihl haben konnte, daft sie notwendig
wie eine Naturkraft sind. Im Jahre 1852 ubersiedelte
Muller nadi Brasilien. Er bekleidete zwolf Jahre lang eine
Gymnasiallehrerstelle in Desterro (auf der Insel Santa
Catharina unweit der Kiiste von Brasilien). 1867 muftte
er auch diese Stellung aufgeben. Der Mann der neuen
Weltanschauung mufite der Reaktion weichen, die sich
unter dem Einflusse der Jesuiten seiner Lehranstalt be-
machtigte. Ernst Haeckel hat in der « Jenaischen Zeitschrift
fiir Naturwissenschaft» (XXXI. Band N. F.XXIV, 1897)
das Leben und die Wirksamkeit Fritz Miillers beschrie-
ben. Von Darwin wurde dieser als «Fiirst der Beobach-
ter» bezeichnet. Und aus einer Fiille von Beobachtungen
heraus ist die kleine, aber bedeutungs voile Schrift «Fur
Darwin» entstanden. Sie behandelte eine einzelne Gruppe
von organischen Formen, die Krebse, in dem Geiste, von
dem Fritz Muller glaubte, dafi er sich aus der Darwin-
schen Anschauung ergeben mu'sse. Er zeigte, dafi die in
ihren reifen Zustanden voneinander verschiedenen Krebs-
formen einander vollkommen ahnlich sind in der Zeit, in
der sie aus dem Ei schliipfen. Setzt man voraus, dafi im
Sinne der Darwinschen Abstammungslehre die Krebsfor-
men aus einer Ur-Krebsform sich entwickelt haben, und
nimmt man an, dafi die Ahnlichkeit in Jugendzustanden
dieser Tiere ein Erbstiick von ihrer gemeinsamen Ahnen-
form her ist, so hat man die Ideen Darwins vereinigt mit
denen Okens von der Wiederholung der Schopfungs-
geschichte der Tierklassen in der Entwickelung der ein-
zelnen Tierform. Diese Vereinigung hat Fritz Muller audi
vollzogen. Er brachte dadurch die friihen Formen einer
Tierklasse in eine bestimmte gesetzmafiige Verbindung
mit den spateren, die sich durch Umwandlung aus ihnen
gebildet haben. Dafi einmal eine Ahnenform eines heute
lebenden Wesens so und so ausgesehen hat, das hat be-
wirkt, dafi dieses heute lebende Wesen in einer Zeit seiner
Entwickelung so und so aussieht. An den Entwickelungs-
stadien der Organismen erkennt man ihre Ahnen; und die
Beschaffenheit der letzten bewirkt die Charaktere der
Keimformen. Stammesgeschichte und Keimesgeschichte
(Phylogenie und Ontogenie) sind in Fritz Mullers Buch
verbunden wie Ursadie und Wirkung. Damit war ein
neuer Zug in die Darwinsche Ideenriditung gekommen.
Dieses wird audi dadurch nicht abgeschwacht, daft Mullers
Krebsforschungen durch die spateren Untersuchungen Ar-
nold Langs modifiziert wurden.
Es waren erst vier Jahre vergangen seit dem Erscheinen
von Darwins Buch «Entstehung der Arten», als Mullers
Schrift zu seiner Verteidigung und Bestatigung erschien.
Er hatte an einer einzelnen Tierklasse gezeigt, wie man
im Geiste der neuen Ideen arbeiten soil. Sieben Jahre nach
der «Entstehung der Arten», im Jahre 1866, erschien be-
reits ein Buch, das ganz durchdrungen von diesem neuen
Geiste war, das von hoher Warte herab mit den Ideen
des Darwinismus den Zusammenhang der Lebenserschei-
nungen beleuchtete: Ernst Haeckels «Generelle Morpho-
logie der Organismen». Jede Seite dieses Buches verrat das
grofie Ziel, von den neuen Gedanken aus eine Umschau
iiber die Gesamtheit der Naturerscheinungen zu halten.
Aus dem Darwinismus heraus suchte Haeckel eine Welt-
anschauung.
Nach zwei Richtungen hin war Haeckel bestrebt, fur die
neue Weltanschauung das Moglichste zu tun: er bereicher-
te unablassig das Wissen von den Tatsachen, die Auf-
schlufi geben iiber den Zusammenhang der Naturwesen
und Naturkrafte; und er zog mit eiserner Konsequenz
aus diesen Tatsachen die Ideen, die das menschliche Erkla-
rungsbediirfnis befriedigen sollen. Er 1st von der uner-
schutterlichen Oberzeugung durchdrungen, daft der Mensch
fur alle seine Seelenbediirfnisse aus diesen Tatsachen und
diesen Ideen voile Befriedigung gewinnen kann. Wie es
Goethe auf seine Art klar war, so ist es audi ihm auf die
seinige klar, dafi die Natur «nach ewigen, notwendigen,
dergestalt gottlichen Gesetzen wirkt, dafi die Gottheit
selbst daran nichts andern konnte». Und weil ihm dieses
klar ist, verehrt er in den ewigen und notwendigen Ge-
setzen der Natur und in den Stoffen, an denen sich diese
Gesetze betatigen, seine Gottheit. Wie die Harmonie der
in sich mit Notwendigkeit zusammenhangenden Natur-
gesetze, nach seiner Anschauung, die Vernunft befriedigt,
so bietet sie audi dem fuhlenden Herzen, dem ethisch und
religios gestimmten Gemiit, wonach dieses diirstet. In dern
Stein, der von der Erde angezogen, zu dieser hinfallt,
spricht sich das gleiche Gottliche aus wie in der Pflanzen-
bliite und in dem menschlichen Geiste, der den «Wilhelm
Tell» dramatisch formt.
Wie irrtiimlich es ist, zu glauben, dafl durch ein ver-
niinftiges Eindringen in das Walten der Natur, durch Er-
forschung ihrer Gesetze, das Gefiihl fur die wunderbaren
Schonheiten der Natur zerstort wird, das zeigt sich so
recht anschaulidi an dem Wirken Ernst Haeckels. Man hat
der vernunftgemafien Naturerklarung die Fahigkeit abge-
sprochen, die Bediirfnisse des Gemiites zu befriedigen. Es
darf behauptet werden, dafi, wo immer ein Mensch in
seiner Gemutswelt durch die Naturerkenntni-s beeintrach-
tigt wird, dies nicht an dieser Erkenntnis, sondern an dem
Menschen liegt, dessen Empfindungen sich in einer fal-
schen Richtung bewegen. Wer unbefangen den Forscher-
wegen eines Naturbetrachters, wie es Haeckel ist, folgt,
der wird bei jedem Schritte in der Naturerkenntnis audi
sein Herz hoher schlagen fiihlen. Die anatomische Zerglie-
derung, die mikroskopische Untersuchung wird ihm keine
Naturschonheit zerstoren, aber unzahlige neue enthiillen.
Es ist zweifellos, daft in unserer Zeit ein Kampf bestelit
zwischen Verstand und Phantasie, zwischen Reflexion und
Intuition. Ellen Key, die geistvolle Essay istin, hat unbe-
dingt recht, wenn sie in diesem Kampfe eine der wichtig-
sten Ersdieinungen in der gegenwartigen Zeit sieht. (Vgl.
Ellen Key: Essays. Berlin, S. Fischers Verlag, 1899.) Wer,
wie Ernst Haeckel, tief hinuntergrabt in den Schacht der
Tatsachen und kiihn hinaufsteigt mit den Gedanken, die uns
aus diesen Tatsachen sich ergeben, zu den Gipfeln mensdi-
licher Erkenntnis, der kann nur in der Naturerklarung die
versohnende Macht f inden «zwischen den beiden noch gleich
starken Rennern, der Reflexion und der Intuition, die sich
wechselseitig in die Knie zwingen». (Ellen Key, ebd.)
Fast gleichzeitig mit der Veroffentlichung, durch die
Haeckel mit riickhaltloser Redlichkeit seine aus der Natur-
erkenntnis flieftende Weltanschauung darlegt, mit dem
1899 erfolgten Erscheinen seiner «Weltratsel», hat er mit
der Herausgabe eines Lief erungswerkes begonnen, «Kunst-
formen der Natur», in dem er Nachbildungen gibt von
der unerschopf lichen Fulle der wunderbaren Gestalten,
welche die Natur in ihrem Schofte erzeugt, und welche an
Schonheit und Mannigfaltigkeit «alle vom Menschen ge-
schaffenen Kunstformen weitaus» iibertreffen. Derselbe
Mann, der unseren Verstand in die Gesetzmaftigkeit der
Natur fuhrt, lenkt unsere Phantasie auf die Schonheit der
Natur.
Das Bediirfnis, die groften Weltanschauungsfragen in
unmittelbare Beriihrung zu bringen mit den wissenschaft-
lichen Einzeluntersuchungen, hat Haeckel zu einer der-
jenigen Tatsachen gefiihrt, von denen Goethe sagt, da£
sie pragnante Punkte bezeichnen, an denen die Natur die
Grundideen zu ihrer Erklarung freiwillig hergibt und uns
entgegentragt. Diese Tatsache bot sidi fiir Haeckel da-
durch, dafi er untersuchte, inwiefern sich der alte Oken-
sche Gedanke, den Fritz Miiller auf die Krebstiere anwen-
dete, fiir das ganze Tierreich fruchtbar machen lasse. Bei
alien Tieren, mit Ausnahme der Protisten, die zeitlebens
nur aus einer Zelle bestehen, bildet sich aus der Eizelle,
mit der das Wesen seine Keimesentwickelung beginnt, ein
becherformiger oder krugformiger Korper, der sogenannte
Becherkeim oder die Gastrula. Dieser Becherkeim ist eine
tierische Form, die alle Tiere, von den Schwammen bis her-
auf zum Menschen, in ihrem ersten Entwickelungsstadium
annehmen. Diese Form hat nur Haut, Mund und Magen.
Nun gibt es niederePflanzentiere, die wahrend ihres ganzen
Lebens nur diese Organe haben, die also dem Becherkeim
ahnlich sind. Diese Tatsache deutete Haeckel im Sinne der
Entwickelungstheorie. Die Gastrulaform ist ein Erbstuck,
das die Tiere von ihrer gemeinsamen Ahnenform iiber-
kommen haben. Es hat eine wahrscheinlich vor Jahrmil-
lionen ausgestorbene Tierart gegeben, die Gastraea, die
ahnlich gebaut war wie die heute noch lebenden niederen
Pflanzentiere: die Spongien, Polypen usw. Aus dieser Tier-
art hat sich alles entwickelt, was heute an mannigfaltigen
Formen zwischen den Polypen, Schwammen und Menschen
lebt. Alle diese Tiere wiederholen im Verlaufe ihrer Kei-
mesgeschichte diese ihre Stammform.
Eine Idee von ungeheurer Tragweite war damit gewon-
nen. Der Weg vom Einfachen zum Zusammengesetzten,
zum Vollkommenen in der Organismenwelt war vorge-
zeichnet. Eine einfache Tierform entwickelt sich unter ge-
wissen UmstiLnden. Eines oder mehrere Individuen dieser
Form verwandeln sich nach Maftgabe der Lebensverhalt-
nisse, in die sie kommen, in eine andere Form. Was durch
Verwandlung entstanden ist, vererbt sich wieder auf
Nachkommen. Es leben bereits zweierlei Formen. Die alte,
die auf der ersten Stufe stehen geblieben ist, und eine
neue. Beide Formen konnen sich nach verschiedenen Rich-
tungen und Vollkommenheitsgraden weiterbilden. Nach
gro£en Zeitraumen entsteht durch Vererbung der entstan-
denen Formen und durch Neubildungen auf dem Wege
der Anpassung an die Lebensbedingungen eine Fiille von
Arten.
So schlielk sich fur Haeckel zusammen, was heute in
der Organismenwelt geschieht, mit dem, was in Urzeiten
geschehen ist. Wollen wir irgendein Organ an einem Tiere
unserer Gegenwart erklaren, so blicken wir zuriick auf
die Ahnen, die bei sich dieses Organ unter den Verhalt-
nissen, in denen sie lebten, ausgebildet haben. Was in frii-
heren Zeiten aus natiirlichen Ursachen entstanden ist, hat
sich bis heute vererbt. Durch die Geschichte des Stammes
klart sich die Entwickelung des Individuums auf. In der
Stammesentwickelung (Phylogenesis) liegen somit die Ur-
sachen der Individualentwickelung (Ontogenesis). Haeckel
driickt diese Tatsache in seinem biogenetischen Grund-
gesetze mit den Worten aus: «Die kurze Ontogenese oder
die Entwickelung des Individuums ist eine schnelle und
zusammengezogene Wiederholung, eine gedrangte Reka-
pitulation der langen Phylogenese oder Entwickelung der
Art.»
Damit ist aus dem Reiche des Organischen alle Erkla-
rung im Smne besonderer Zwecke, alle Teleologie im al-
ten Sinne, entfernt. Man sucht nicht mehr nach dem Zweck
eines Organes, man sucht nach den Ursachen, aus denen
es sich entwickelt hat; eine Form weist nicht nach dem Ziel
hin, dem sie zustrebt, sondern nach dem Ursprunge, aus
dem sie hervorgegangen 1st. Die Erklarungsweise des Or-
ganisdien ist der des Unorganischen gleich geworden. Man
sucht das Wasser nicht als Ziel im Sauerstoff und man
sucht audi nicht den Menschen als Zweck in der Schop-
fung. Man forscht nach dem Ursprunge, nach den tatsach-
lichen Ursachen der Wesen. Die dualistische Anschauungs-
weise, die erklart, dafi Unorganisches und Organisdies
nach zwei verschiedenen Prinzipien erklart werden miis-
sen, verwandelt sich in eine monistische Vorstellungsart,
in den Monismus, der fur die ganze Natur nur eine ein-
heitliche Erklarungsweise hat.
Haeckel weist mit bedeutsamen Worten darauf hin,
dafi durch seine Entdeckung der "Weg gefunden ist, auf
dem aller Dualismus in dem oben gemeinten Sinne uber-
wunden werden mufi. «Die Phylogenesis ist die mechani-
sche Ursache der Ontogenesis. Mit diesem einen Satz ist
unsere prinzipielle monistische AufTassung der organischen
Entwickelung klar bezeichnet, und von der Wahrheit die-
ses Grundsatzes hangt in erster Linie die Wahrheit der
Gastraeatheorie ab. . . . Fur und wider diesen Grundsatz
wird in Zukunft jeder Naturforscher sich entscheiden miis-
sen, der in der Biogenie sich nicht mit der blo£en Bewunde-
rung merkwiirdiger Erscheinungen begniigt, sondern dar-
iiber hinaus nach dem Verstandnis ihrer Bedeutung strebt.
Mit diesem Satz ist zugleich die unausfullbare Kluft be-
zeichnet, welche die altere teleologische und dualistische
Morphologie von der neueren mechanischen und monisti-
schen trennt. Wenn die physiologischen Funktionen der
Vererbung und Anpassung als die alleinigen Ursachen der
organischen Formbildung nachgewiesen sind, so ist damit
zugleich jede Art von Teleologie, von dualistischer und
metaphysisdier Betrachtungsweise aus dem Gebiete der
Biogenie entfernt; der sdiarfe Gegensatz zwischen den lei-
tenden Prinzipien ist damit klar bezeichnet. Entweder
existiert ein direkter und kausaler Zusammenhang zwi-
sdien Ontogenie und Phylogenie oder er existiert nicht.
Entweder ist die Ontogenese ein gedrangter Auszug der
Phylogenese oder sie ist dies nicht. Zwischen diesen beiden
Annahmen gibt es keine dritte! Entweder Epigenesis und
Deszendenz - oder Preformation und Sch6pfung.» (Vgl.
audi Band i, S. 286 ff. dieses Buches.) Haeckel ist eine
philosophisdie Denkerpersonlichkeit. Deshalb trat er, bald
nachdem er die Darwinsdie Ansdiauung in sich aufgenom-
men hatte, mit aller Energie fiir die wichtige Schlufifolge-
rung ein, die sich. aus dieser Ansdiauung fiir den Ursprung
des Mensdien ergibt. Er konnte sidi nidit damit begnii-
gen, schiichtern wie Darwin auf diese «Frage aller Fragen»
hinzudeuten. Der Mensch unterscheidet sich anatomisdi
und physiologisch nicht von den hoheren Tieren, folglich
mufi ihm audi der gieiche Ursprung wie diesen zugeschrie-
ben werden. Mit grower Kiihnheit trat er sogleich fiir diese
Meinung und fiir alle Folgen ein, die sich in bezug auf
die Weltanschauung daraus ergeben. Es war fiir ihn nicht
zweifelhaft, dafi fortan die hochsten Lebensaufierungen
des Mensdien, die Taten seines Geistes, unter einem glei-
chen Gesiditspunkt zu betraditen sind wie die Verrichtun-
gen der einfachsten Lebewesen. Die Betrachtung der nie-
dersten Tiere, der Urtiere, Infusorien und Rhizopoden,
lehrte ihn, dafi audi diese Organismen eine Seele haben. In
ihren Bewegungen, in den Andeutungen von Empfindun-
gen, die sie erkennen lassen, erkannte er Lebensaufierun-
gen, die nur gesteigerter, vollkommener zu werden brau-
chen, urn zu den komplizierten Vernunft- und Willens-
handlungen des Mensdien zu werden.
Welche Schritte vollfiihrt die Natur, um von der Ga-
straea, dem Urdarmtiere, das vor Jahrmillionen gelebt
hat, zum Mensdien zu gelangen? Das war die umfassende
Frage, die sich Haeckel vorlegte. Die Antwort gab er in
seiner 1874 erschienenen «Anthropogenie». Sie behandelt
in einem ersten Teil die Keimesgeschichte des Mensdien,
und in einem zweiten die Stammesgesdiichte. Von Punkt
zu Punkt wurde gezeigt, wie in der letzteren die Ursachen
fur die erstere liegen. Die Stellung des Mensdien in der
Natur war damit nach den Grundsatzen der Entwicke-
lungslehre bestimmt. Auf Werke, wie Haeckels «Anthro-
pogenie» eines ist, darf man das Wort anwenden, dafi der
grofie Anatom Karl Gegenbaur in seiner «Vergleichenden
Anatomie» (2. Aufl., 1870) ausgesprodien hat, daft der
Darwinismus als Theorie reichlidi das von der Wissen-
sdiaft zuriickempfangt, was er dieser an Methode gege-
ben hat: Klarheit und Sicherheit. Mit der darwinistisdien
Methode ist fiir Haeckel audi die Theorie von der Her-
kunft des Mensdien der Wissenschaft geschenkt.
Was damit getan war, wird man, seinem vollen Um-
f ange nach, nur ermessen, wenn man auf die Opposition
blickt, mit der Haeckels umfassende Anwendung der dar-
winistisdien Grundsatze von den Anhangern idealistischer
WeltaufFassungen aufgenommen worden sind.Man braucht
dabei gar nicht auf diejenigen zu sehen, die sich in dem
blinden Glauben an eine uberlieferte Meinung gegen die
«Affentheorie» wandten, oder auf diejenigen, die alle fei-
nere, hohere Sittlidikeit gefahrdet glauben, wenn die
Mensdien nicht mehr der Ansicht sind, dafi sie einen «rei-
neren, hoheren Ursprung» haben. Man kann sich audi an
solche halten, die durchaus geneigt sind, neue Wahrheiten
in sich aufzunehmen. Aber audi solchen wurde es schwer,
sich in diese neue Wahrheit zu finden. Sie fragten sich:
Verleugnen wir nicht unser vernunftgemafies Denken>
wenn wir seinen Ursprung nicht mehr in einer allgemei-
nen Weltvernunft iiber uns, sondern in dem tierischen
Reiche unter uns suchen? Solche Geister wiesen mit gro-
fiem Eifer auf die Punkte hin, an denen die Haeckelsche
Auffassung durch die Tatsachen noch im Stich gelassen zu
werden schien. Und diese Geister haben machtige Bundes-
genossen in einer Anzahl von Naturforschern, die, aus
einer merkwiirdigen Befangenheit heraus, ihre Tatsachen-
kenntnis dazu beniitzen, fortwahrend zu betonen, wo die
Erfahrung noch nicht ausreiche, urn Haeckels Schlufifolge-
rungen zu ziehen. Der typische Reprasentant und zugleich
der eindrucksvollste Vertreter dieses Naturforscherstand-
punktes ist Rudolf Virchow. Man darf den Gegensatz
Haeckels und Virchows etwa so charakterisieren: Haeckel
vertraut auf die innere Konsequenz der Natur, von der
Goethe meint, dafi sie iiber die Inkonsequenz der Men-
schen hinwegtroste, und sagt sich: "Wenn sich fur gewisse
Falle ein Naturprinzip als richtig ergeben hat und uns
die Erfahrung fehlt, seine Richtigkek in andern Fallen
nachzuweisen, so ist kein Grund vorhanden, dem Fortgang
unserer Erkenntnis Fesseln anzulegen; was uns heute noch
die Erfahrung versagt, kann uns morgen gebracht werden.
Virchow ist anderer Meinung. Er will ein umfassendes
Prinzip so wenig wie moglich Boden gewinnen lassen. Er
scheint zu glauben, daft man einem solchen Prinzip das
Leben nicht sauer genug machen kann. Scharf spitzte sich
der Gegensatz beider Geister auf der fiinfzigsten Ver-
sammlung deutscher Naturforscher und Arzte, im Sep-
tember 1877, zu. Haeckel hielt einen Vortrag iiber «Die
heutige Entwickelungslehre im Verhaltnisse zur Gesamt-
wissenschaft.»
Im Jahre 1894 fand sidi Virdiow genotigt, zu sagen:
«Auf dem Wege der Spekulation ist man zu der Affen-
theorie gekommen; man hatte ebenso gut zu einer Elefan-
ten- oder einer Sdiaftheorie kommen konnen.» Virdiow
fordert unumstdfiliche Beweise fur diese Anschauung. So-
bald aber etwas in die Erscheinung tritt, was sich als ein
Glied in der Beweiskette ergibt, sucht Virchow seinen
Wert auf jede mogliche Art zu entkraften.
Ein solches Glied in der Beweiskette bilden die Kno-
chenreste, die Eugen Dubois 1894 in Java gefunden hat.
Sie bestehen aus einem Schadeldach, einem Obersdienkel
und einigen Zahnen. Ober diesen Fund entspann sich auf
dem Leydener Zoologenkongrefi eine interessante Diskus-
sion. Von zwolf Zoologen waren drei der Meinung, daft
die Knochenreste von einem Affen, drei, dafi sie von einem
Menschen stammen; sechs vertraten aber die Meinung, dafi
man es mit einer Ubergangsform zwisdien Mensch und
Affen zu tun habe. Dubois hat in emleuchtender Weise
gezeigt, in welchem Verhaltnis das Wesen, dessen Reste
man vor sich hatte, einerseits zu den gegenwartigen Affen,
anderseits zu den gegenwartigen Menschen stehe. Die na-
turwissenschaftliche Entwickelungslehre mufi solche Zwi-
schenformen in besonderem Mafie fiir sich in Anspruch
nehmen. Sie fiillen die Liicken aus, die zwischen den zahl-
reichen Formen der Organismen bestehen. Jede solche
Zwischenform liefert einen neuen Beweis fiir die Ver-
wandtschaft alles Lebendigen. Virchow widersetzte sich
der AufTassung, dafi die Knochenreste von einer solchen
Zwischenform herriihren. Zunachst erklarte er, der Scha-
del stamme von einem Affen, der Oberschenkel von einem
Menschen. Sachkundige Palaontologen sprachen sich aber
nach dem gewissenhaften Fundberichte mit Entschieden-
heit fiir die Zusammengehorigkeit der Reste aus. Virchow
sudite seine Ansidit, dafi der Oberschenkel nur von einem
Menschen herriihren konne, durch die Behauptung zu
stiitzen, eine Knochenwucherung an demselben beweise,
dal5 an ihm eine Krankheit vorhanden gewesen sei, die
nur durch sorgfaltige menschliche Pflege geheilt worden
sein konne. Dagegen sprach sich der Palaontologe Marsch
dahin aus, daft ahnliche Knochenwucherungen audi bei
wilden Affen vorkommen. Einer weiteren Behauptung
Virchows, daft die tiefe Einschniirung zwischen dem Ober-
rand der Augenhohlen und dem niederen Schadeldach des
vermeintlichen Zwischenwesens fiir dessen AfFennatur
spreche, widersprach eine Bemerkung des Naturforschers
Nehring, daft sich dieselbe Bildung an einem Menschen-
schadel von Santos in Brasilien finde. Diese Einwande
Virchows kamen aus derselben Gesinnung, die ihn auch in
den benihmten Schadeln von Neandertal, von Spy usw.
krankhafte, abnorme Bildungen sehen lafk, wahrend sie
Haeckels Gesinnungsgenossen fiir Zwischenformen zwi-
schen Affe und Mensch halten.
Haeckel lie£ sich durch keine Einwande das Vertrauen
in seine Vorstellungsart rauben. Er behandelt unablassig
die Wissenschaft von den gewonnenen Gesichtspunkten
aus, und er wirkt durch populare Darstellung seiner Na-
turaufTassung auf das offentliche Bewufitsein. In seiner
« Sy stematischen Phylogenie, Entwurf eines natiirlichen
Systems der Organismen auf Grund der Stammesgeschich-
te» (1894 — 1896) suchte er die natiirlichen Verwandt-
schaf ten der Organismen in streng wissenschaftlicher Weise
darzustellen. In seiner «NaturlichenSch6pfungsgeschichte>>,
die von 1868 bis 1908 elf Auflagen erlebt hat, gab er eine
allgemeinverstandliche Auseinandersetzung seiner An-
schauungen. In seinen gemeinverstandlichen Studien zur
monistisdien Philosophic «Weltratsel» lieferte er 1899
einen Oberblick iiber seine naturphilosophisdien Ideen,
der riickhaltlos nach alien Seiten hin die Folgerungen sei-
ner Grundgedanken darlegt. Zwischen alien diesen Arbei-
ten veroffentlidite er Studien iiber die mannigfaltigsten
Spezialforschungen, uberall den philosophischen Prinzi-
pien und dem wissenschaftlidien Detailwissen in gleidier
Weise in seiner Art Rechnung tragend.
Das Licht, das von der monistisdien Weltanschauung
ausgeht, ist, nach Haeckels Oberzeugung, dasjenige, das
«die schweren Wolken der Unwissenheit und des Aber-
glaubens zerstreut, welche bisher undurchdringliches Dun-
kel iiber das wichtigste aller Erkenntnisprobleme verbrei-
teten, iiber die Frage nach dem Ursprung des Menschen,
von seinem wahren Wesen und von seiner Stellung in der
Natur». So hat er sich in der Rede ausgesprochen, die er
am 26. August 1898 auf dem vierten internationalen
ZoologenkongreiS in Cambridge «t)ber unsere gegenwar-
tige Kenntnis vom Ursprung des Menschen » gehalten hat.
Inwiefern seine Weltanschauung ein Band kniipft zwi-
schen Religion und Wissenschaft, hat Haeckel auf ein-
dringliche Weise dargelegt in seiner 1892 erschienenen
Schrift «Der Monismus als Band zwischen Religion und
Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers».
"Wenn man Haeckel mit Hegel vergleicht, so ergibt sich
in scharfen Ziigen der Unterschied der Weltanschauungs-
interessen in den beiden Halften des neunzehnten Jahr-
hunderts. Hegel lebt ganz in der Idee und nimmt aus der
naturwissenschaftlichen Tatsachenwelt nur so viel auf, als
er zur Illustration seines idealen Weltbildes braucht. Haek-
kel wurzelt mit alien Fasern seines Seins in der Tatsachen-
welt und zieht aus dieser nur die Summe von Ideen, zu
denen diese notwendig drangt. Hegel ist immer bestrebt,
zu zeigen, wie alle Wesen darauf hinarbeiten, zuletzt im
menschlichen Geiste denGipfel ihresWerdens zu erreichen;
Haeckel ist stets bemuht, zu erweisen, wie die komplizier-
testen menschlichen Verrichtungen zuriickweisen auf die
einfachsten Urspriinge des Daeins. Hegel erklart die Na-
tur aus dem Geist; Haeckel leitet den Geist aus der Natur
ab. Es darf deshalb von einer Umkehrung der Denkrich-
tung im Laufe des Jahrhunderts gesprochen werden. In-
nerhalb des deutschen Geisteslebens haben Straufl, Feuer-
bach und andere diese Umkehrung eingeleitet; in dem Ma-
terialismus hat die neue Richtung einen vorlaufigen, extre-
men, in der Gedankenwelt Haeckels einen streng metho-
disch-wissenschaftlichen Ausdruck gefunden. Denn das ist
das Bedeutsame bei Haeckel, dafi seine ganze Forscher-
tatigkek von einem philosophischen Geiste durchdrungen
ist. Er arbeitet durchaus nicht nach Resultaten hin, die aus
irgendwelchen Motiven als Ziele der Weltanschauung
oder des philosophischen Denkens aufgestellt sind; aber
sein Verfahren ist philosophisch. Die Wissenschaft tritt
bei ihm unmittelbar mit dem Charakter der Weltanschau-
ung auf. Die ganze Art seines Anschauens der Dinge hat
ihn zum Bekenner des entschiedensten Monismus be-
stimmt. Er sieht Geist und Natur mit gleicher Liebe an.
Deshalb konnte er den Geist in den einfachsten Lebewesen
noch finden. Ja, er geht noch welter. Er forscht nach den
Spuren des Geistes in den unorganischen Massenteilchen.
«Jedes Atom» - sagt er - «besitzt eine inha rente Summe
von Kraft und ist in diesem Sinne «beseelt». Ohne die
Annahme einer «Atomseele» sind die gewohnlichsten und
allgemeinsten Erscheinungen der Chemie unerklarlich. Lust
und Unlust, Begierde und Abneigung, Anziehung und Ab-
stoEung miissen alien Massenatomen gemeinsam sein; denn
die Bewegungen der Atome, die bei Bildung und Auflo-
sung einer jeden chemischen Verbindung stattfinden miis-
sen, sind nur erklarbar, wenn wir ihnen Empfindung und
Willen beilegen, und nur hierauf allein beruht im Grunde
die allgemein angenommene chemische Lehre von der
Wahlverwandtschaft.>> Und wie er den Geist bis ins Atom
hinein verfolgt, so das rein materiell-mechanische Gesche-
hen bis in die erhabensten Geistesleistungen herauf. « 'Geist'
und 'Seele'des Menschen sind audi nichts anderes,alsKraf-
te, die an das materielle Substrat unseres Korpers untrenn-
bar gebunden sind. Wie die Bewegungskraft unseres Flei-
sches an die Formelemente der Muskeln, so ist die Denk-
kraft unseres Geistes an die Formelemente des Gehirns ge-
bunden. Unsere Geisteskrafte sind ebenso Funktionen die-
ser Korperteile, wie jede 'Kraft* die Funktion eines mate-
riellen Korpers ist.»
Man darf aber diese Vorstellungsweise nisht verwech-
seln mit derjenigen, die in unklar-mystischer Art in die
Naturwesen Seelen hineintraumt und diese der mensch-
lichen mehr oder weniger ahnlich sein lafit. Haeckel ist ein
scharfer Gegner der Weltanschauung, die Eigenschaften
und Tatigkeiten des Menschen in die Aufienwelt verlegt.
Seine Verurteilung der Vermenschlichung der Natur, des
Anthropomorphismus, hat er wiederholt mit nicht miE-
zuverstehender Deutlichkeit ausgesprochen. Wenn er der
unorganischen Masse oder den einfachsten Organismen
eine Beseeltheit zuschreibt, so meint er damit nichts wei-
ter, als die Summe der KraftauBerungen, die wir an ihnen
beobachten. Er halt sich streng an die Tatsachen. Empfin-
dung und Wille des Atoms sind ihm keine mystischen
Seelenkrafte, sondern sie erschopfen sich in dem, was wir
als Anziehung und Abstofiung wahrnehmen. Er will nicht
sagen: Anziehung und Abstofiung sind eigentlich Empfin-
dung und Wille, sondern Anziehung und Abstofiung sind
auf niedrigster Stufe das, was Empfindung und Wille auf
hoherer Stufe sind. Die Entwickelung ist ja nicht ein blo-
fies Herausentwickeln der hoheren Stufen des Geistigen
aus dem Niedrigen, in denen sie schon verborgen liegen,
sondern ein wirkliches Aufsteigen zu neuen Bildungen
(vgl. oben S. 403 ff.), eine Steigerung von Anziehung und
Abstofiung zu Empfindung und Wille, Diese Grund-
anschauung Haeckels stimmt in gewissem Sinne mit der
Goethes uberein, der sich dariiber mit den Worten aus-
spricht: Die Erfiillung seiner Naturanschauung sei ihm
durch die Erkenntnis der «zwei grofien Triebrader aller
Natur» geworden, der Polaritat und der Steigerung, jene
«der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen,
insofern wir sie geistig denken, angehorig; jene ist in im-
merwahrend^m Anziehen und Abstofien, diese in immer-
strebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne
Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam
sein kann, so vermag audi die Materie sich zu steigern, so
wie sich's der Geist nicht nehmen lafit anzuziehen und
abzustofien.»
Der Bekenner einer solchen Weltanschauung lafk sich
daran gemigen, die tatsachlich in der Welt vorhandenen
Dinge und Vorgange auseinander abzuleiten. Die ideali-
stischen Weltanschauungen bediirfen zu der Ablekung
eines Dinges oder Vorganges Wesenheiten, die nicht inner-
halb des Bereiches des Tatsachlidien gefunden werderu
Haeckel leitet die Form des Becherkeimes, die im Laufe
der tierischen Entwickelung auftritt, aus einem tatsadilich
einmal vorhandenen Organismus ab. Ein Idealist sudit
nach ideellen Kraften, unter deren Einflufi der sidi ent-
wickelnde Keim zur Gastrula wird. Der Monismus Haek-
kels zieht alles, was er zur Erklarung der wirklidien Welt
braucht, audi aus dieser wirklidien Welt heraus, Er halt im
Reiche des Wirklidien Umsdiau, um zu erkennen, wie die
Dinge und Vorgange einander erklaren. Seine Theorien
sind ihm nicht wie die des Idealisten dazu da, zu dem Tat-
sachlidien ein Hoheres zu sudien, einen ideellen Inhalt, der
das Wirkliche erklart, sondern dazu, da£ sie ihm den Zu-
sammenhang des Tatsachlidien selbst begreiflidi madien.
Fichte, der Idealist, hat nach der Bestimmung des Men-
schen gefragt. Er meinte damit etwas, was sich nicht in
den Formen des Wirklidien, des Tatsachlidien erschopft;
er meinte etwas, was die Vernunft zu dem tatsadilich ge-
gebenen Dasein hinzufindet; etwas, was mit einem hohe-
ren Lichte die reale Existenz des Mensdien durchleuchtet.
Haeckel, der monistische Weltbetrachter, fragt nach dem
Ursprunge des Mensdien, und er meint damit den realen
Ursprung, die niederen Wesenheiten, aus denen sich der
Mensdi durch tatsadilidie Vorgange entwickelt hat.
Es ist bezeidinend, wie Haeckel die Beseelung der niede-
ren Lebewesen begrundet. Ein Idealist wiirde sich dabei
auf Vernunftsdiliisse berufen. Er wiirde mit Denknotwen-
digkeiten kommen. Haeckel beruft sich darauf, was er ge-
sehen hat. «Jeder Naturforsdier, der gleich mir lange
Jahre hindurch die Lebenstatigkeit der einzelligen Pro-
tisten beobaditet hat, ist positiv iiberzeugt, dafi audi sie
eine Seele besitzen; audi diese Zellseele besteht aus einer
Summe von Empnndungen, Vorstellungen und Willens-
tatigkeiten; das Empfinden, Denken und Wollen unserer
menschlichen Seelen ist nur stufenweise davon verschie-
den.» Der Idealist spricht der Materie den Geist zu, weil
er sidi nicht denken kann, daft aus geistloser Materie Geist
entstehen kann. Er glaubt, man miisse den Geist leugnen,
wenn man ihn nicht da sein lafk, bevor er da ist, das heifit
in ail den Daseinsformen, wo noch kein Organ, kein Ge-
hirn fur ihn da ist. Fur den Monisten gibt es einen sol-
chen Ideengang gar nicht. Er spricht nicht von einem Da-
sein, das sich als solches nicht audi aufierlich darstellt. Er
teilt nicht den Dingen zweierlei Eigenschaften zu: solche,
die an ihnen wirklich sind, und sich an ihnen aufkrn, und
soldie, die insgeheim in ihnen sind, um sich erst auf einer
hoheren Stufe, zu der sich die Dinge entwickeln, zu aufiern.
Fiir ihn ist da, was er beobachtet, weiter nichts. Und wenn
sich das Beobaditete weiter entwickelt, und sich im Laufe
seiner Entwickelung steigert, so sind die spateren Formen
erst in dem Augenblicke vorhanden, in dem sie sich wirk-
lich zeigen.
Wie leicht der Haeckelsche Monismus nach dieser Rich-
tung hin miftverstanden werden kann, das zeigen die Ein-
wande, die der geistvolle Bartbolomaus von Carneri ge-
macht hat, der auf der andern Seite fiir den Aufbau einer
Ethik dieser Weltanschauung Unvergangliches geleistet
hat. In seiner Schrift «Empfindung und Bewufitsein. Mo-
nistische Bedenken» (1893) meint er, der Satz: «Kein Geist
ohne Materie, aber auch keine Materie ohne Geist - wiirde
uns berechtigen, die Frage auf die Pflanze, ja auf den
nachsten besten Felsblock auszudehnen», und auch diesen
Geist zuzuschreiben. Es sei aber doch zweifellos, da£ da-
durch eine Verwirrung geschaffen werde. Es sei doch nicht
zu iibersehen, daft nur durch die Tatigkeit der Zellen der
grauen Hirnrinde Bewufitsein entstehe. «Die Uberzeugung,
daft es keinen Geist ohne Materie gebe, daft heiftt, daft alle
geistige Tatigkeit an eine materielle Tatigkeit gebunden
sei, mit deren Ende audi sie ihr Ende erreicht, fuftt auf
Erfahrung, wahrend nidits in der Erfahrung dafiir spricht,
daft mit der Materie iiberhaupt Geist verbunden sei.» Wer
die Materie, die keinen Geist verrat, beseele, gliche dem,
der nicht dem Mechanismus der Uhr, sondern schon dem
Metalle, aus dem sie verfertigt ist, die Fahigkeit zuschrie-
be, Zeitangaben zu machen.
Haeckel-s Auffassung wird, ridhtig verstanden, von den
Bedenken Carneris nicht getroffen. Davor wird sie da-
durch geschutzt, daft sie sich streng an die Beobachtung
halt. In seinen «Weltratseln» sagt Haeckel: «Ich selbst
habe die Hypothese des Atombewufttseins niemals vertre-
ten. . . . Ich habe vielmehr ausdriicklich betont, daft ich mir
die elementaren psychischen Tatigkeiten der Empfindung
und des Willens,die mandenAtomen zuschreiben kann,un-
bewuftt vorstelle.» Was Haeckel will, ist nichts anderes,
als daft man in der Erklamng der Naturerscheinungen
keinen Sprung eintreten lasse, daft man die komplizierte
Art, wie durch das Gehirn Geist erscheint, zuriickverfolge
bis zu der einfachsten Art, wie die Masse sich anzieht und
abstoftt. Haeckel sieht als eine der wichtigsten Erkennt-
nisse der modernen Wissenschaft die Entdeckung derDenk-
organe durch Paul Flechsig an. Dieser hat betont, daft in
der grauen Rindenzone des Hirnmantels vier Gebiete fur
die zentralen Sinnesorgane liegen, vier «innere Empfin-
dungsspharen», die Korperfuhlsphare, die Riechsphare,
die Sehsphare und die Horsphare. Zwischen diesen vier
Sinnesherden liegen die Denkherde, die «realen Organe
des Geisteslebens»; sie «sind die hochsten Werkzeuge der
Seelentatigkeit, welche das Denken und das Bewufitsein
vermitteln . . . Diese vier Denkherde, durdi eigentumliche
und hochst verwickelte Nervenstruktur vor den zwischen-
liegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren
Denkorgane, die einzigen Organe unseres Bewufitseins. In
neuester Zeit hat Flechsig nachgewiesen, dafi in einem
Teile derselben sich beim Menschen nodi ganz besonders
verwickelte Strukturen finden, weldie den iibrigen Sauge-
tieren fehlen, und welche die TJberlegenheit des mensch-
lichen Bewufitseins erklaren.»
Solche Ausfuhrungen zeigen deutlich genug, dafi es
Haeckel nicht wie den idealistischen Welterklarern darauf
ankommt, in die niederen Stufen des materiellen Daseins
den Geist sdion hineinzulegen, um ihn auf den hoheren
wiederzufinden, sondern darauf, an der Hand der Beob-
achtung die einfachen Erscheinungen bis zu den kompli-
zierten zu verfolgen, um zu zeigen, wie die Tatigkeit der
Materie, die sich auf primitivem Gebiete als Anziehung
und Abstofiung aufiert, sich zu den hoheren geistigen Ver-
richtungen steigert.
Haeckel sucht nicht ein allgemeines geistiges Prinzip,
weil er mit der allgemeinen Gesetzmafiigkeit der Natur-
und Geisteserscheinungen nicht ausreicht, sondern er reicht
fiir sein Bediirfnis vollig mit dieser allgemeinen Gesetz-
mafiigkeit aus. Die Gesetzmafiigkeit, die sich in den gei-
stigen Verrichtungen ausspricht, ist ihm von gleicher Art
mit derjenigen, die im Anziehen und Abstofien der Mas-
senteilchen zum Vorschein kommt. Wenn er die Atome
beseelt nennt, so hat das eine ganz andere Bedeutung, als
wenn dies ein Bekenner einer idealistischen Weltanschau-
ung tut. Der letztere geht vom Geiste aus, und nimmt
die Vorstellungen, die er an der Betrachtung des Geistes
gewonnen hat, mit hinunter in die einfachen Verrichtun-
gen der Atome, wenn er diese beseelt denkt. Er erklart
also die Naturerscheinungen aus den Wesenheiten, die er
erst selbst in sie hineingelegt hat. Haeckel geht von der
Betrachtung der einfachsten Naturerscheinungen aus und
verfolgt diese bis in die geistigen Verrichtungen herauf. Er
erklart also die Geisteserscheinungen aus Gesetzen, die er
an den einfachsten Naturerscheinungen beobachtet hat.
Haeckels Weltbild kann in einer Seele entstehen, deren
Beobachtung sich nur auf Naturvorgange und Naturwesen
erstreckt. Eine solche Seele wird den Zusammenhang m-
nerhalb dieser Vorgange und Wesen verstehen wollen.
Ihr Ideal kann werden, zu durchschauen, was die Vor-
gange und Wesenheiten iiber ihr "Werden und Zusammen-
wirken selbst sagen und alles streng abzulehnen, was zu
einer Erklarung des Geschehens und Wirkens von aufien
hinzugedacht wird. Ein solches Ideal verfahrt mit der
ganzen Natur so, wie man etwa bei Erklarung des Mecha-
nismus einer Uhr verfahrt. Man braucht nichts zu wissen
iiber den Uhrmacher, iiber dessen Geschicklichkeiten und
iiber die Gedanken, welche er sich bei dem Verfertigen
der Uhr gemacht hat. Man versteht den Gang der Uhr,
wenn man die mechanischen Gesetze des Zusammenwir-
kens der Teile durchschauen kann. Innerhalb gewisser
Grenzen hat man mit einem solchen Durchschauen alles
getan, was zur Erklarung des Ganges der Uhr zulassig ist.
Ja, man mufi sich klar dariiber sein, dafi die Uhr selbst -
als solche - nicht erklart werden kann, wenn man eine an-
dere Erklarungsweise zulafit. Wenn man zum Beispiel
aufier den mechanischen Kraften und Gesetzen noch be-
sondere geistige Krafte ersinnen wiirde, welche die Zeiger
der Uhr in GemajSheit des Ganges der Sonne vorwarts
riickten. Als solcbe zu den Naturvorgangen hinzuerson-
nene Krafte ersdieint Haeckel alles, was einer besonderen
Lebenskraft ahnlich ist, oder eine Macht, die auf eine
«Zweckmafiigkeit» in den Wesen hinarbeitet. Er will iiber
die Naturvorgange nichts anderes denken, als was diese
selbst fiir die Beobachtung aussprechen. Sein Gedanken-
gebaude soil das der Natur abgelauschte sein. Fiir die Be-
trachtung der Weltanschauungsentwickelung stellt sich
dieses Gedankengebaude gewissermafien als Gegengabe
von seiten der Naturwissenschaft an die Hegelsche Welt-
anschauung dar } die in ihrem Gedankengemalde nichts
aus der Natur, sondern alles aus der Seele geschopft haben
will. Wenn Hegels Weltanschauung sagte: Das selbstbe-
wuftte Ich flndet sich, indem es das reine Gedankenerleb-
nis in sich hat, - so konnte die Haeckelsche Naturanschau-
ung erwidern: Dieses Gedankenerlebnis ist ein Ergebnis
der Naturvorgange, ist deren hochstes Erzeugnis. Und
wenn sich die Hegelsche Weltanschauung von solcher Er-
widerung nicht befriedigt fiihlte, so konnte die Haeckel-
sche Naturanschauung fordern: Zeige mir solcbe innere
Gedankenerlebnisse, die nicht wie ein Spiegel dessen er-
scheinen, was aufier den Gedanken geschieht. Darauf mu£-
te eine Philosophic zeigen, wie der Gedanke in der Seele
lebendig werden und wirklich eine Welt zeugen kann, die
nicht bloB der gedankliche Widerschein der Auftenwelt ist.
Der Gedanke, der blofi gedacht ist, kann der Haeckelschen
Naturanschauung nichts entgegenstellen. Diese kann zum
Vergleich behaupten: Man kann doch auch in der Uhr
nichts finden, was auf die Person usw. des Uhrmachers
schHefien lafit. Haeckels Naturanschauung ist auf dem
Wege, zu zeigen, wie man, solange man blofi der Natur
gegeniibersteht, iiber diese nidits aussagen kann, als was
diese selbst aussagt. Insofern tritt diese Naturansdiauung
in dem Gange der Weltanschauungsentwickelung bedeut-
sam auf. Sie beweist, da£ Philosophic sich ein Feld scbaf-
fen mufi, das, iiber die an der Natur gewonnenen Gedan-
ken hinaus, in dem selbstschopferischen Gebiete des Ge-
dankenlebens iiegt. Sie mufi den in einem vorigen Ab-
schnitt angedeuteten iiber Hegel hinausgehenden Schntt
madien. Sie kann nicht bestehen in einem blofien Verfah-
ren, das auf demselben Felde stehenbleibt, auf dem die
Naturwissenschaft steht. Haeckel hat wohl nicht das min-
deste Bedurfni-s, auf einen solchen Schritt der Philosophic
audi nur im geringsten die Aufmerksamkeit zu wenden.
Seine Weltanschauung lalk die Gedanken in der Seele
lebendig werden, doch dies nur insoweit, als deren Leben
durch die Beobachtung der Naturvorgange angeregt ist.
Was der Gedanke als Weltbild schafTen kann, wenn er
ohne diese Anregung in der Seele lebendig wird, das mii£-
te nun eine hohere Weltanschauung zu dem Haeckelschen
Naturbilde hinzufiigen. Man mufi ja audi iiber dasjenige
hinausgehen, was die Uhr selbst sagt, wenn man zum Bei-
spiel die Gesichtsform des Uhrmachers kennenlernen will.
Man hat deshalb kein Recht, zu behaupten, dafi die Haek-
kelsche Naturansdiauung iiber die Natur selbst anders
sprechen sollte, als Haeckel da spricht, wo er vorbringt,
was er positiv iiber Naturvorgange und Naturwesen be-
obachtet hat.
DIE WELT ALS ILLUSION
Neben der Weltanschauungsstromung, die durch den Ent-
wickelungsgedanken eine voile Einheit m die Auffassung
von Natur- und Geisteserscheinungen bringen will, lauft
eine andere, die diesen Gegensatz in der denkbar scharf-
sten Form wieder zur Geltung bringt. Audi sie ist aus der
Naturwissenschaft heraus geboren. Ihre Bekenner fragen
sidi: Worauf stiitzen wir uns denn, die wir aus der Be-
obachtung durdi Denken eine Weltanschauung aufbauen?
Wir horen, sehen und tasten die Korperwelt durch unsere
Sinne. Wir denken dann uber dasjenige nach, was uns die
Sinne liber die Welt sagen. Wir machen uns also unsere
Gedanken uber die Welt auf das Zeugnis der Sinne hin.
Aber sind denn die Aussagen unserer Sinne untruglich?
Fragen wir die Beobachtung. Das Auge bringt uns die
Lichterscheinungen. Wir sagen, ein Korper sende uns rotes
Licht, wenn das Auge rot empfindet. Aber das Auge iiber-
liefert uns eine Lichtempfindung auch in anderen Fallen,
Wenn es gestofien oder gedriickt wird, wenn ein elektri-
scher Strom den Kopf durchflielk, so hat das Auge auch
eine Lichtempfindung. Es konnte somit auch in den Fal-
len, in denen wir einen Korper als leuchtend empfinden,
in dem Korper etwas vorgehen, was gar keine Ahnlichkeit
hat mit unserer Empfmdung des Lichtes: das Auge wiirde
uns doch Licht ubermitteln. Der Physiologe Johannes M til-
ler (1801 — 1858) hat aus diesen Tatsachen gefolgert, daft
es nicht von den aufieren Vorgangen abhangt, was der
Mensch empfinde, sondern von dessen Organisation. Un-
sere Nerven vermitteln uns die Empfindungen. So wie
wir nicht das Messer empfinden, das uns schneidet, son-
dern einen Zustand unserer Nerven, der uns schmerzhaft
ersdieint; so empfinden wir audi nidit einen Vorgang der
Aufienwelt, wenn uns Lidit ersdieint, sondern einen Zu-
stand unseres Sehnerven. Draufien mag vorgehen, was
will: der Sehnerv ubersetzt diesen aufier uns liegenden
Vorgang in Lichtempfindung. «Die Empfindung ist nidit
die Leitung einer Qualitat oder eines Zustandes der aufie-
ren Korper zum Bewufitsein, sondern die Leitung einer
Qualitat, eines Zustandes unserer Nerven zum Bewufk-
sein, veranlafit durch eine aufiere Ursadie.» Dies Gesetz
hat Johannes Muller das der spezifischen Sinnesenergien
genannt. Ist es riditig, so haben wir in unseren Beobach-
tungen nichts von der Aufienwelt gegeben, sondern nur
die Summe unserer eigenen Zustande. Was wir wahrneh-
men, hat mit der Aufienwelt nidits zu tun; es ist ein Er-
zeugnis unserer eigenen Organisation. Wir nehmen im
Grunde nur wahr, was in uns ist.
Bedeutende Naturforsdier sehen in diesen Gedanken
eine unwiderlegKche Grundlage ihrer Weltauffassung.
Hermann Helmholtz (1821 — 1894) fand in ihr den Kant-
schen Gedanken, dafi sidi alle unsere Erkenntnisse nidit
auf Dinge aufier uns beziehen, sondern auf Vorgange in
uns (vgl. L Band dieser Weltansdiauungsgesdiichte) ins
Naturwissensdiaftliche ubersetzt. Er ist der Ansidit, dafi
unsere Empfin dungs welt uns nur Zeidien gibt von den
Vorgangen in den Korpern draufien in der Welt. «Idi
habe die Beziehung zwischen der Empfindung und ihrem
Objekte so formulieren zu miissen geglaubt, dafi ich die
Empfindung nur fiir ein Zeidien von der Einwirkung des
Objekts erklarte. Zum Wesen eines Zeidiens gehort nur,
dafi fiir das gleidie Objekt immer dasselbe Zeidien gege-
ben werde. Ubrigens ist gar keine Art von Ahnlidikeit
zwischen ihm und seinem Objekt notig, ebensowenig wie
zwischen dem gesprochenen Worte und dem Gegenstand,
den wir dadurdi bezeichnen. - Wir konnen unsere Sinnes-
eindriicke nicht einmal Bilder nennen; denn das Bild bil-
det Gleiches durch Gleiches ab. In einer Statue geben wir
Korperform durch Korperform, in einer Zeichnung den
perspektivischen Anblick des Objekts durch den gleichen
des Bildes, in einem Gemalde Farbe durch Farbe wieder.»
Verschiedener als Bilder von dem Abgebiideten miissen so-
mit unsere Empfindungen von dem sein, wasdrauften in der
Welt vorgeht. Wir haben es in unserem sinnlichen Welt-
bild nicht mit etwas Objektivem, sondern mit einem ganz
und gar Subjektiven zu tun, das wir selbst aus uns auf-
bauen auf Grund der Wirkungen einer nie in uns dringen-
den Auftenwelt.
Dieser Vorstellungsweise kommt die physikalische Be-
trachtung der Sinneserscheinungen von einer anderen Seite
entgegen. Ein Schall, den wir horen, weist uns auf einen
Korper in der Aufienwelt, dessen Teile sich in einem be-
stimmten Bewegungszustande befinden. Eine gespannte
Saite schwingt, und wir horen einen Ton. Die Saite ver-
setzt die Luft in Schwingungen. Diese breiten sich aus, ge-
langen bis zu unserem Ohre: uns teilt sich eine Tonemp-
findung mit. Der Physiker untersucht die Gesetze, nach
denen draufien die Korperteile sich bewegen, wahrend wir
diese oder jene Tone horen. Man sagt, die subjektive Ton-
empfindung beruht auf der objektiven Bewegung der Kor-
perteilchen. Ahnliche Verhaltnisse sieht der Physiker in
bezug auf die Lichtempfindungen. Auch das Licht beruht
auf Bewegung. Nur wird diese Bewegung nicht durch die
schwingenden Luftteilchen uns uberbracht, sondern durch
die Schwingungen des Athers, dieses feinsten Stoffes, der
alle Raume des Weltalls durchflutet. Durch jeden selbst-
leuchtenden Korper wird der Ather in wellenformige
Schwingungen versetzt, die bis zur Netzhaut unseres
Auges sich ausbreiten und den Sehnerv erregen, der dann
die Empfindung des Lidites in uns hervorruft. Was in un-
serem Weltbilde sich als Licht und Farbe darstellt, das ist
draufien im Raume Bewegung. Schleiden driickt diese An-
sicht mit den Worten aus: «Das Licht aufier uns in der
Natur ist Bewegung des Athers, eine Bewegung kann lang-
sam und schnell sein, diese oder jene Richtung haben, aber
es hat offenbar keinen Sinn, von einer hellen oder dunk-
len, von einer griinen oder roten Bewegung zu sprechen;
kurz: auEer uns, den empflndenden Wesen, gibt es kein
Hell und Dunkel, keine Farben.»
Der Physiker drangt also die Farben und das Licht aus
der Aufienwelt heraus, weil er in ihr nur Bewegung findet;
der Physiologe sieht sich genotigt, sie in die Seele herein-
zunehmen, weil er der Ansicht ist, dafi der Nerv nur sei-
nen eigenen Zustand anzeigt, mag er von was immer er-
regt sein. Scharf spricht die dadurch gegebene Anschauung
H. Taine in seinem Buche «Der Verstand» (Deutsche Aus-
gabe, Bonn 1880) aus. Die aufiere "Wahrnehmung ist, sei-
ner Meinung nach, eine Halluzination. Der Halluzinar,
der drei Schritte weit von sich entfernt einen Totenkopf
sieht, macht genau die gleiche Wahrnehmung wie der-
jenige, der die Lichtstrahlen empfangt, die ihm ein wirk-
licher Totenkopf zusendet. Es ist in uns dasselbe innere
Phantom vorhanden, gleichgiiltig, ob wir einen wirklichen
Totenkopf vor uns haben oder ob wir eine Halluzination
haben. Der einzige Unterschied zwischen der einen und
der anderen Wahrnehmung ist der, dafi in dem einen Fall
die ausgestreckte Hand ins Leere tappt, in dem anderen
auf einen festen Widerstand stofit. Der Tastsinn unter-
stiitzt also den Gesiclitssinn. Aber ist die Untersttitzung
wirklich so, daft durdi sie ein untriigliches Zeugnis iiber-
liefert wird? Was fur den einen Sinn gilt, gilt natiirlich
audi fur den anderen. Audi die Tastempfindungen er-
weisen sich als Halluzinationen. Der Anatom Henle bringt
dieselbe Anschauung in seinen «Anthropologischen Vor-
tragen» (1876) auf den Ausdruck: «Alles, wodurch wir
von einer Auftenwelt unterrichtet zu sein glauben, sind
Formen des Bewufttseins, zu welchen die Auftenwelt sich
nur als anregende Ursache, als Reiz im Sinne der Physio-
logen verhalt. Die Auftenwelt hat nicht Farben, nicht
Tone, nicht Gesdimacke; was sie wirklich hat, erfahren
wir nur auf Umwegen oder gar nicht; was das sei, wo-
durch sie einen Sinn afKziert, erschlieften wir nur aus
ihrem Verhalten gegen die anderen, wie wir beispielsweise
den Ton, d. h. die Sdiwingungen der Stimmgabel mit dem
Auge sehen und mit den Fingern fiihlen; das "Wesen man-
cher Reize, die nur einem Sinne sich offenbaren, zum Bei-
spiel der Reize des Geruchsinns, ist uns noch heute unzu-
ganglich. Die Zahl der Eigenschaften der Materie richtet
sich nach der Zahl und der Scharfe der Sinne; wem ein
Sinn gebricht, dem ist eine Gruppe von Eigensdiaften un-
ersetzlich verloren; wer einen Sinn mehr hatte, besafie ein
Organ zum Erfassen von Qualitaten, die wir so wenig
ahnen, wie der Blinde die Farbe.»
Eine Umschau auf dem Gebiete der physiologischen Li-
teratur aus der zweiten Halfte des neunzehnten Jahr-
hunderts zeigt, da£ diese Anschauung von der subjekti-
ven Natur des Wahrnehmungsbildes weite Kreise gezogen
hat. Man wird da immer wieder auf Variationen des Ge-
dankens stofien, den /. Rosenthal in seiner «Allgemeinen
Physiologie der Muskeln und Nerven» (1877) ausgespro-
chen hat: «Die Empfindungen, welche wir durch aufiere
Eindriicke erhalten, s'md nicht abhangig von der Natur
dieser Eindriicke, sondern von der Natur unserer Nerven-
zellen. Wir empfinden nicht, was auf unseren Korper ein-
wirkt, sondern nur, was in unserem Gehirn vorgeht.»
Inwiefern unser subjektives Weltbild uns Zeichen von
der objektiven Aufienwelt gibt, davon gibt Helmholtz in
seiner «Physiologisdien Optik» eine Vorstellung: «Die
Frage zu stellen, ob der Zinnober wirklich rot sei, wie wir
ihn sehen, oder ob dies nur eine sinnliche Tauschung sei,
ist sinnlos. Die Empfindung von Rot ist die normale Re-
aktion normal gebil deter Augen fur das von Zinnober
reflektierte Licht. Ein Rotblinder wird den Zinnober
schwarz oder dunkelgraugelb sehen; auch dies ist die rich-
tige Reaktion fiir sein besonders geartetes Auge. Er mu£
nur wissen, da£ sein Auge eben anders geartet ist, als das
anderer Menschen. An sich ist die eine Empfindung nicht
richtiger und nicht falscher als die andere, wenn auch die
Rotsehenden eine gro£e Majoritat fiir sich haben. "Ober-
haupt existiert die rote Farbe des Zinnobers nur, insofern
es Augen gibt, die denen der Majoritat der Menschen ahn-
lich beschaffen sind. Genau mit demselben Rechte ist es
eine Eigenschaft des Zinnobers, schwarz zu sein, namlich
fiir die Rotblinden. Uberhaupt ist das vom Zinnober zu-
riickgeworfene Licht an sich durchaus nicht rot zu nennen,
es ist nur fiir bestimmte Arten von Augen rot. - Etwas an-
deres ist es, wenn wir behaupten, da£ die Wellenlangen
des vom Zinnober zuriickgeworfenen Lichtes eine gewisse
Lange haben. Das ist eine Aussage, die wir unabhangig von
der besonderen Natur unseresAuges machen konnen, bei der
es sich dann aber auch nur um Beziehungen zwischen der
Substanz und den verschiedenen Atherwellensystemen
handelt.»
Es ist klar, da8 fiir eine soldie Anschauung die gesamte
Summe der Welterscheinungen in eine Zweiheit ausein-
anderfallt, in eine Welt der Bewegungszustande, die un-
abhangig von der besonderen Natur unseres Wahrneh-
mungsvermogens ist, und in eine Welt subjektiver Zu-
stande, die nur innerbalb der wahrnehmenden Wesen sind.
Scharf pointiert hat diese Anschauung der Physiologe Du
Bois-Reymond in seinem Vortrag «t)ber die Grenzen des
Naturerkennens» auf der fiinfundvierzigsten Versamm-
lung deutscher Naturforscher und Arzte in Leipzig am
14. August 1872 zur Darstellung gebracht. Naturerkennen
ist Zuruckfuhren der von uns wahrgenommenen Vorgange
in der Welt auf Bewegungen der kleinsten Korperteile,
«oder Auflosung der Naturvorgange in Mechanik der
Atome». Denn es ist «eine psychologische Erfahrungstat-
sache, dajS, wo soldie Auflosung gelingt», unser Erkla-
rungsbediirfnis vorlaufig befriedigt ist. Nun sind unser
Nervensystem und unser Gehirn audi korperlicher Natur.
Die Vorgange, die sich in ihnen abspielen, konnen audi
nur Bewegungsvorgange sein. Wenn sidi Ton- oder Licht-
sdiwingungen bis zu meinen Sinnesorganen, und von da
bis in mein Gehirn fortpflanzen, so konnen sie hier auch
nidits sein als Bewegungen. Ich kann nur sagen: in meinem
Gehirn flndet ein bestimmter Bewegungsvorgang statt;
und dabei empfinde ich «rot». Denn wenn es sinnlos ist,
vom Zinnober zu sagen: er sei rot, so ist es nicht minder
sinnlos, von einer Bewegung der Gehirnteile zu sagen, sie
sei hell oder dunkel, grim oder rot. «Stumm und finster
an sich, das heilk eigenschaftslos» ist die Welt fiir die
durdi naturwissenschaftliche Betrachtung gewonnene An-
schauung, welche «statt Schalles und Lichtes nur Schwin-
gungen eines eigenschaftlosen, dort zur wagbaren, hier zur
unwagbaren Materie gewordenen Urstoffes kennt. . . . Das
mosaische: Es ward Licht, ist physiologisch falscli. Licht
ward erst, al-s der erste rote Augenpunkt eines Infusoriums
zum ersten Mai Hell und Dunkel unterschied. Ohne Seh-
und ohne Gehorsinnsubstanz ware diese farbengliihende,
tonende Welt um uns her finster und stumm.» (Grenzen
des Naturerkennens, S. 6f.) Durch die Vorgange in unserer
Seh- und Gehorsinnsubstanz wird also aus der stummen
und finsteren Welt - dieser Ansicht gemafi - eine tonende
und in Farben leuchtende hervorgezaubert. Die finstere
und stumme Welt ist korperlich; die tonende und farbige
Welt ist seelisch. Wodurch erhebt sich die letztere aus der
ersteren; wodurch wird aus Bewegung Empfindung? Hier
zeigt sich uns, meint Du Bois-Reymond, eine «Grenze des
Naturerkennens ». In unserem Gehirn und in der Aufien-
welt gibt es nur Bewegungen; in unserer Seele erscheinen
Empfindungen. Nie werden wir begreifen konnen, wie
das eine aus dem anderen entsteht. «Es scheint zwar bei
oberflachlicher Betrachtung, als konnten durch die Kennt-
nis der materiellen Vorgange im Gehirne gewisse geistige
Vorgange und Anlagen uns verstandlich werden. Ich rechne
dahin das Gedachtnis, den FluE und die Assoziation der
Vorstellungen, die Folgen der "Obung, die spezifischen Ta-
lente und dergleichen mehr. Das geringste Nachdenken
lehrt, dafi dies Tauschung ist. Nur uber gewisse innere Be-
dingungen des Geisteslebens, welche mit den aufieren durch
die Sinneseindriicke gesetzten etwa gleichbedeutend sind,
wiirden wir unterrichtet sein, nicht uber das Zustande-
kommen des Geisteslebens durch diese Bedingungen. -
Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimm-
ten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn
einerseits, anderseits in den fur mich urspriinglichen, nicht
weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsadien:
Ich fiihle Schmerz, fiihle Lust, ich schmecke siift, rieche
Rosenduft, hore Orgelton, sehe Rot, und der ebenso un-
mittelbar daraus fliefSenden Gewifiheit: Also bin ich? Es
ist eben durchaus und fur immer unbegreiflich, da$ es
einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-,
Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgultig sein, wie
sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich beweg-
ten, wie sie liegen und sich bewegen werden.» Es gibt fur
die Erkenntnis keine Briicke von der Bewegung zur Emp-
findung: das ist Du Bois-Reymonds Glaubensbekenntnis.
Wir kommen aus der Bewegung in der materiellen Welt
nicht herein in die seelische Welt der Empfindungen. Wir
wissen, dafi durch bewegte Materie Empfindung entsteht;
jedoch wissen wir nicht, wie das moglich ist. Aber wir
kommen in der Welt der Bewegung audi nicht uber die
Bewegung hinaus. Wir konnen fur unsere subjektiven
Wahrnehmungen gewisseBewegungsformen angeben, weil
wir aus dem Verlauf der Wahrnehmungen auf den Ver-
lauf der Bewegungen schliefien konnen. Doch haben wir
keine Vorstellung, was sich draufien im Raume bewegt.
Wir sagen: die Materie bewegt sich. Wir verfolgen ihre
Bewegungen an den Aussagen unserer seelischen Zustande.
Da wir aber das Bewegte selbst nicht wahrnehmen, son-
dern nur ein subjektives Zeichen davon, konnen wir audi
nie wissen, was Materie ist. Vielleicht wiirden wir, meint
Du Bois-Reymond, audi das Ratsel der Empfindung losen
konnen, wenn erst das der Materie ofTen vor uns lage.
Wiifiten wir, was Materie ist, so wiifiten wir vermutlich
audi, wie sie empfindet. Beides sei unserer Erkenntnis un-
zuganglich. Die iiber diese Grenze hinwegkommen wol-
len, die sollen Du Bois-Reymonds Worte treffen: «M6gen
sie es doch mit dem einzigen anderen Ausweg versuchen,
dem des Supranaturalismus. Nur da£, wo Supranaturalis-
mus anfangt, Wissenschaft aufhort.»
In zwei scharfen Gegensatzen lebt sich die neuere Na-
turwissenschaft aus. Die eine, die monistische Stromung,
scheint auf dem Wege zu sein, aus dem Gebiete der Natur-
erkenntnis heraus zu den wichtigsten Weltanschauungs-
fragen vorzudringen; die andere erklart sidi auBerstande,
mit naturwissenschaftKchen Mitteln weiter zu kommen
als bis zu der Erkenntnis: diesem oder jenem subjektiven
Zustand entspricht dieser oder jener Bewegungsvorgang.
Und scharf steKen sich die Vertreter beider Stromungen
gegeniiber. Du Bois-Reymond hat Haeckels «Schopfungs-
geschichte» als einen Roman abgetan. (Vgl. Du Bois-Rey-
monds Rede «Darwin versus Galiani».) Die Stammbaume,
die Haeckel auf Grund der vergleichenden Anatomie, der
Keimungsgeschichte und der Palaontologie entwirft, sind
ihm «etwa so viel wert, wie in den Augen der historischen
Kritik die Stammbaume homerischer Helden». Haeckel
aber sieht in Du Bois-Reymonds Anschauung einen un-
wissenschaftlichen Dualismus, der naturgemaft den riick-
schrittlichen Weltbetrachtungen eine Stiitze liefern mufi.
«Der Jubel der Spiritualisten» iiber Du Bois-Reymonds
,Grenzrede' «war urn so heller und berechtigter, als E. Du
Bois-Reymond bis dahin als bedeutender prinzipiellei*
Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus gegolten
hat.»
Was viele fur die Zweiteilung der Welt in auftere Vor-
gange der Bewegungen und in innere (subjektive) der Emp-
flndung und Vorstellung gefangen nimmt, das ist die An-
wendbarkeit der Mathematik auf die erste Art von Vor-
gangen. Wenn man materielle Teile (Atome) mit Kraften
annimmt, so kann man berechnen, wie sich diese Atome
unter dem Einflufl dieser Krafte bewegen miissen. Man
hat das Anziehende, das die Astronomie mit ihren stren-
gen rechnerischen Methoden hat, in das Kleinste der Kor-
per hineingetragen. Der Astronom berechnet aus den Ge-
setzen der Himmelsmechanik die Art, wie sich die Welt-
korper bewegen. In der Entdeckung des Neptun hat man
einen Triumph dieser Himmelsmechanik erlebt. Auf solche
Gesetze, wie die Bewegungen der Himmelskorper, kann
man nun auch die Bewegungen bringen, welche in der
aufieren Welt vor sich gehen, wenn wir einen Ton horen,
eine Farbe sehen; man wird vielleicht einmal die Bewe-
gungen, die sich in unserem Gehirn abspielen, berechnen
konnen, wahrend wir das Urteil fallen: zweimal zwei ist
vier. In dem Augenblicke, wo man alles berechnen kann,
was sich auf ftechnungsformeln bringen lalk, ist die Welt
mathematisch erklart. Laplace hat in seinem «Essai philo-
sophique sur les Probabilites» (1814) eine bestrickende
Schilderung des Ideals einer solchen Welterklarung gege-
ben: «Ein Geist, der fur einen gegebenen Augenblick alle
Krafte kennt, welche die Natur beleben, und die gegen-
seitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst
er umfassend genug ware, um diese Angaben der Analyse
zu unterwerfen, wiirde in derselben Formel die Bewegun-
gen der grolken Weltkorper und des leichtesten Atoms
begreifen: nichts ware ungewifi fiir ihn, und Zukunft wie
Vergangenheit ware seinem Blicke gegenwartig. Der
menschliche Verstand bietet in der Vollendung, die er der
Astronomie zu geben gewufit hat, ein schwaches Abbild
eines solchen Geistes dar.» Und Du Bois-Reymond sagt
anschlieftend an diese Worte: «Wie der Astronom den Tag
vorhersagt, an dem nach Jahren ein Komet aus den Tiefen
des Weltraumes am Himmelsgewolbe wieder auftaucht,
so lase jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das
griechische Kreuz von der Sophienmoschee blitzen oder da
England seine letzte Steinkohle verbrennen wird.»
Es kann nicht bezweifelt werden, dafi ich audi durch
die vollkommenste mathematische Kenntnis eines Bewe-
gungsvorgangs nichts gewinne, was mich dariiber aufklart,
warum dieser Bewegungsvorgang als rote Farbe auftritt.
Wenn eine Kugel an eine andere stofit, so konnen wir -
so scheint es - die Richtung der zweiten Kugel erklaren.
Wir konnen mathematisch angeben, was fur eine Bewe-
gung aus einer anderen entsteht. "Wir konnen aber nicht
in dieser Weise angeben, wie aus einer bestimmten Be-
wegung die rote Farbe hervorgeht. Wir konnen nur sa-
gen: Wenn diese oder jene Bewegung vorhanden ist, ist
diese oder jene Farbe vorhanden. Wir konnen in diesem
Falle nur eine Tatsache beschreiben. Wahrend wir also das
rechnerisch Bestimmbare - scheinbar im Gegensatze zur
blofien Beschreibung - erklaren konnen, kommen wir allem
gegeniiber, was sich der Rechnung entzieht, nur zu einer
Beschreibung.
Ein bedeutungs voiles wissenschaftliches Bekenntnis hat
Kirchhoff getan, als er 1874 die Aufgabe der Mechanik
in die Worte fafite, sie solle «die in der Natur vor sich
gehenden Bewegungen vollstandig und auf die einfachste
Weise beschreiben. » Die Mechanik bringt die Mathematik
zur Anwendung. KirchhofT bekennt, dafi mit Hilfe der
Mathematik nichts erreicht werden kann, als eine vollstan-
dige und einfache Beschreibung der Vorgange in der Na-
tur.
Fiir diejenigen Personlichkeiten, die von einer Erkla-
rung etwas wesentlich anderes verlangen als erne Beschrei-
bung nach gewissen Gesichtspunkten, konnte das Kirch-
hofFsdie Bekenntnis als eine Bestatigung ihrer Ansicht
dienen, dafi es «Grenzen des Naturerkennens» gabe. Du
Bois-Reymond preist die «weise Zuriickhaltung des Mei-
sters» (Kirchhoffs), der als Aufgabe der Mechanik hin-
stellt, die Bewegungen der Korper zu beschreiben, und
stellt sie in Gegensatz zu Ernst Haeckel, der von «Atom-
Seelen» spreche.
Einen bedeutungsvollen Versuch, die Weltanschauung
auf die Vorstellung aufzubauen, daft alles, was wir wahr-
nehmen, nur das Ergebnis unserer eigenen Organisation
sei, hat Friedrich Albert Lange (1828 — 1875) mit seiner
«Geschichte des Materialismus» (1866) gemacht. Er hatte
die Kiihnheit und vor nichts haltmachende Konsequenz,
diese Grundvorstellung wirklich zu Ende zu denken. Lan-
ges Starke lag in einem scharf und moglichst allseitig sich
auslebenden Charakter. Er war eine von den Personlich-
keiten, die vieles ergreifen konnen und fiir das Ergriffene
mit ihrem Konnen ausreichen.
Und bedeutend wurde die mit Zuhilfenahme der neue-
ren Naturwissenschaft von ihm besonders wirksam erneu-
erte Kantsche Vorstellungsart, da£ wir die Dinge wahr-
nehmen, nicht wie sie es verlangen, sondem wie es von
unserer Organisation gefordert wird. Lange hat im Grunde
keine neuen Vorstellungen produziert; aber er hat in ge-
gebene Gedankenwelten mit einem Licht hineingeleuchtet,
das an Helligkeit etwas Seltenes hat. Unsere Organisation,
unser Gehirn mit den Sinnen bringt die Welt unserer Emp-
findungen hervor. Ich sehe «blau», ich fiihle «Harte», weil
idi so und so organisiert bin. Aber ich verbinde audi die
Empfindungen zu Gegenstanden. Aus den Empfindungen
des «Weifien» und «Weichen» usw. verbinde idi zum Bei-
spiel die Vorstellung des Wachses. Wenn ich meine Emp-
findungen denkend betrachte, so bewege ich mich in keiner
Aufienwelt. Mein Verstand bringt Zusammenhang in
meine Empfindungswelt, nach meinen Verstandesgesetzen.
Wenn ich sage, die Eigenschaften, die ich an einem Kor-
per wahrnehme, setzen eine Materie voraus mit Bewe-
gungsvorgangen, so komme ich audi nicht aus mir heraus.
Ich finde mich durdi meine Organisation genotigt, zu den
Empfindungen, die ich wahrnehme, materielle Bewegungs-
vorgange hinzuzudenken. Derselbe Mechanismus, welcher
unsere samtlichen Empfindungen hervorbringt, erzeugt
audi unsere Vorstellung von der Materie. Die Materie ist
ebensogut nur Produkt meiner Organisation wie die Farbe
oder der Ton. Audi wenn wir von Dingen an sich spre-
chen, mussen wir uns klar dariiber sein, dafi wir damit
nicht aus unserem eigenen Bereiche hinauskommen kon-
nen. "Wir sind so eingerichtet, dafi wir unmoglich aus uns
heraus konnen. Ja, wir konnen uns audi das, was jenseits
unseres Bereiches liegt, nur durch unsere Vorstellung ver-
gegenwartigen. Wir spiiren eine Grenze unseres Bereiches;
wir sagen uns, jenseits der Grenze mufi etwas sein, was in
uns Empfindungen bewirkt. Aber wir kommen nur bis zur
Grenze. Audi diese Grenze setzen wir uns selbst, weil wir
nicht weiter konnen. «Der Fisch im Teiche kann im Was-
ser schwimmen, nicht in der Erde; aber er kann doch mit
dem Kopf gegen Boden und Wande stofien.» So konnen
wir innerhalb unseres Vorstellungs- und Empfindungs-
wesens leben, nicht aber in aufieren Dingen; aber wir sto-
fien an eine Grenze, wo wir nicht weiter konnen, wo wir
uns nicht mehr sagen diirfen als: Jenseits liegt das Unbe-
kannte. Alle Vorstellungen, die wir uns iiber dieses Unbe-
kannte machen, sind unberechtigt; denn wir konnten doch
nichts tun, als die in uns gewonnenen Vorstellungen auf
das Unbekannte iibertragen. Wir waren, wenn wir solches
tun wollten, genau so klug wie der Fisch, der sich sagt:
Hier kann ich nicht weiter, also ist von da ab ein anderes
Wasser, in dem ich anders zu schwimmen probieren will.
Er kann eben nur im Wasser sdiwimmen und nirgends
anders.
Nun aber kommt eine andere Wendung des Gedankens.
Sie gehort zu der ersten. Lange bat sie als Geist von un-
erbittlidiem Folgerichtigkeitsdrang , herangezogen. Wie
steht es denn mit mir, wenn ich mich selbst betrachte? Bin
ich denn dabei nicht ebensogut an die Gesetze meiner eige-
nen Organisation gebunden, wie wenn ich etwas anderes
betrachte? Mein Auge betrachtet den Gegenstand, viel-
mehr: es erzeugt ihn. Ohne Auge keine Farbe. Ich glaube
einen Gegenstand vor mir zu haben und finde, wenn ich
genauer zusehe, dafi mein Auge, also ich, den Gegenstand
erzeuge. Nun aber will ich mein Auge selbst betrachten.
Kann ich das anders als wieder mit meinen Organen? Ist
also nicht auch die Vorstellung, die ich mir von mir selbst
mache, nur meine Vorstellung? Die Sinnenwelt ist Pro-
dukt unserer Organisation. Unsere sichtbaren Organe
sind gleich alien anderen Teilen der Erscheinungswelt nur
Bilder eines unbekannten Gegenstandes. Unsere wirkliche
Organisation bleibt uns daher ebenso verborgen wie die
wirklichen Aufiendinge. Wir haben stets nur das Produkt
von beiden vor uns. Wir erzeugen auf Grund einer uns
unbekannten Welt aus einem uns unbekannten Ich heraus
eine Vorstellungswelt, die alles ist, womit wir uns be-
schaftigen konnen.
Lange fragt sich: Wohin fuhrt der konsequente Mate-
rialismus? Es sei, dafi alle unsere Verstandessdilusse und
Sinnesempfindungen durdi die Tatigkeit unseres an mate-
rielle Bedingungen gebundenen Gehirnes und der ebenfalls
materiellen Organe hervorgebradit werden. Dann stehen
wir vor der Notwendigkeit, unseren Organismus zu unter-
suchen, um zu sehen, wie er tatig ist. Das konnen wir nur
wieder mit unseren Organen. Keine Farbe ohne Auge;
aber audi kein Auge ohne Auge. «Die konsequent mate-
rialistisdie Betrachtung schlagt dadurch sofort um in eine
konsequent idealistische. Es ist keine Kluft in unserem
Wesen anzunehmen. Wir haben nicht einzelne Funktio-
nen unseres Wesens einer physischen, andere einer geisti-
gen Natur zuzuschreiben, sondern wir sind in unserem
Recht, wenn wir fur alles, audi fiir den Mechanismus des
Denkens, physische Bedingungen voraussetzen und nicht
rasten, bis wir sie gefunden haben. Wir sind aber nicht
minder in unserem Recht, wenn wir nicht nur die uns er-
scheinende Aufienwelt, sondern audi die Organe, mit
denen wir diese auffassen, als blofie Bilder des wahrhaft
Vorhandenen betrachten. Das Auge, mit dem wir zu sehen
glauben, ist selbst nur ein Produkt unserer Vorstellung,
und wenn wir finden, dafi unsere Gesichtsbilder durch die
Einrichtung des Auges hervorgerufen werden, so diirfen
wir nie vergessen, dafi audi das Auge samt seinen Ein-
richtungen, der Sehnerv samt dem Hirn und all den Struk-
turen, die wir dort nodi etwa als Ursadien des Denkens
entdecken mochten, nur Vorstellungen sind, die zwar eine
in sich selbst zusammenhangende Welt bilden, jedoch eine
Welt, die iiber sich selbst hinausweist. . . . Die Sinne geben
uns, wie Helmholtz sagt, Wirkungen der Dinge, nicht ge-
treue Bilder, oder gar die Dinge selbst. Zu diesen bloften
Wirkungen gehoren aber audi die Sinne selbst samt dem
Hirn und den in ihm gedaditen Molekularbewegungen».
(Geschichte des Materialismus, S. 734 f.) Lange nimmt des-
halb eine Welt jenseits der unsrigen an, moge diese nun
auf Dingen an sich selbst beruhen, oder moge sie in irgend
etwas bestehen, was nidit einmal mit dem «Ding an sich»
etwas zu tun hat, da ja selbst dieser Begriff, den wir uns
an der Grenze unseres Bereidies bilden, nur unserer Vor-
stellungswelt angehort.
Langes Weltanschauung fiihrt also zu der Meinung, daft
wir nur eine Vorstellungswelt haben. Diese aber zwingt
uns, ein Etwas jenseits ihrer selbst gelten zu lassen; sie er-
weist sich aber audi ganz ungeeignet, iiber dieses Etwas
eine irgendwie geartete Aussage zu machen. Dies ist die
Weltanschauung des absoluten Niditwissens, des Agnosti-
zismus.
Daft alles wissenschaftlidie Streben unfruchtbar bleiben
mufi, das sich nicht an die Aussagen der Sinne und an den
logischen Verstand halt, der diese Aussagen verkniipft:
dies ist Langes Oberzeugung. Daft aber Sinne und Ver-
stand zusammen uns nichts liefern als ein Ergebnis unse-
rer eigenen Organisation, ist ihm aus seinen Betrachtungen
iiber den Ursprung der Erkenntnis klar. Die Welt ist ihm
also im Grunde eine Dichtung der Sinne und des Verstan-
des. Diese Meinung bringt ihn dazu, den Ideen gegeniiber
gar nidit mehr die Frage nach ihrer Wahrheit aufzuwer-
fen. Eine Wahrheit, die uns iiber das Wesen der Welt
aufklart, erkennt Lange nicht an. Nun glaubt er gerade
dadurdi, daft er den Erkenntnissen der Sinne und des Ver-
standes keine Wahrheit zuzugestehen braudit, audi die
Bahn frei zu bekommen fiir die Ideen und Ideale, die sich.
der menschliche Geist iiber das hinaus bildet, was ihm
Sinne und Verstand geben. Unbedenklich halt er alles, was
iiber die sinnliche Beobachtung und verstandesmaftige Er-
kenntnis hinausgeht, fiir Erdichtung. Was immer ein idea-
listischer Philosoph erdacht hat iiber das Wesen der Tat-
sachen: es ist Dichtung. Notwendig entsteht durch die
Wendung, die Lange dem Materialismus gegeben hat, die
Frage: Warum sollten die hdheren Ideendichtungen nicht
gelten, da dodi die Sinne selbst diditen? Wodurch unter-
scheidet sich die eine Dichtungsart von der anderen? Es
mufi fiir den, der so denkt, ein ganz anderer Grund vor-
handen sein, warum er eine Vorstellung gelten lafit, als
fiir den, der glaubt, sie gelten lassen zu miissen, weil sie
wahr ist. Und Lange findet diesen Grund darin, daft eine
Vorstellung Wert fiir das Leben hat. Nicht darauf komme
es an, daft eine Vorstellung wahr ist; sondern darauf, daft
sie fiir den Menschen wertvoll ist. Nur eines mufi deutlich
erkannt werden: daft ich eine Rose rot sehe, daft ich die
Wirkung mit der Ursache verkniipfe, habe ich mit alien
empfindenden und denkenden Geschopfen gemein. Meine
Sinne und mein Verstand konnen sich keine Extrawerte
schaffen. Gehe ich aber iiber dasjenige hinaus, was Sinne
und Verstand dichten, dann bin ich nicht mehr an die Or-
ganisation der ganzen menschlichen Gattung gebunden.
Schiller, Hegel, Hinz und Kunz sehen eine Blume auf
gleiche Weise; was Schiller iiber die Blume dichtet, was
Hegel iiber sie denkt, dichten und denken Hinz und Kunz
nicht in der gleichen Weise. So wie aber Hinz und Kunz
im Irrtum sind, wenn sie ihre Vorstellung von der Blume
fiir eine aufier ihnen befmdliche Wesenheit halten: so
waren Schiller und Hegel im Irrtum, wenn sie ihre Ideen
fur etwas anderes ansahen, denn als Dichtungen, die
ihrem geistigen Bediirfnisse entspredien. "Was die Sinne
und der Verstand diditen, gehort der ganzen mensdilichen
Gattung an; keiner kann da von dem anderen abweichen.
Was iiber Sinnes- und Verstandesdichtung hinausgeht, ist
Sadie des einzelnen Individuums. Aber dieser Dichtung
des Individuums spricht Lange doch einen Wert audi fiir
die ganze mensdilidie Gattung zu, wenn der einzelne,
welcher «sie erzeugt, reich und normal begabt und in sei-
ner Denkweise typisch, durch seine Geisteskraft zum Fuh-
rer berufen ist». So vermeint Lange dadurch der idealen
Welt ihren Wert zu sichern, daft er audi die sogenannte
wirklidie zur Dichtung macht. Er sieht uberall, wohin
wir blicken konnen, nur Dichtung, von der untersten Stufe
der Sinnesansdiauung, auf der «das Individuum noch ganz
an die Grundlage der Gattung gebunden erscheint, bis
hinauf zu dem schopferischen Walten in der Poesie». «Man
kann die Funktionen der Sinne und des verkniipf en den
Verstandes, welche uns die Wirklichkeit erzeugen, im ein-
zelnen niedrig nennen gegeniiber dem hohen Fluge des
Geistes in der frei schaffenden Kunst. Im ganzen aber und
in ihrem Zusammenhange lassen sie sich keiner anderen
Geistestatigkeit unterordnen. So wenig unsere Wirklich-
keit eine Wirklichkeit nadi dem Wunsche unseres Herzens
ist, so ist sie doch die feste Grundlage unserer ganzen gei-
stigen Existenz. Das Individuum wadist aus dem Boden
der Gattung hervor, und das allgemeine und notwendige
Erkennen bildet die einzig sichere Grundlage fiir die Er-
hebung des Individuums zu einer asthetischen Auffassung
der Welt.» (Geschichte des Materialismus, 1887, S. 824 f.)
Nicht das sieht Lange als den Irrtum der idealistischen
Weltanschauungen an, daft diese nut ihren Ideen iiber die
Sinnes- und Verstandeswelt hinausgegangen sind, sonde rn
ihren Glauben, daft mit diesen Ideen mehr erreicht ist als
individuelle Dichtung. Man soli sich eine ideale Welt auf-
bauen; aber man soli sidi bewufit sein, dafi diese Ideal-
welt nichts weiter ist als Dichtung. Behauptet man, sie sei
mehr, so wird immer wieder und wieder der Materialis-
mus auftauchen, der da sagt: Ich habe die Wahrheit; der
Idealismus ist Dichtung. Wohlan, sagt Lange, der Idealis-
mus ist Dichtung, aber audi der Materialismus ist Dich-
tung. Im Idealismus dichtet das Individuum, im Materia-
lismus die Gattung. Sind sich beide ihrer Wesenheit be-
wufit, so ist alles in Ordnung: die Sinnes- und Verstandes-
wissenschaft mit ihren strengen, fiir die ganze Gattung
bindenden Beweisen, die Ideendichtung mit ihren vom In-
dividuum erzeugten, aber doch fiir die Gattung wertvol-
len hoheren Vorstellungswelten. «Eins ist sicher: daft der
Mensch einer Erganzung der Wirklichkeit durch eine von
ihm selbst geschaffene Idealwelt bedarf, und dafi die hoch-
sten und edelsten Funktionen seines Geistes in solchen
Schopfungen zusammenwirken. Soli aber diese freieTat des
Geistes immer und immer wieder die Truggestalt einer
beweisenden Wissenschaft annehmen? Dann wird auch
der Materialismus immer wieder hervortreten und die
kiihneren Spekulationen zerstoren, indem er dem Ein-
heitstriebe der Vernunft mit einem Minimum von Erhe-
bung iiber das Wirkliche und Beweisbare zu entsprechen
sucht». (Geschidite des Materialismus, S. 828.)
Ein vollstandiger Idealismus geht bei Lange neben einem
vollstandigen Aufgeben der Wahrheit einher. Die Welt
ist ihm Dichtung, aber eine Dichtung, die er als solche
nicht geringer schatzt, als wenn er sie fiir Wirklichkeit
erkennen konnte.
Zwei Stromungen mit scharf ausgepragtem naturwissen-
schaftlichen Charakter stehen innerhalb der modernen
Weltanschauungsentwickelung einander schroff gegeniiber.
Die monisnsche, in der sich die Vorstellungsart Haeckels
bewegt, und eine dualistische, deren energischster und kon-
sequentester Verteidiger Friedrich Albert Lange ist. Der
Monismus sieht in der Welt, die der Mensdi beobachten
kann, eine wahre Wirklichkeit und zweifelt nidit daran,
daft er mit seinem an die Beobachtung sich haltenden Den-
ken auch Erkenntnisse von wesenhafter Bedeutung iiber
diese Wirklichkeit gewinnen kann. Er bildet sich nicht
ein, mit einigen kiihn erdachten Formeln das Grundwesen
der Welt erschdpfen zu konnen; er schreitet an der Hand
von Tatsachen vorwarts und bildet sich Ideen iiber die
Zusammenhange dieser Tatsachen. Von diesen seinen Ideen
ist er aber iiberzeugt, daft sie ihm ein Wissen von einem
wahren Dasein geben. Die dualistische Anschauung Lan-
ges teilt die Welt in ein Bekanntes und in ein Unbekann-
tes. Das erste behandelt sie in ebenderselben Art wie der
Monismus, am Leitfaden der Beobachtung und des be-
trachtenden Denkens. Aber sie hat den Glauben, dafi durch
diese Beobachtung und durch dieses Denken iiber den wah-
ren Wesenskern der Welt nicht das Geringste gewufk wer-
den kann. Der Monismus glaubt an die Wahrheit des
Wirklichen und sieht die beste Stutze f\ir die menschliche
Ideenwelt darin, da£ er diese fest auf die Beobachtungs-
welt griindet. In den Ideen und Idealen, die er aus dem
natiirlichen Dasein schopft, sieht er Wesenheiten, die sein
Gemiit, sein sittliches Bediirfnis voll befriedigen. In der
Natur findet er das hochste Dasein, das er nicht nur den-
kend erkennen will, sondern an das er eine herzliche Hin-
gabe, seine ganze Liebe verschenkt. Langes Dualismus halt
die Natur fur ungeeignet, des Geistes hochste Bediirfnisse
zu befriedigen. Er mufi fiir diesen Geist eine besondere
Welt der hoheren Dichtung annehmen, die ihn uber das
hinausfiihrt, was Beobaditung und Denken offenbaren.
Dem Monismus ist in der wahren Erkenntnis ein hochster
Geisteswert gegeben, der wegen seiner Wahrheit dem
Menschen audi das reinste sittliche und religiose Pathos
verleiht. Dem Dualismus kann die Erkenntnis eine solche
Befriedigung nidit gewahren. Er mufi den Wert des Le-
bens an anderen Wesenheiten als an der Wahrheit ab-
messen. Die Ideen haben nicht Wert, weil sie aus der Wahr-
heit sind, Sie haben Wert, weil sie dem Leben in seinen
hochsten Formen dienen. Das Leben wird nicht an den
Ideen gewertet, sondern die Ideen werden an ihrer Frucht-
barkeit fiir das Leben bewertet. Nicht wahre Erkenntnisse
strebt der Mensch an, sondern wertvolle Gedanken.
In der Anerkennung der naturwissenschaftlichen Denk-
weise stimmt Friedrich Albert Lange mit dem Monismus
insofern iiberein, als er jeder anderen Quelle fur die Er-
kenntnis des Wirklichen ihre Berechtigung bestreitet; nur
spricht er dieser Denkweise jede Fahigkeit ab, ins Wesen-
hafte der Dinge zu dringen. Damit er sich auf sicherem
Boden bewege, beschneidet er der menschlichen Vorstel-
lungsart die Fliigel. Was Lange auf eindringliche Art tut,
entspricht einer tief in der Weltanschauungsentwickelung
der neueren Zeit wurzelnden Gedankenneigung. Dies zeigt
sich mit vollkommener Klarheit audi auf einem anderen
Gebiet der Ideenwelt des neunzehnten Jahrhunderts.
Durch verschiedene Phasen hindurch entwidkelt sich diese
Ideenwelt zu Gesiditspunkten, von denen aus Herbert
Spencer ungefahr um dieselbe Zeit in England wie Lange
in Deutschland einen Dualismus begriindet, der auf der
einen Seite vollstandige naturwissensdiaftliche Welt-
erkenntnis anstrebt, auf der anderen Seite gegeniiber dem
Wesen des Daseins sich zum Agnostizismus bekennt. Als
Darwin sein Werk von der «Entstehung der Arten» er-
sdieinen liefi und damit dem Monismus eine seiner festen
Stiitzen iiberlieferte, konnte er die naturwissensdiaftliche
Denkart Spencers ruhmend anerkennen: «In einem seiner
Essays (1852) stellt Herbert Spencer die Theorie der
Schopfung und die der organischen Entwickelung in merk-
wiirdig geschickter und wirksamer Weise einander gegen-
iiber. Er schliefit aus der Analogie mit den Ziichtungspro-
dukten, aus der Veranderung, der die Embryonen vieler
Arten unterliegen, aus der Schwierigkeit, Art von Varie-
tat zu unterscheiden, und aus dem Grundsatz einer allge-
meinen Stufenreihe, dafi Arten abgeandert worden sind.
Diese Abanderungen macht er von den veranderten Ver-
haltnissen abhangig. Der Verfasser hat audi (1855) die
Psychologie nach dem Prinzip der notwendig stuf enweisen
Erwerbung jeder geistigen Kraft und Fahigkeit behan-
delt.» Wie der Begriinder der modernen Ansicht von den
Lebensvorgangen, so fuhlen sich audi andere naturwissen-
schaftlich Denkende zu Spencer hingezogen, der die Wirk-
lichkeit von der unorganischen Tatsache bis in die Psycho-
logie herauf in der Richtung zu erklaren strebt, die in obi-
gem Ausspruch Darwins zum Ausdruck kommt. Spencer
steht aber audi auf der Seite der Agnostiker, so dafl Fried-
rich Albert Lange sagen darf : «Herbert Spencer huldigt>
unserem eignen Standpunkt verwandt, einem Materialis-
mus der Erscheinung, dessen relative Berechtigung in der
Naturwissenschaft ihre Sdiranken findet an dem Gedan-
ken eines unerkennbaren AbsoIuten.»
Man darf sicli vorstellen, daft Spencer von ahnlichen
Ausgangspunkten wie Lange zu seinem Standpunkt ge-
fuhrt worden ist. Ihm gingen in der Gedankenentwicke-
lung Englands Geister voran, die von einem doppelten In-
teresse geleitet waren. Sie wollten bestimmen, was der
Mensch an seiner Erkenntnis eigentlich besitzt. Sie woll-
ten aber audi das Wesenhafte der Welt durch keine Zwei-
fel und durch keine Vernunft erschiittern. In mehr oder
weniger ausgesprochener Weise waren sie alle von der
Empfindung beherrscht, die Kant zum Ausdruck bringt,
wenn er sagt: «Ich muftte das Wissen aufheben, um zum
Glauben Platz zu bekommen.» (Vgl. Band I. dieser Welt-
anschauungsgeschichte, S. 146 ff.)
Vor dem Eingange der Weltanschauungsentwickelung
des neunzehnten Jahrhunderts steht in England Thomas
Reid (17 10 — 1796). Es bildet den Grundzug der Uber-
zeugung dieses Mannes, was audi Goethe als seine An-
schauung mit den Worten ausspricht: «Es sind am Ende
doch nur, wie mich dtinkt, die praktischen und sich selbst
rektifizierenden Operationen des gemeinen Menschenver-
standes, der sich in einer hoheren Sphare zu iiben wagt.»
(Vgl. Goethes Werke, Band 36, S. 595 in Kiirschners
Deutscher National-Literatur.) Dieser gemeine Menschen-
verstand zweifelt nicht daran, dafi er es mit wirklichen,
wesenhaften Dingen und Vorgangen zu tun habe, wenn
er die Tatsachen der Welt betrachtet. Reid sieht nur eine
solche Weltanschauung fiir iebensfahig an, die an dieser
Grundansicht des gesunden Menschenverstandes festhalt.
Wenn man selbst zugabe, dafi uns unsere Beobachtung
tauschen konne, und das wahre Wesen der Dinge ein ganz
anderes ware als uns Sinne und Verstand sagen, so brauch-
ten wir uns urn eine solche Moglichkeit nicht zu kiimmern.
Wir kommen im Leben nur zurecht, wenn wir unserer Be-
obaditung glauben; alles weitere geht uns nichts an. Von
diesem Gesichtspunkte aus glaubt Reid zu wirklich befrie-
digenden Wahrheiten zu kommen. Er sucht nicht durch
komplizierte Denkverrichtungen zu einer Anschauung iiber
die Dinge zu kommen, sondern durch Zuriickgehen auf
die von der Seele instinktiv angenommenen Ansichten.
Und instinktiv, unbewufk, besitzt die Seele schon das
Richtige, bevor sie es unternimmt, mit der Fackel des Be-
wufkseins in ihre eigene Wesenheit hineinzuleuchten. In-
stinktiv weifi sie, was sie von den Eigenschaften und Vor-
gangen in der Korperwelt zu halten hat; instinktiv ist ihr
aber auch die Richtung ihres moralischen Verhaltens, ein
Urteil iiber Gut und Bose eigen. Reid lenkt das Denken,
durch seine Berufung auf die dem gesunden Menschenver-
stand eingeborenen Wahrheiten, auf die Beobachtung der
Seele hin. Dieser Zug nach Seelenbeobachtung bleibt fort-
an der englischen Weltanschauungsentwickelung eigen.
Hervorragende Personlichkeiten, die innerbalb dieser Ent-
wickelung stehen, sind William Hamilton (1788 — 1856),
Henry Mansel (1820 — 1871), William Whewell (1794 bis
i$66), John Herschel (1792— 1 871), James Mill (1773
bis 1836), John Stuart Mill (1806 — 1873), Alexander Bain
(18 18 — 1903), Herbert Spencer (1820 — 1903). Sie alle
stellen die Psychologie in den Mittelpunkt ihrer Welt-
anschauung.
Auch fur Hamilton gilt als wahr, was die Seele ur-
spriinglich als wahr anzunehmen sich genotigt findet. Ur-
spriinglichen Wahrheiten gegemiber hort das Beweisen
und Begreifen auf; man kann einfach ihr Auftauchen am
Horizonte des Bewufttseins feststellen. Sie sind in diesem
Sinne unbegreiflich. Aber es gehort zu den urspriinglichen
Aussagen des Bewufltseins auch die, dafi ein jegliches Ding
in dieser Welt von etwas abhangig ist, das wir nicht ken-
nen. Wir finden in der Welt, in der wir leben, nur ab-
hangige Dinge, nirgends ein unbedingt unabhangiges. Ein
solches mufi es aber doch geben. Wenn Abhangiges ange-
troffen wird, mufi ein Unabhangiges vorausgesetzt wer-
den. Mit unserem Denken kommen wir in das Unabhan-
gige nicht hinein. Das mensdiliche Wissen ist auf das Ab-
hangige berechnet und verwickelt sich in Widerspruche,
wenn es seine Gedanken, die fur Abhangiges sehr wohl
geeignet sind, auf Unabhangiges anwendet. Das Wissen
mufi also abtreten, wenn wir an den Eingang zum Unab-
hangigen kommen. Der religiose Glaube ist da an seinem
Platze. Durch das Bekenntnis, dafi er von dem Wesens-
kern der Welt nichts wissen kann, kann der Mensch erst
ein moralisches Wesen sein. Er kann einen Gott annehmen,
der in der Welt eine moralische Ordnung bewirkt. Keine
Logik kann diesen Glauben an einen unendlichen Gott
rauben, sobald erkannt ist, dafi alle Logik sich nur auf
Abhangiges, nicht auf Unabhangiges richtet. - Mansel ist
Schiiler und Fortsetzer Hamiltons. Er kleidet dessen An-
sichten nur in noch extremere Formen. Man geht nicht zu
weit, wenn man sagt, Mansel ist ein Advokat des Glau-
bens, der nicht unparteiisch zwischen Religion und Wissen
urteilt, sondern parteiisch fur das religiose Dogma eintritt.
Er ist der Ansicht, dafi die religiosen Offenbarungswahr-
heiten unbedingt das Erkennen in Widerspruche verwik-
keln. Das riihre aber nicht von einem Mangel in den OfTen-
barungswahrheiten her, sondern davon, daft der mensdi-
liche Geist begrenzt sei und niemals in die Regionen kom-
AA7
men konne, iiber die die Offenbarung Aussagen macht. -
William Whewell glaubt am besten dadurch eine Ansicht
fiir die Bedeutung, den Ursprung und Wert des mensch-
Iidien Wissens zu erlangen, dafi er untersucht, wie bahn-
brechende Geister der Wissenschaften zu ihren Erkennt-
nissen gelangt sind. Seine «Geschichte der induktiven Wis-
senschaften» (1837) und seine «PhiIosophie der indukti-
ven Wissenschaften » (1840) gehen darauf aus, die Psycho-
logie des wissenscliaftlichen Forschens zu durdischauen.
An den hervorragenden wissenschaftlichen Entdeckungen
sucht er zu erkennen, wieviel von unseren Vorstellungen
der Aufienwelt und wieviel dem Menschen selbst ange-
hort. Whewell findet, dafi die Seele in jeglicher Wissen-
schaft die Beobachtung aus eigenem erganzt. Kepler hatte
den BegrifT der Ellipse, bevor er fand, dafi die Planeten
sich in Ellipsen bewegen. Die Wissenschaften kommen also
nicht durch bloftes Empfangen von aufien, sondern durdi
tatiges Eingreifen des Menschengeistes zustande, der seine
Gesetze dem Empfangenen einpragt. Aber die Wissen-
sdiaften reichen nidit bis zu den letzten Wesenheiten der
Dinge, Sie beschaftigen sich mit den Einzelheiten der Welt.
Wie man aber fiir jedes einzelne Ding zum Beispiel eine
Ursache annimmt, mufi man eine solche auch fiir die ganze
Welt voraussetzen. Da einer solchen gegeniiber das Wis-
sen versagt, mufi das religiose Dogma erganzend eintre-
ten. Wie Whewell sucht audi Herscbel eine Ansicht iiber
das Zustandekommen des Wissens im menschlichen Geiste
durch Betrachtung zahlreicher Beispiele zu gewinnen. («A
Preliminary Discourse on the Study of Natural Philo-
sophy » ist 1 83 1 erschienen.)
John Stuart Mill gehort zum Typus derjenigen Denker,
die von der Empflndung durchdrungen sind: man konne
nicht vorsiditig genug scin, wenn es sich um Feststellung
dessen handelt, was in der mensdilichen Erkenntnis gewifl,
was ungewi£ ist. Dafi er schon im Knabenalter in die ver-
schiedensten Zweige des Wissens eingefiihrt wurde, diirfte
seinem Geiste das ihm eigentumliche Geprage gegeben ha-
ben. Er empfing als dreijahriges Kind Unterricht im Grie-
chischen, bald darauf wurde er in der Arithmetik unter-
wiesen. Die anderen Unterrichtsgebiete traten entspre-
chend friih an ihn heran. Noch mehr wirkte wohl die Art
des Unterrichtes, die sein Vater, der als Denker bedeu-
tende James Mill so gestaltete, dafi John Stuart die scharf-
ste Logik wie zur Natur wurde. Aus der Selbstbiographie
errahren wir: «Was sich durch Denken ausfindig machen
lieft, das sagte mein Vater mir nie, bevor ich meine Krafte
erschopft hatte, um auf alles selbst zu kommen.» Bei
einem solchen Menschen miissen die Dinge, die sein Den-
ken beschaftigen, im eigentlichsten Sinne des Wortes das
Schicksal seines Lebens werden. «Ich bin nie Kind gewesen,
babe nie Kricket gespielt; es ist doch besser, die Natur ihre
eigenen Bahnen wandeln zu lassen», sagt John Stuart Mill,
nidit ohne Beziehung auf die Erfahrungen, die jemand
macht, dessen Sdiicksal so einzig das Denken ist. Mit aller
Starke mufiten auf ihm, der diese Entwickelung durch-
gemacht hat, die Fragen nach der Bedeutung des Wissens
lasten. Inwiefern kann die Erkenntnis, die ihm das Leben
ist, auch zu den Quellen der Welterscheinungen fuhren?
Die Riditung, die Mills Gedankenentwickelung nahm, um
iiber diese Fragen Aufsdilufi zu gewinnen, ist wohl audi
fruhzeitig von seinem Vater bestimmt worden. James
Mills Denken ging von der psychologischen Erfahrung aus.
Er beobachtete, wie sich im Menschen Vorstellung an Vor-
stellung angliedert. Durch die Angliederung einer Vor-
stellung an die andere gewmnt der Mensch sein Wissen
von der Welt. Er mufi sich also fragen: In welchem Ver-
haltnis steht die GHederung der Vorstellungen zu der
Gliederung der Dinge in der Welt? Durch eine solche Be-
traditungsweise wird das Denken milkrauisdi gegen sich
selbst. Im Menschen konnten sich die Vorstellungen mog-
licherweise in einer ganz anderen Weise verkniipfen, als
draufien in der Welt die Dinge. Auf dieses Mifitrauen ist
John Stuart Mills Logik aufgebaut, die 1843 als sein
Hauptwerk, unter dem Titel « System of Logic» ersdiie-
nen ist.
Man kann sich in Dingen der Weltanschauung kaum
einen scharferen Gegensatz denken, als diese Millsche «Lo-
gik» und die siebenundzwanzig Jahre friiher erschienene
«Wissenschaft der Logik» Hegels. Bei Hegel findet man
das hochste Vertrauen in das Denken, die voile Sicherheit
daruber, daft uns das nicht tauschen kann, was wir in uns
selbst erleben. Hegel fuhlt sich als Glied der Welt. Was
er in sich erlebt, mufi also audi zu der Welt gehoren. Und
da er am unmittelbarsten sich selbst erkennt, so glaubt er
an dieses in sich Erkannte und beurteilt danach die ganze
iibrige Welt. Er sagt sich: Wenn ich ein aufieres Ding
wahrnehme, so kann es mir vielleicht nur seine Aufien-
seite zeigen, und sein Wesen bleibt verhullt. Bei mir selbst
ist das unmoglich. Mich durchschaue ich, Ich kann aber
dann die Dinge draufien mit meinem eigenen Wesen ver-
gleichen. Wenn sie in ihrer Aufienseite etwas von meinem
eigenen Wesen verraten, dann darf ich ihnen audi etwas
von meinem Wesen zusprechen. Deshalb sucht Hegel ver-
trauensvoll den Geist, die Gedankenverbindungen, die er
in sich findet, audi draufien in der Natur. Mill fuhlt sich
zunachst nicht als Glied, sondern als Zuschauer der Welt.
Die Dinge draufien sind ihm ein Unbekanntes, und den
Gedanken, die der Mensdi sidi iiber diese Dinge macht,
begegnet er mit Mifltrauen. Man nimmt Mensdien wahr.
Man hat bisher immer die Beobachtung gemacht, dafi die
Mensdien gestorben sind. Deshalb hat man sich das Urteil
gebildet: Alle Mensdien sind sterblich. «Alle Menschen
sind sterblich; der Herzog von "Wellington ist ein Mensch;
also ist der Herzog von Wellington sterblich. » So schliefien
die Menschen. Was gibt ihnen ein Recht dazu? fragt John
Stuart Mill. Wenn sich einmal ein einziger Mensch als un-
sterblich erwiese, so ware das ganze Urteil umgestofien.
Diirfen wir deshalb, weil bis jetzt alle Menschen gestorben
sind, auch voraussetzen, dajS sie dies audi in Zukunft tun
werden? Alles Wissen ist unsicher. Denn wir schliefien von
Beobachtungen, die wir gemacht haben, auf Dinge, iiber
die wir nichts wissen konnen, solange wir nicht die betref-
fenden Beobachtungen auch an ihnen gemacht haben. Was
miifite jemand, der im Sinne Hegels denkt, zu einer sol-
chen Anschauung sagen? Man kann sich unschwer daruber
eine Vorstellung bilden. Man weifi aus sicheren BegrifTen,
dafi in jedem Kreise alle Halbmesser gleich sind. Trifft
man in der Wirklichkeit auf einen Kreis, so behauptet
man von diesem wirklichen Kreise auch, daft seine Halb-
messer gleich seien. Beobachtet man denselben Kreis nach
einer Viertelstunde und findet man seine Halbmesser un-
gleich, so entschliefit man sich nun nicht zu dem Urteile:
In einem Kreise konnen unter Umstanden auch die Halb-
messer ungleich sein, - sondern man sagt sich: Was ehe-
dem Kreis war, hat sich aus irgendwelchen Grunden zu
einer Ellipse verlangert. So etwa stellte sich ein in Hegels
Sinn Denkender zu dem Urteile: Alle Menschen sind sterb-
lich. Der Mensch hat sich nicht durch Beobachtung, son-
dern als inneres Gedankenerlebnis den Begriff des Men-
schen gebildet, wie er sich den Begriff des Kreises gebildet
hat. Zu dem Begriff des Menschen gehort die Sterblichkeit,
wie zu dem des Kreises die Gleichheit der Halbmesser.
Trifft man in der Wirklichkeit auf ein Wesen, das alle
anderen Merkmale des Menschen hat, so mufi dieses ¥e-
sen audi das der Sterblichkeit haben, wie alle anderen
Merkmale des Kreises das der Halbmessergleichheit nach
sich Ziehen. Hegel konnte, wenn er auf ein Wesen trafe,
das nicht stirbt, sich nur sagen: Das ist kein Mensch, -
nicht aber: Ein Mensch kann audi unsterblich sein. Er
setzt eben voraus, daft sich die Begriffe in uns nicht will-
kiirlich bilden, sondern dafi sie im Wesen der Welt wur-
zeln, wie wir selbst diesem Wesen angehoren. Hat sich
der Begriff des Menschen in uns einmal gebildet, so stammt
er aus dem Wesen der Dinge; und wir haben das voile
Recht, ihn auch auf dieses Wesen anzuwenden. Warum ist
in uns der Begriff des sterblichen Menschen entstanden?
Doch nur, weil er seinen Grund in der Natur der Dinge
hat. Wer glaubt, dafi der Mensch ganz aufierhalb der
Dinge stehe und sich als Aufienstehender seine Urteile
bilde, kann sich sagen: Wir haben bisher die Menschen
sterben sehen, also bilden wir den Zuschauerbegriff : sterb-
liche Menschen. Wer sich bewufk ist, dafi er selbst zu den
Dingen gehort, und diese sich in seinen Gedanken ausspre-
chen, der sagt sich: bisher sind alle Menschen gestorben;
also gehort es zu ihrem Wesen, zu sterben; und wer nicht
stirbt, der ist eben kein Mensch, sondern etwas anderes.
Hegels Logik ist eine Logik der Dinge geworden; denn
Hegel ist die Sprache der Logik eine Wirkung des Wesens
der Welt; nicht etwas zu diesem Wesen von dem mensch-
lichen Geiste von au£en Hinzugefiigtes. Mills Logik ist
eine Zuschauerlogik, die zunachst den Faden zerschneidet,
der sie mit der Welt verbindet.
Mill weist darauf hin, wie Gedanken, die emem gewis-
sen Zeitalter als unbedingt sichere innere Erlebnisse er-
scheinen, dock von einem folgenden umgestofien werden.
Zum Beispiel hat man im Mittelalter daran geglaubt, dafi
es unmoglich Gegenftifiler geben konne, und dafi die Sterne
herunterfallen mufken, wenn sie nicht an festen Spharen
hingen. Der Mensch wird also ein rechtes Verhaltnis zu
seinem Wissen nur gewinnen konnen, wenn er sich, trotz
des Bewufitseins, dafi die Logik der Welt sich in ihm aus-
spricht, im einzelnen nur durch methodische Priifung sei-
ner Vorstellungszusammenhange an der Hand der Beob-
achtung ein der fortwahrenden Korrektur bediirftiges Ur-
teil bildet. Und die Methoden der Beobachtung sind es,
die John Stuart Mill in kalt berechnender Weise in seiner
Logik festzustellen sucht. Ein Beispiel dafur ist dieses:
Man nehme an, eine Erscheinung ware unter gewissen Be-
dingungen immer eingetreten. In einem bestimmten Falle
treten von diesen Bedingungen eine ganze Reihe wieder
ein; nur einzelne fehlen. Die Erscheinung tritt nicht ein.
Dann mull man schliefien, da£ die nicht eingetretenen Be-
dingungen mit der nicht eingetretenen Erscheinung in
einem ursachlichen Zusammenhange stehen. Wenn zwei
Stoffe sich stets zu einer chemischen Verbindung zusam-
mengefiigt haben, und sie dies einmal nicht tun, so mufi
man nachforschen, was diesmal nicht da ist und sonst
immer da war. Durch eine solche Methode kommen wir zu
Vorstellungen iiber Tatsachenzusammhange, welche mit
Berechtigung von uns als solche angesehen werden, die
ihren Grund in der Natur der Dinge haben. Den Beobach-
tungsmethoden will Mill nachgehen. Die Logik, von der
Kant gesagt hat, dafi sie seit Aristoteles urn keinen Schritt
weiter gekommen sei, ist ein Orientierungsmittel innerhalb
des Denkens selbst. Sie zeigt, wie man von einem richti-
gen Gedanken auf den anderen kommt. Mills Logik ist
ein Orientierungsmittel innerhalb der Welt der Tatsadien.
Sie will zeigen, wie man aus Beobachtungen zu giiltigen
Urteilen iiber die Dinge gelangt. Mill macht keinen Un-
terschied zwischen den menschlichen Urteilen. Ihm geht
alies aus der Beobachtung hervor, was der Mensdi iiber
die Dinge denkt. Nicht einmal bezugiich der Mathematik
lafit er eine Ausnahme gelten. Audi sie mufi ihre Grund-
erkenntnisse aus der Beobaditung gewinnen. Wir haben
in alien Fallen, die wir bisher beobachtet haben, gesehen,
daft zwei gerade Linien, die sich einmal geschnitten haben,
auseinanderlaufen (divergieren) und sich nicht ein zweites
Mai geschnitten haben. Daraus schliefien wir, daft sie sich
nicht schneiden konnen. Aber einen vollkommenen Beweis
dafur haben wir nicht. Fur John Stuart Mill ist also die
Welt ein dem Menschen Fremdes. Der Mensch betrachtet
ihre Erscheinungen und ordnet sie nach den Aussagen, die
sie ihm in seinem Vorstellungsleben macht. Er nimmt Re-
gelmafiigkeiten in den Erscheinungen wahr und gelangt
durch logisch-methodische Untersuchungen dieser Regel-
maftigkeiten zu Naturgesetzen. Aber nichts fuhrt in den
Grund der Dinge selbst. Man kann deshalb ganz gut sich
vorstellen, daft alies in der Welt audi anders sein konnte.
Mill ist iiberzeugt, daft jeder, der an Abstraktion und
Analyse gewohnt ist, und seine Fahigkeiten redlich an-
wendet, nach geniigender Obung seiner Vorstellungskraft
keine Schwierigkeit in der Idee findet, es konne in einem
anderen Sternsystem als dem unsrigen nichts von den Ge-
setzen zu finden sein, die im unsrigen gelten.
Es ist nur konsequent, wenn dieser Weltzuschauerstand-
punkt von Mill auch auf das eigene Ich des Menschen
ausgedehnt wird. Vorstellungen kommen und gehen, ver-
kniipfen sich und trennen sich in seinem Innern; das nimmt
der Mensdi wahr. Ein "Wesen, das sich als «Ich» gleich
bleibt in diesem Kommen und Gehen, Trennen und Ver-
binden der Vorstellungen, nimmt er nicht wahr. Er hat
bisher Vorstellungen in sich auftauchen sehen und setzt
voraus, dafi dies auch weiter der Fall sein werde. Aus
dieser Moglichkeit, dafi sich urn einen Mittelpunkt herum
eine Vorstellungswelt gliedert, entsteht die Vorstellung
des «Ich». Auch seinem eigenen «Ich» gegeniiber ist der
Mensch also Zuschauer. Er lafit sich von seinen Vorstel-
lungen sagen, was er iiber sich wissen kann. Mill betrach-
tet die Tatsachen der Erinnerung und der Erwartung.
Wenn alles, was idi von mir weifi, sich in Vorstellungen
erschopfen soil, so kann ich nicht sagen: Ich erinnere mich
an eine friiher von mir gehabte Vorstellung, oder ich er-
warte den Eintritt eines gewissen Erlebnisses; sondern:
eine Vorstellung erinnert sich an sich selbst oder erwartet
ihr zukiinftiges Auftreten. «Wenn wir» - sagt Mill - «vom
Geiste als von einer Reihe von Wahrnehmungen sprechen,
dann miissen wir von einer Wahrnehmungsreihe sprechen,
die sich selbst als werdend und vergangen bewufk ist. Und
nun befinden wir uns in dem Dilemma, entweder zu sa-
gen, das ,Ich f oder der Geist sei etwas von den Wahrneh-
mungen Verschiedenes; oder das Paradoxon zu behaup-
ten, eine blofie Vorstellungsreihe konne ein Bewufitsein
von ihrer Vergangenheit und Zukunft haben.» Millkommt
iiber dieses Dilemma nicht hinaus. Fur ihn birgt es ein un-
losbares Ratsel. Er hat eben das Band zwischen sich, dem
Beobachter, und der Welt zerrissen, und ist nicht imstande,
es wieder zu kniipfen. Die Welt bleibt ihm das jenseitige
Unbekannte, das auf den Mensclien Eindriicke madit.
Alles, was dieser von dem jenseitigen Unbekannten weift,
ist, daft die Moglichkeit vorhanden ist, es konne in ihm
Wahrnehmungen hervorrufen. Statt also von wirklichen
Dingen aufter sich, kann der Mensch im Grunde nur davon
spredien, daft Wahrnehmungsmoglichkeiten vorhanden
sind. Wer von Dingen an sich spricht, ergeht sich in leeren
Worten; nur wer von der bestandigen Moglichkeit des
Eintretens von Emphndungen, Wahrnehmungen, Vorstel-
lungen spricht, bewegt sich auf dem Boden des Tatsach-
lichen.
John Stuart Mill hat eine heftige Abneigung gegen alle
Gedanken, die auf anderem Wege gewonnen sind als durch
Vergleichung der Tatsachen, durch Verfolgen des Ahn-
lichen, Analogen und Zusammengehorigen in den Erschei-
nungen. Er meint, der menschlichen Lebensfiihrung konne
nur der grofke Schaden zugefiigt werden, wenn man sich
in dem Glauben wiege, man konne zu irgendeiner Wahr-
heit auf eine andere Weise gelangen als durch Beobach-
tung. Man fuhlt in dieser Abneigung Mills die Scheu da-
vor, sich bei allem Erkenntnisstreben anders als rein emp-
fangend (passiv) den Dingen gegeniiber zu verhalten. Sie
sollen dem Menschen diktieren, was er liber sie zu denken
hat. Sucht er uber das Empfangen hinauszugehen und aus
sich selbst heraus etwas uber die Dinge zu sagen, so fehlt
ihm jede Garantie dafiir, daft dieses sein eigenes Erzeug-
nis audi wirklich etwas mit den Dingen zu tun habe. Zu-
letzt kommt es bei dieser Anschauung darauf an, daft ihr
Bekenner sich merit entschlieften kann, sein eigenes selbst-
tatiges Denken mit zu der Welt zu rechnen. Gerade, daft
er dabei selbsttatig ist, das beirrt ihn. Er mochte sein Selbst
am liebsten ganz ausschalten, um nur ja nichts Falsches in
das einzumischen, was die Erscheinungen iiber sich sagen.
Er wiirdigf die Tatsache nicht in richtiger Weise, daft sein
Denken ebenso zur Natur gehort wie das Wachsen eines
Grashalmes. So kiar es nun ist, dafi man den Grashalm
beobachten mufi, wenn man etwas von ihm wissen will,
so klar sollte es sein, daft man audi sein eigenes selbsttati-
ges Denken befragen mufi, wenn man iiber dasselbe etwas
erfahren will. Wie soil man, nadi dem Goetheschen Worte,
sein Verhaltnis zu sich selbst und zur Aufienwelt kennen-
lernen, wenn man im Erkenntnisprozesse sich selbst ganz
ausschalten will? Wie groft die Verdienste Mills auch sind
um die Auffindung der Methoden, durch die der Mensch
alles das erkennt, was von ihm nicht abhangt: eine Ansicht
daruber, in welchem Verhaltnisse der Mensch zu sich selbst
und mit seinem Selbst zur Auftenwelt stent, kann durch
keine solche Methode gewonnen werden. Alle diese Metho-
den haben ihre Giiltigkeit daher fur die einzelnen Wissen-
schaften, nicht aber fiir eine umfassende Weltanschauung.
Was das selbsttatige Denken ist, kann keine Beobachtung
lehren; das kann nur das Denken aus sich selbst erfahren.
Und da das Denken iiber sich nur durch sich etwas aus-
sagen kann, so kann es sich auch nur selbst etwas iiber sein
Verhaltnis zur Aufienwelt sagen. Mills Vorstellungsart
schliefk also die Gewinnung einer Weltanschauung voll-
standig aus. Eine solche kann nur durch ein sich in sich
versenkendes und dadurch sich und seine Beziehung zur
Aufienwelt iiberschauendes Denken gewonnen werden.
^Dafi John Stuart Mill eine Antipathie gegen ein solches
C atif sich selbst bauendes Denken hegte, ist aus seinem Cha-
rakter wohl zu begreifen. Gladstone hat in einem Briefe
(vgl. Gomperz, John Stuart Mill, Wien 1889) gesagt, dafi
er Mill in Gesprachen den «Heiligen des Rationalismus»
zu nennen pflegte. Ein Mann, der in dieser Weise sidi ganz
im Denken auslebt, stellt an das Denken grofte Anforde-
rungen und sucht nadi den grolkmoglichen Vorsichtsmafi-
regeln, daS es ihn nicht tauschen konne. Er wird dadurdi
dem Denken gegeniiber mifitrauisch. Er glaubt, leicht ins
Unsichere zu kommen, wenn er feste Anhaltspunkte ver-
liert. Und Unsicherheit gegeniiber alien Fragen, die iiber
das strenge Beobachtungswissen hinausgehen, ist einGrund-
zug in Mills Personlichkeit. Wer seine Schriften verfolgt,
wird iiberall sehen, wie Mill solche Fragen als offene be-
trachtet, iiber die er ein sicheres Urteil nicht wagt.
j*
i>
An der Unerkennbarkeit des wahren Wesens der Dinge
halt audi Herbert Spencer fest. Er fragt sich zunachst:
Wodurch komme ich zu dem, was ich Wahrheiten iiber
die Welt nenne? Ich beobachte einzelnes an den Dingen
und bilde mir iiber diese Urteile. Ich beobachte, daft Was-
serstofT und Sauerstoff unter gewissen Bedingungen sich
zu Wasser verbinden. Ich bilde mir ein Urteil dariiber.
Das ist eine einzelne Wahrheit, die sich nur iiber einen
kleinen Kreis von Dingen erstreckt. Ich beobachte dann
auch, unter welchen Verhaltnissen sich andere StofTe ver-
binden. Ich vergleiche die einzelnen Beobachtungen und
komme dadurch zu umfassenderen, allgemeineren Wahr-
heiten dariiber, wie sich Stofife iiberhaupt chemisch verbin-
den. Alles Erkennen beruht darauf, dafi der Mensch von
einzelnen Wahrheiten zu immer allgemeineren Wahrhei-
ten iibergeht, um zuletzt bei der hochsten Wahrheit zu
endigen, die er auf keine andere zuruckfuhren kann; die
er also hinnehmen muft, ohne sie weiter begreifen zu kon-
nen. In diesem Erkenntnisweg haben wir aber kein Mittel,
zum absoluten Wesen der Welt vorzudringen. Das Den-
ken kann ja, nach dieser Meinung, nichts tun, als die ver-
schiedenen Dinge miteinander vergleidien und sich iiber
das, was in ihnen Gleichartiges ist, sich allgemeine Wahr-
heiten bilden. Das unbedingte Weltwesen kann aber, in
seiner Einzigartigkeit, mit keinem anderen Ding vergli-
chen werden. Deshalb versagt das Denken ihm gegeniiber.
Es kommt an dasselbe nicht heran.
Wir horen in solchen Vorstellungsarten immer den Ge-
danken mitsprechen, der audi auf Grund der Sinnesphysio-
logie sich ausgebildet hat (vgl. oben S. 422 ff.). Bei vielen
Denkern ist dieser Gedanke so mit ihrem geistigen Leben
verwachsen, dafi sie ihn fur das Gewisseste halten, das es
geben kann. Sie sagen sich, der Mensch erkennt die Dinge
nur dadurch, dafi er sich ihrer bewufit wird. Sie verwan-
deln nun, mehr oder weniger unwillkiirlidi, diesen Ge-
danken in den anderen: Man kann nur von dero wisscn,
was in das Bewufitsein eintritt; es bleibt aber unbekannt,
wie die Dinge waren, bevor sie in das Bewufttsein einge-
treten sind. Deshalb sieht man audi die Sinnesempfmdun-
gen so an, als waren sie im Bewufitsein; denn man meint,
sie miissen doch erst in dasselbe eintreten, also Teile des-
selben (Vorstellungen) werden, wenn man von ihnen et-
was wissen will.
Audi Spencer halt daran fest, dafi es von uns Menschen
abhangt, wie wir erkennen konnen und dafi wir deshalb
jenseits dessen, was unsere Sinne und unser Denken uns
iibermitteln, ein Unerkennbares annehmen miissen. Wir
haben ein klares Bewufitsein von allem, was uns unsere
Vorstellungen sagen. Aber diesem klaren ist ein unbe-
stimmtes Bewulksein beigemischt, das besagt, dafi allem,
was wir beobachten und denken, etwas zugrunde liegt,
was wir nicht mehr beobachten und denken konnen. Wir
wissen, dafi wir es mit bloften Erscheinungen, nicht mit
vollen fiir sich bestehenden Realitaten zu tun haben. Aber
eben weil wir genau wissen, dafi unsere Welt nur Erschei-
nung ist, so wissen wir audi, da£ ihr eine unvorstellbare
wirkliche zugrunde liegt. Durch solche Wendungen seines
Denkens glaubt Spencer die voile Versohnung von Reli-
gion und Erkenntnis herbeifuhren zu konnen. Es gibt et-
was, das keinem Erkennen zuganglich ist; also gibt es audi
etwas, was die Religion in Glauben fas-sen kann; in einen
Glauben, den die ohnmachtige Erkenntnis nicht erschut-
tern kann.
Dasjenige Gebiet nun, das Spencer der Erkenntnis zu-
ganglich halt, macht er vollig zum Felde naturwissen-
schaftlicher Vorstellungen. Wo er zu erklaren unternimmt,
tut er das nur in naturwissenschaftlichem Sinne.
Naturwissenschaftlich denkt sich Spencer den Erkennt-
nisprozefL Ein jegliches Organ eines Lebewesens ist da-
durch entstanden, daft sich dieses Wesen den Bedingungen
angepafk hat, unter denen es lebt. Zu den menschlichen
Lebensbedingungen gehort, daft sich der Mensch denkend
in der Welt zurechtfindet. Sein Erkenntnisorgan entsteht
durch Anpassung seines Vorstellungslebens an die Bedin-
gungen der Aufienwelt. Wenn der Mensch iiber ein Ding
oder einen Vorgang etwas aussagt, so bedeutet dies nichts
anderes als: er pafit sich der ihn umgebenden Welt an.
Alle Wahrheiten sind auf diesem Wege der Anpassung
entstanden. Was aber durch Anpassung erworben ist, kann
sich auf die Nachkommen vererben. Diejenigen haben
nicht recht, die behaupten, dem Menschen komme durch
seine Natur ein fiir allemal eine gewisse Disposition zu
allgemeinen Wahrheiten zu. Was als solche Disposition
erscheint, war einmal bei den Vorfahren des Menschen
nicht da, sondern ist durch Anpassung erworben worden
und hat sich auf die Nadikommen vererbt. Wenn gewisse
Philosophen von Wahrheiten sprechen, die der Mensch
nicht aus seiner eigenen individuellen Erfahrung zu schop-
f en braucht, sondern die von vornherein in seiner Organi-
sation liegen, so haben sie in gewisser Beziehung recht.
Aber solche Wahrheiten sind doch audi erworben, nur
nicht von dem Menschen als Individuum, sondern als Gat-
tung. Der einzelne hat das in friiherer Zeit Erworbene
fertig ererbt. - Goethe sagt, daft er manchem Gesprach
iiber Kants «Kritik der reinen Vernunft» beigewohnt und
dabei gesehen habe, dafi die alte Hauptfrage sich erneuere,
«wieviel unser Selbst und wieviel die Auftenwelt zu un-
serem geistigen Dasein beitrage?» Und er fahrt fort: «Ich
hatte beide niemals gesondert, und wenn ich nach meiner
Weise iiber Gegenstande philosophierte, so tat ich es mit
unbewufker Naivitat und glaubte wirklich, ich sahe meine
Meinungen vor Augen.» Spencer riickte diese «alte Haupt-
frage» in das Licht der naturwissenschaftlichen Anschau-
ungsart. Er glaubte, zu zeigen, dafi der entwickelte Mensch
allerdings auch aus seinem Selbst zu seinem geistigen Da-
sein beizutragen hat; aber dieses Selbst setzt sich doch auch
aus den Erbstucken zusammen, die unsere Vorfahren im
Kampfe mit der Aufienwelt erworben haben. Wenn wir
heute unsere Meinungen vor Augen zu sehen glauben, so
waren dies nicht immer unsere Meinungen, sondern sie
waren einst Beobachtungen, die wirklich mit den Augen
an der Aufienwelt gemacht worden sind. Spencers Weg
ist also wie der Mills ein soldier, der von der Psychologie
ausgeht. Aber Mill bleibt bei der Psychologie des Indivi-
duums stehen. Spencer steigt von dem Individuum zu des-
sen Vorfahren auf. Die Individualpsychologie ist in der-
selben Lage wie die Keimesgeschichte der Zoologie. Ge-
wisse Erscheinungen der Keimung sind nur erklarlich,
wenn man sie zuriickfiihrt auf Erscheinungen der Stam-
mesgeschichte. Ebenso sind die Tatsachen des individuel-
len Bewufitseins aus sich selbst nicht verstandlich. Man
mufi aufsteigen zu der Gattung, ja uber die Menschen-
gattung nodi hinausgehen bis zu den Erkenntniserwerbun-
gen, welche die tierischen Vorfahren des Menschen schon
gemacht haben. Spencer wendet seinen grofien Scharfsinn
an, um diese seine Entwickelungsgeschichte des Erkenntnis-
prozesses zu stiitzen. Er zeigt, wie die geistigen Fahigkei-
ten aus niedrigen Anfangen sich allmahiich entwickelt ha-
ben durch immer entsprechendere Anpassungen des Gei-
stes an die Aufienwelt und durch Vererbung dieser An-
passungen. Alles, was der einzelne Mensch ohne Erfah-
rung, durch reines Denken uber die Dinge gewinnt, hat
die Menschheit oder haben deren Voreltern durch Beob-
achtung, durch Erf ahrung gewonnen. Leibniz hat die Ober-
einstimmung des menschlichen Innern mit der Aufienwelt
nur dadurch erklaren zu konnen geglaubt, dafi er eine
vom Schopfer vorherbestimmte Harmonie angenommen
hat. Spencer erklart diese Obereinstimmung naturwissen-
schaftlich. Sie ist nicht vorher bestimmt, sondern gewor-
den. Man hat hier die Fortsetzung des naturwissenschaft-
lichen Denkens bis in die hochsten, dem Menschen gegebe-
nen Tatsachen. Linne erklart, jede lebendige Wesensform
sei vorhanden, weil der Schopfer sie so geschaffen hat,
wie sie ist. Darwin erklart, sie sei so, wie sie sich durch
Anpassung und Vererbung allmahiich entwickelt hat. Leib-
niz erklart, das Denken stimme mit der Auftenwelt uber-
ein, weil der Schopfer die Ubereinstimmung geschaffen
hat. Spencer erklart, diese Obereinstimmung sei vorhan-
den, weil sie sich durch Anpassung und Vererbung der
Gedankenwelt entwickelt hat.
Von dem Bediirfnis nach einer naturgemaflen Erklarung
der geistigen Ersdieinungen ist Spencer ausgegangen. Die
Richtung auf eine solche hat ihm Lyells Geologie gegeben
(vgl. S. 360). In ihr wird zwar der Gedanke noch bekampft,
dafi die organischen Formen sich durch allmahliche Ent-
wickelung auseinander gebildet haben; aber er erfahrt
doch eine wichtige Stiitze dadurch, dafi die unorganischen
(geologischen) Bildungen der Erdoberflache durch eine
solche allmahliche Entwickelung, nicht durch gewaltsame
Katastrophen, erklart werden. Spencer, der eine natur-
wissenschaftliche Bildung hatte, sich audi einige Zeit als
Zivilingenieur betatigt hatte, erkannte die voile Tragweite
des Entwickelungsgedankens sofort und wendete ihn an,
trotz der Bekampfung durch Lyell. Ja, er wendete ihn so-
gar auf die geistigen Vorgange an. Schon 1850, in seiner
Schrift «Social Statics», beschrieb er die soziale Entwicke-
lung in Analogic mit der organischen. Er machte sich audi
mit Harveys und Wolffs (vgL Bd. I, S. 286 fT.) Studien
iiber Keimesgeschichte der Organismen bekannt und ver-
tiefte sich in die Arbeiten Carl Ernst von Baers (vgl. oben
S. 397 f.), die ihm zeigten, wie die Entwickelung darin be-
stehe, dafi aus einem Zustande der Gleichartigkeit, der
Einformigkeit ein solcher der Verschiedenheit, der Man-
nigfaltigkeit, des Reichtums sich entwickele. In den ersten
Keimstadien sehen sich die Organismen ahnlich; spate r
werden sie voneinander verschieden (vgl. oben S. 397 ff .).
Durch Darwin erfuhr dieser Entwickelungsgedanke dann
eine vollkommene Bekraftigung. Aus einigen wenigen Ur-
organismen hat sich der ganze Reichtum der heutigen man-
nigfaltigen Formenwelt entwickelt.
Von dem Entwickelungsgedanken aus wollte Spencer
auf steigen zu den allgemeinsten Wahrheiten, die nach sei-
ner Meiming das Ziel des menschlichen Erkenntnisstrebens
ausmachen. In den einfachsten Erscheinungen glaubte er
den Entwickelungsgedanken schon zu finden. "Wenn aus
zerstreuten Wasserteilchen sich eine Wolke am Himmel,
aus zerstreuten Sandkorpern ein Sandhaufen sich bildet,
so hat man es mit einem Entwickelungsprozesse zu tun.
Zerstreuter Stoff wird zusammengezogen (konzentriert)
zu einem Ganzen. Keinen anderen Prozefi hat man in der
Kant-Laplaceschen Weltbildungshypothese vor sich. Zer-
streute Teile eines chaotischen Weltnebels haben sich zu-
sammengezogen. Der Organismus entsteht auf eben diese
Weise. Zerstreute Elemente werden in Geweben konzen-
triert. Der Psychologe kann beobachten, wie der Mensch
zerstreute Beobachtungen zu allgemeinen Wahrheiten zu-
sammenzieht. Innerhalb des konzentrierten Ganzen glie-
dert sich dann das Zusammengezogene (es differenziert
sich). Die Urmasse gliedert sich zu den einzelnen Himmels-
korpern des Sonnensystems; der Organismus differenziert
sich zu mannigfaltigen Organen.
Mit der Zusammenziehung wechselt die Auflosung ab.
Wenn ein Entwickelungsprozeft einen gewissen Hohe-
punkt erreicht hat, dann tritt ein Gleichgewicht ein. Der
Mensch entwickelt sich zum Beispiel so lange, bis sich eine
moglichst grofie Harmonie seiner inneren Fahigkeiten und
der aufteren Natur herausgebildet hat. Ein soldier Gleich-
gewichtszustand kann aber nicht dauern; aufiere Krafte
werden zerstorend an ihn herantreten. Auf die Entwicke-
lung mufi der absteigende, der Auflosungsprozefi folgen;
das Zusammengezogene dehnt sich wieder aus; das Kos-
misdie wird wieder zum Chaos. Der Prozefi der Entwicke-
lung kann von neuem beginnen. Ein rhythmisches Bewe-
gungsspiel sieht Spencer also im Weltprozefi.
Es ist eine gewift nicht uninteressante Beobachtung fiir
die vergleichende Entwickelungsgeschichte der Weltan-
schauungen, dafi Spencer hier aus der Betrachtung des
Werdens der Welterscheinungen zu einem ahnlichen Gedan-
ken kommt, den audi Goethe auf Grund seiner Ideen iiber
das Werden des Lebens ausgesprochen hat. Dieser be-
schreibt dasWachstum derPflanze so: «Es mag die Pflanze
sprossen, bluhen oder Friichte bringen, so sind es doch nur
immer dieselbigen Organe, welche in vielfaltigen Be-
stimmungen und unter oft veranderten Gestalten die Vor-
schrift der Natur erfiillen. Dasselbe Organ, welches am
Stengel als Blatt sich ausgedehnt und eine hochst mannig-
faltige Gestalt angenommen hat, zieht sich nun im Kelche
zusammen, dehnt sich im Blumenblatte wieder aus, zieht
sich in den Geschlechtswerkzeugen zusammen, um sich als
Frucht zum letztenmal auszudehnen.» Man denke sich
diese Vorstellung auf den ganzen Weltprozefi iibertragen,
so gelangt man zu Spencers Zusammenziehung und Zer-
streuung des Stoffes.
Spencer und Mill haben auf die Weltanschauungsent-
wickelung der letzten Jahrhunderthalfte einen grofien
Einflufi geiibt. Das strenge Betonen der Beobachtung und
die einseitige Bearbeitung der Methoden des beobachten-
den Erkennens durch Mill; die Anwendung natur wissen-
schaftlicher Vorstellungen auf den ganzen Umfang des
menschlichen Wissens durch Spencer: sie mufiten denEmp-
findungen eines Zeitalters entsprechen, das in den ideali-
stisclien Weltanschauungen Fichtes, Schellings, Hegels nur
Entartungen des menschlichen Denkens sah und dem die
Erfolge der naturwissenschaftlichen Forschung alleinige
Schatzung abgewannen, wahrend die Uneinigkeit der idea-
listischen Denker und die, nach Meinung vieler, vollige
Unfruchtbarkeit des in sich selbst sidi vertiefenden Den-
kens ein tiefes Mifitrauen gegeniiber dem Idealismus er-
zeugten. Man darf wohl behaupten, da£ eine in den letz-
ten vier Jahrzehnten weit verbreitete Anschauung zum
Ausdruck bringt, was Rudolf Virchow 1893 in seiner Rede
«Die Griindung der Berliner Universitat und der "Ober-
gang aus dem philosophischen in das naturwissenschaft-
liche Zeitalter» sagt: «Seitdem der Glaube an Zauber-
formeln in die auftersten Kreise des Volkes zuriickgedrangt
war, fanden audi die Formeln der Naturphilosophen we-
nig Anklang mebr.» Und einer der bedeutendsten Philo-
sophen von der zweiten Halfte des Jahrhunderts, Eduard
von Hartmann, fafk den Charakter seiner Weltanschau-
ung in dem Motto zusammen, das er an die Spitze seines
Buches «Philosophie des Unbewufiten» gestellt hat: «Spe-
kulative Resultate nach induktiv-naturwissenschaftlicher
Methode.» Ja, er ist der Meinung, man musse die «Grofie
des von Mill bewirkten ...Fortschrittes»anerkennen,durch
«den alle Versuche eines deduktiven Philosophierens fur
immer iiberwunden sind». (Vgl. E. von Hartmann, Ge-
schichte der Metaphysik. 2. Teil, S. 479.)
Auch wirkte die Anerkennung gewisser Grenzen des
menschlichen Erkennens, die viele Naturforscher zeigten,
auf religios gestimmte Gemiiter sympathisch. Sie sagten
sich: Die Naturforscher beobachten die unorganischen und
organischen Tatsachen und suchen durch Verknupfung der
einzelnen Erscheinungen allgemeine Gesetze zu finden,
mit deren Hilfe sich Vorgange erklaren lassen, ja sogar
der regelmafiige Verlauf zukiinftiger Ersdieinungen vor-
ausbestimmt werden kann. Ebenso soil die zusammenfas-
sende Weltanschauung vorgehen; sie soil sich an die Tat-
sadien halten, aus ihnen allgemeirie Wahrheiten innerhalb
bescheidener Grenzen erforschen und keinen Ansprudi
darauf machen, in das Gebiet des «Unbegreiflichen» zu
dringen. Spencer mit seiner vollkommenen Scheidung des
«Begreif lichen » und des «Unbegreif lichen » kam solchen
religiosen Bediirfnissen im hochsten Mafie entgegen. Da-
gegen betrachteten diese religios gestimmten Geister die
idealistische Vorstellungsart als eine Verstiegenheit. Diese
kann eben im Prinzip ein Unbegreifliches nicht anerken-
nen, weil sie daran festhalten mufi, dafi durch die Versen-
kung in das menschliche Innenleben die Erkenntnis nicht
nur der Aufienseite des Weltdaseins, sondern auch des
wirklichen Kernes desselben moglich 1st.
Ganz in der Richtung soldier religios gestimmten Gei-
ster bewegt sich auch das Denken einflufireicher Natur-
forscher, wie das Huxleys, der sich zu einem vollkomme-
nen Agnostizismus gegeniiber dem Weltwesen bekennt
und einen im Sinne der Darwinschen Erkenntnisse gehal-
tenen Monismus nur fiir die dem Menschen gegebene
Aufienseite der Natur fiir anwendbar erklart. Er ist als
einer der ersten fiir die Darwinschen Vorstellungen ein-
getreten; ist aber zugleich einer der entschiedensten Ver-
treter der Beschranktheit dieser Vorstellungsart. 2u einer
ahnlichen Ansicht bekannte sich der Physiker John Tyn-
dall (1820 — 1893), der in dem Weltprozesse eine dem
menschlichen Verstande vollkommen unzugangliche Kraft
anerkennt. Denn gerade, wenn man annehme, dafi in der
Welt alles durch natiirliche Entwickelung entstehe, konne
man nimmermehr zugeben, dafi der Stoff, der doch der
Trager der ganzen Entwickelung ist, nidits weiter sei als
das, was unser Verstand von ihm begreifen kann.
t
Eine fur seine Zeit charakteristische Erscheinung ist die
Persdnlichkeit des englischen Staatsmannes James Bal-
four (1848 — 1930), der 1879 (in seinem Buche «A defence
of philosophic doubt, being an Essay on the foundations
of belief ») ein Glaubensbekenntnis ablegte, das demjeni-
gen weiter Kreise zweifellos ahnlich ist. Er stellt sich in
bezug auf alles, was der Mensch erklaren kann, ganz auf
den Boden des naturwissenschaftiichen Denkens. Er lafit
im Naturerkennen sich die gesamte Erkenntnis erschop-
fen. Aber er behauptet zugleich, dafi nur derjenige das
naturwissenschaftliche Erkennen recht verstehe, der ein-
sehe, dafi die Gemiits- und Vernunftbediirfnisse des Men-
schen durch dasselbe niemals befriedigt werden konnen.
Man brauche nur einzusehen, dafi zuletzt alles auch in der
Naturwissenschaft darauf ankomme, die letzten Wahr-
heiten, die man nicht mehr beweisen kann, zu glauben.
Es schadet aber nichts, dafi wir in dieser Richtung blofi
zu einem Glauben kommen, denn dieser Glaube leitet uns
sicher bei unseren Handlungen im taglichen Leben. Wir
glauben an die Naturgesetze und beherrschen sie durch
diesen Glauben; wir zwingen durch ihn die Natur, uns
fur unsere Zwecke zu dienen. Der religiose Glaube soli
eine gleiche Ubereinstimmung zwischen den Handlungen
des Menschen und den hoheren, iiber das Alltagliche hin-
ausgehenden Bediirfnissen herstellen.
Die Weltanschauungen, welche hier zusammengefafit
erscheinen durch die Bezeichnung «Die Welt als Illusion »,
zeigen, dafi ihnen ein Suchen nach dem befriedigenden
Verhaltnis der Vorstellung vom selbstbewufiten Ich zu
einem Gesamtweltbilde zugrunde liegt. Sie erscheinen eben
dadurch besonders bedeutsam, dafi sie dieses Suchen nicht
als ihr bewufites philosophisdies Ziel ansehen und ihre
Untersuchungen nidit nach diesem Ziele hin ausgesprochen
richten, sondern dafi sie wie instinktiv ihrer Vorstellungs-
art das Geprage geben, welches von diesem Suchen als un-
bewufitem Impuls bestimmt ist. Und es ist die Art dieses
Suchens eine solche, wie sie durch die neueren naturwis-
senschaftlichen Vorstellungen bedingt werden mufite. -
Man kommt dem Grundcharakter dieser Vorstellungen
nahe, wenn man sich an den Begriff des «Bewufitseins»
halt. Dieser Begriff ist deutlich erst seit Descartes in das
neuere Weltanschauungsleben eingestromt. Vorher hielt
man sich an den Begriff der «Seele» als solcher. Dafi die
Seele nur einen Teil ihres Lebens in ihr bewufiten Erschei-
nungen durchmacht, wurde weniger beachtet. Im Schlafe
lebt die Seele doch nicht bewufit. Gegeniiber dem bewufi-
ten Leben mufi ihr Wesen also in tieferen Kraften be-
stehen, die sie aus dem Grunde dieses Wesens doch nur im
Wachen zum Bewufitsein heraufhebt. Je mehr man aber
dazu kam, nach der Berechtigung und dem Wert der Er-
kenntnis auf Grund einleuchtender Vorstellungen zu f ra-
gen, um so mehr kam man auch dazu, zu empfinden, dafi
das Gewisseste aus aller Erkenntnis die Seele dann findet,
wenn sie iiber sich selbst nicht hinaus- und in sich selbst
auch nicht tiefer hineingeht, als das Bewufitsein reicht.
Man meinte: Moge auch alles andere ungewifi sein; was
im Bewufitsein ist, das zum mindesten ist, als solches, ge-
wifi. Mag selbst das Haus, an dem ich vorbeigehe, nicht
aufier mir existieren; dafi das Bild dieses Hauses jetzt in
meinem Bewufitsein lebt: das darf ich behaupten. Sobald
man aber die Aufmerksamkeit auf das Bewufitsein richtet,
kann es nidit ausbleiben, dafi der Begriff des Ich mk dem
des Bewufitseins zusammenwachst. Mag das «Ich» aufier
dem Bewufksein was immer fiir ein Wesen sein: so weit
das Bewufitsein geht, so weit darf der Bereich des «Ich»
vorgestellt werden. Nun kann doch gar nicht geleugnet
werden, dafi sich von dem bewufit vor der Seele stehen-
den sinnlichen Weltbilde sagen lafit, es komme durdi den
Eindruck zustande, der von der Welt auf den Menschen
gemacht wird. Sobald man sich aber an dieser Aussage
festklammert, kommt man nicht leicht wieder von ihr
los. Denn es unterschiebt sich das Urteil: Die Vorgange der
Welt sind Ursache; das, was im Bewufitsein sich darstellt,
ist Wirkung. Da man so im Bewufitsein allein die Wir-
kung zu haben glaubt, meint man, die Ursache miisse ganz
in einer aufier dem Menschen liegenden Welt als unwahr-
nehmbares «Ding an sich» vorhanden sein. Die obigen
Darstellungen zeigen, wie die neueren physiologischen Er-
kenntnisse zur Bekraftigung einer solchen Meinung fuh-
ren. Es ist nun diese Meinung, durch welche sich das «Ich»
mit seinen subjektiven Erlebnissen ganz in seiner eigenen
Welt eingeschlossen findet. Diese intellektuelle, scharf-
sinnig erzeugte Illusion kann so lange nicht zerstort wer-
den, wenn sie einmal gebildet ist, als das «Ich» nicht in
sich selbst etwas findet, von dem es weifi, dafi es, obwohl
es im Bewufitsein abgebildet ist, doch aufierhalb des sub-
jektiven Bewufitseins sein Wesen hat. Das Ich raulS sich
aufierhalb des sinnlichen Bewufitseins von Wesen beriihrt
fiihlen, die ihr Sein durch sich selbst verbiirgen. Es mufi
in sich etwas finden, das es aufierhalb seiner selbst fiihrt.
Was von dem Lebendigwerden des Gedankens gesagt wor-
den ist, kann solches bewirken. Hat das Ich den Gedanken
nur in sidi erlebt, so fiihlt es sich mit ihm in sich selbst.
Beginnt der Gedanke sein Eigenleben, so entreiftt er das
Ich seinem subjektiven Leben. Es vollzieht sich ein Vor-
gang, den das Ich zwar subjektiv erlebt, der jedoch durch
seine eigene Natur objektiv ist, und der das «Ich» all dem
entreifit, was es nur als subjektiv empfinden kann. Man
sieht, daft audi die Vorstellungen, welchen die Welt Illu-
sion wird, nach dem Ziele hindrangen, das in der Weiter-
fiihrung des Hegelschen Weltbildes zum lebendig gewor-
denen Gedanken liegt. Diese Vorstellungen gestalten sich
so, wie das Weltanschauungsbild werden mufi, das von
dem in diesem Ziele gelegenen Impuls unbewufit getrie-
ben wird, doch aber nicht die Kraft hat, zu diesem Ziele
sich hindurchzuarbeiten. Dieses Ziel waltet in den Unter-
griinden der neueren Weltanschauungsentwickelung. Den
Weltansdiauungen, welche auftreten, fehlt die Kraft, zu
ihm durchzubrechen. Sie erhalten auch in ihrer Unvoll-
kommenheit ihr Geprage von diesem Ziel; und die Ideen,
welche auftreten, sind die aufteren Symptome verborgen
bleibender Wirkenskrafte.
NACHKLANGE
DER KANTSCHEN VORSTELLUNGSART
Personlichkeiten, welche durch Sich-Versenken in die He-
gelsche Ideenart eine Sicherheit suchten fiir das Verhaltnis
einer Vorstellung iiber das selbstbewufite Idi zu dem all-
gemeinen Weltbilde, gibt es in der zweiten Halfte des
neunzehnten Jahrhunderts nur wenige. Einer der Besten
ist der zu frtih verstorbene Paul Asmus (1842 — 1876), der
1873 eine Schrift verdfTentlichte «Das Ich und das Ding
an sich». Er zeigt, wie in der Art, in der Hegel das Den-
ken und die Ideenwelt ansah, ein Verhaltnis des Menschen
zum Wesen der Dinge zu gewinnen ist. Er setzt in scharf-
sinniger Weise auseinander, dafi im Denken des Menschen
nicht etwas Wirklichkeitsfremdes, sondern etwas Lebens-
volles, Urwirkliches gegeben ist, in das man sich nur zu
versenken braucht, um zum Wesen des Daseins zu kom-
men. Er stellte in lichtvoller Weise den Gang dar, den die
Weltanschauungsentwickelung genommen hat, um von
Kant, der das «Ding an sich» als etwas dem Menschen
Fremdes, Unzugangliches angesehen hatte, zu Hegel zu
kommen, welcher meinte, dafi der Gedanke nicht nur sich
selbst als ideelle Wesenheit, sondern audi das «Ding an
sich» umspanne. Solche Stimmen fanden aber kaum Ge-
hor. Am scharfsten kam dies in dem Ruf zum Ausdruck,
der seit Eduard Zellers Heidelberger Universitatsrede
«t)ber Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie» in
einer gewissen philosophischen Stromung beliebt wurde:
«2uriick zu Kant». Die teils unbewufiten, teils bewufken
Vorstellungen, die zu diesem Ruf fuhrten, sind etwa diese:
Die Naturwissenschaft hat das Vertrauen zu dem selb-
standigen Denken erschuttert, das von sich aus zu den
hochsten Daseinsfragen vordringen will. Wir kdnnen uns
aber doch bei den blofien naturwissenschaftlichen Ergeb-
nissen nicht beruhigen. Denn sie fiihren iiber die Aufien-
seite der Dinge nicht hinweg. Es mufi hinter dieser Aufien-
seite noch verborgene Daseinsgriinde geben. Hat ja doch
die Naturwissenschaft selbst gezeigt, dafi die Welt der
Farben, Tone usw., die uns umgibt, nicht eine Wirklich-
keit draufien in der objektiven Welt ist, sondern dafi sie
hervorgebracht ist durch die Einrichtung unserer Sinne
und unseres Gehirns. (Vgl. oben S. 422 ff .) Man mufi also
die Fragen stellen: Inwiefern weisen die naturwissen-
schaftlichen Ergebnisse iiber sich selbst hinaus zu hoheren
Aufgaben? Welches ist das Wesen unseres Erkennens?
Kann dieses Erkennen zur Losung dieser hoheren Auf-
gaben fiihren? Kant hatte in eindringender Weise solche
Fragen gestellt. Man wollte sehen, wie er es gemacht hat,
um ihnen gegeniiber Stellung zu nehmen. Man wollte in
aller Scharfe Kants Gedankengange nachdenken, um durch
Fortfuhrung seiner Ideen, durch Vermeidung seiner Irr-
tiimer einen Ausweg aus der Ratlosigkeit zu finden.
Eine Reihe von Denkern muhte sich ab, von Kantschen
Ausgangspunkten aus zu irgendeinem Ziele zu kommen.
Die bedeutendsten unter ihnen sind Hermann Cohen (1842
bis 1918), Otto Liebmann (1840 — 1912), Wilhelm Win-
delband (1848 — 191 5), Johannes Volkelt (1848 — 1930),
Benno Erdmann (18 51 — 1921). Es ist viel Scharfsinn in
den Schriften dieser Manner zu finden. Eine grofie Arbeit
ist daran gewendet worden, die Natur und Tragweite der
menschlichen Erkenntnisfahigkeit zu untersuchen. Johan-
nes Volkelt, der, insofern er als Erkenntnistheoretiker sich
betatigt, ganz in dieser StrSmung lebt, auch selbst ein
griindliches Werk iiber Kants «Erkenntnistheorie» (1879)
geliefert hat, und der aus dieser Stromung heraus ein Buch
iiber «Erfahrung und Denken» (1886) geschrieben hat, in
dem alle diese Vorstellungsart bestimmenden Fragen er-
ortert werden, hat 1884 beim Antritt seines Lehramtes in
Basel eine Rede gehalten, in welcher er ausspricht, dafi alles
Denken, das iiber die Ergebnisse der einzelnen Tatsachen wis-
senschaften hinausgeht, den «unruhigen Charakter des Su-
chens und Nachspiirens, des Probierens, Abwehrens undZu-
gestehens an sich» haben miisse; «es ist ein Vorwartsgehen,
das dochwieder teilweisezuruckweicht;einNachgeben, das
doch wieder bis zu einem gewissen Grade zugreif t». (Volkelt,
Ober die Moglichkeit der Metaphysik, Hamburg und Leip-
zig, 1 8 84.) - Scharf nuanciert erscheint die neuere Ankniip-
fung an Kant bei Otto Liebmann. Seine Schriften «2ur Ana-
lysis der Wirklichkeit» (1876), «Gedanken und Tatsachen»
(1882), «Die Klimax der Theorien» (1884) sind wahre Mu-
sterbeispiele philosophischer Kritik. Ein atzender Verstand
deckt da in genialischer Weise Widerspriiche in den Ge-
dankenwelten auf, zeigt Halbheiten in sicher erscheinen-
den Urteilen und rechnet griindlich den einzelnen Wissen-
schaften vor, was sie Unbefriedigendes enthalten, wenn
ihre Ergebnisse vor ein hochstes Denktribunal gestellt wer-
den. Liebmann rechnet dem Darwinismus seine Wider-
spriiche vor; er zeigt seine nicht ganz begriindeten An-
nahmen und seine Gedankenliicken. Er sagt, dafi etwas da
sein mufi, das iiber die "Widerspruche hinwegfiihrt, das die
Liicken ausfullt, das die Annahmen begriindet. Er schliefit
einmal die Betrachtung, die er der Natur der Lebewesen
widmet, mit den Worten: «Der Umstand, dafi Pflanzen-
samen trotz aonenlangen Trockenliegens seine Keimfahig-
keit nicht verliert, dafi zum Beispiel die in agyptischen
Mumiensargen aufgefundenen Weizenkorner, nachdem sie
Jahrtausende hindurch hermetisch begraben gewesen sind,
heute in feuchten Acker gesat aufs vortrefflichste gedeihen;
dafi ferner Radertierchen und andere Infusorien, die man
ganz vertrocknet aus der Dachrinne aufgesammelt hat,
bei Befeuditung mit Regenwasser neubelebt umherwim-
meln; ja dafi Frosche und Fische, die im gefrierenden Was-
zu festen Eisklumpen erstarrt sind, bei sorgfaltigem Auf-
tauen das verlorene Leben wiedergewinnen; - dieser Um-
stand laflt ganz entgegengesetzte Deutungen zu. ... Kurz:
jedes kategorische Absprecben in dieser Angel egenheit
ware plumper Dogma tismus. Daher brechen wir hier ab.»
Dieses «Daher brechen wir hier ab» ist im Grunde, wenn
audi nicht dem Worte, doch dem Sinne nach, der Schlufl-
gedanke jeder Liebmannschen Betrachtung. Ja, es ist das
Schlufiergebnis vieler neuer Anhanger und Bearbeiter des
Kantianismus. - Die Bekenner dieser Richtung kommen
nicht dariiber hinaus, zu betonen, dafi sie die Dinge in ihr
Bewufitsein aufnehmen, dafi also alles, was sie sehen,
horen usw. nicht draufien in der Welt, sondern drinnen in
ihnen selbst ist, und dafi sie folglich uber das, was draufien
ist, nichts ausmachen konnen. Vor mir steht ein Tisch, -
sagt sich der Neukantianer. Doch nein, das scheint nur so,
Nur wer naiv ist in bezug auf Weltanschauungsfragen,
kann sagen: Aufier mir ist ein Tisch. Wer die Naivitat
abgelegt hat, sagt sich: Irgend etwas Unbekanntes macht
auf mein Auge einen Eindruck; dieses Auge und mein Ge-
hirn machen aus diesem Eindruck eine braune Empfindung.
Und weil ich die braune Empfindung nicht nur in einem
einzigen Punkte habe, sondern mein Auge hinschweifen
lassen kann uber eine Flache und iiber vier saulenartige
Gebilde, so formt sich mir die Braunheit zu einem Gegen-
stand, der eben der Tisch ist. Und wenn ich den Tisch be-
riihre, so leistet er mir Widerstand. Er macht einen Ein-
druck auf meinen Tastsinn, den ich dadurch ausdriicke,
daft ich dem vom Auge geschaffenen Gebilde eine Harte
zuschreibe. Ich habe also auf Anlafi irgendeines «Dinges
an sich», das ich nicht kenne, aus mir heraus den Tisch ge-
schaffen. Der Tisch ist meine Vorstellung. Er ist nur in
meinem Bewufitsein. Volkelt stellt diese Ansicht an den
Beginn seines Buches iiber Kants Erkenntnistheorie: «Der
erste Fundamentalsatz, den sich der Philosoph zu deut-
lichem Bewufitsein zu bringen hat, besteht in der Erkennt-
nis, daft unser Wissen sich zunachst auf nidits weiter als
auf unsere Vorstellungen erstreckt. Unsere Vorstellungen
sind das Einzige, das wir unmittelbar erfahren, unmittel-
bar erleben; und eben weil wir sie unmittelbar erfahren, des-
wegen vermag uns auch der radikalste Zweifel das Wissen
von denselben nicht zu entreiften. Dagegen ist das Wissen,
das iiber mein Vorstellen - ich nehme diesen Ausdruck hier
iiberall im weitesten Sinne, so daft alles psychische Ge-
schehen darunter fallt - hinausgeht, vor dem Zweifel nicht
geschiitzt. Daher mufi zu Beginn des Philosophierens alles
iiber die Vorstellungen hinausgehende Wissen ausdruck-
lich als bezweifelbar hingesteilt werden.» Otto Liebmann
verwendet diesen Gedanken auch dazu, die Behauptung
zu verteidigen: Der Mensch konne ebensowenig wissen, ob
die von ihm vorgestellten Dinge aufierhalb seines Bewufit-
seins nicht seien, wie er wissen konne, ob sie seien. «Ge-
rade deshalb, weil in der Tat kein vorstellendes Subjekt
aus der Sphare seines subjektiven Vorstellens hinaus kann;
gerade deshalb, weil es nie und nimmermehr nut Uber-
springung des eigenen Bewufkseins, unter Emanzipation
von sich selber, dasjenige zu erfassen und zu konstatieren
imstande ist, was jenseits und au&erhalb seiner Subjektivi-
tat existieren oder nicht existieren mag; gerade deshalb ist
es ungereimt, behaupten zu wollen, dafi das vorgestellte
Objekt aulterhalb der subjektiven Vorstellung nidit da
sei.» (O. Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, S. 28.)
Sowohl Volkelt wie Liebmann sind aber dodi bemuht,
nachzuweisen, dafi der Mensch innerhalb seiner Vorstel-
lungswelt etwas vorfindet, das nicht blofi beobaditet,
wahrgenommen, sondern zu dem "Wahrgenommenen hin-
zugedacht ist, und das auf das Wesen der Dinge wenig-
stens hindeutet. Volkelt ist der Ansicht, dafi es eine Tat-
sache innerhalb des Vorstellungslebens selbst gibt, die hin-
ausweist iiber das blofie Vorstellungsleben, auf etwas, das
aufterhalb dieses Vorstellungslebens liegt. Diese Tatsache
ist die, daft sich gewisse Vorstellungen dem Mensdien mit
logischer Notwendigkeit aufdrangen. In seiner 1906 er-
schienenen Schrift «Die Quellen der menschlichen Gewift-
heit» liest man (S. 3) die Volkeltsdie Ansidit: «Fragt man,
worauf die Gewifiheit unseres Erkennens beruht, so stofit
man auf zwei Urspriinge, auf zwei Gewifiheitsquellen.
Mag auch ein noch so inniges Zusammenwirken beider Ge-
wiftheitsweisen notig sein, wenn Erkenntnis entstehen soli,
so ist es audi unmoglich, die eine auf die andere zuruck-
zufiihren. Die eine Gewifiheitsqueiie ist die Selbstgewift-
heit des Bewuikseins, das Innesein meiner Bewufitseinstat-
sachen. So wahr ich Bewufitsein bin, so wahr bezeugt mir
mein Bewulksein das Vorhandensein gewisser Verlaufe
und Zustande, gewisser Inhalte und Formen. Ohne diese
Gewifiheitsquelle gabe es iiberhaupt kein Erkennen; sie
gibt uns den Stoff, aus dessen Bearbeitung alle Erkennt-
nisse allererst hervorgehen. Die andere Gewifiheitsquelle
ist die Denknotwendigkeit, die Gewifiheit des logischen
Zwanges, das sachliche Notwendigkeitsbewufitsein. Hier-
mit ist etwas schlechtweg Neues gegeben, das sich aus der
Selbstgewifiheit des Bewufitseins unmoglich gewinnen
lafit.» tJber diese zweite Gewifiheitsquelle spricht sichVol-
kelt in seiner friiher genannten Schrift in folgender Art
aus: «Die unmittelbare Erfahrung lafit uns in der Tat er-
leben, dafi gewisse BegrifFsverknupfungen eine hochst
eigentumliche Notigung bei sich fuhren, welche von alien
anderen Arten der Notigung, von denen Vorstellungen
begleitet sind, wesentlich unterschieden ist. Diese Noti-
gung zwingt uns, gewisse BegrifFe nicht nur als in dem
bewufiten Vorstellen notwendig zusammengehorig zu den-
ken, sondern audi eine entsprechende objektive, unabhan-
gig von den bewufken Vorstellungen existierende not-
wendige Zusammengehorigkeit anzunehmen. Und ferner
zwingt uns diese Notigung nicht etwa in der Weise, dafi
sie uns sagte, es ware, falls das von ihr Vorgeschriebene
nicht stattfande, um unsere moralische Befriedigung oder
um unser inneres Gliick, unser Heil usw. geschehen, son-
dern ihr Zwang enthalt dies, dafi das objektive Sein sich
in sich selbst aufheben, seine Existenzmoglichkeit verlie-
ren miifite, wenn das Gegenteil von dem, was sie vor-
schreibt, bestehen sollte. Das Ausgezeichnete dieses Zwan-
ges besteht also darin, dalS der Gedanke, es soli das Ge-
genteil der sich uns aufdrangenden Notwendigkeit existie-
ren, sich uns unmittelbar als eine Forderung, dafi sich die
Realitat gegen ihre Existenzbedingungen empb'ren solle,
kundtut. Wir bezeichnen bekanntlich diesen eigentiimlichen
unmittelbar erlebten Zwang als logischen Zwang, als
Denknotwendigkeit. Das logisch Notwendige ofFenbart
sich uns unmittelbar als ein Ausspruch der Sache selbst,
Und zwar ist es die eigentumliche sinnvolle Bedeutung,
die vernunftvolle Durchleuchtung, die alles Logische ent-
halt, wodurch mit unmittelbarer Evidenz fur die sadhliche,
reale Geltung der logischen Begriffsverkniipfungen gezeugt
wird.» (Volkelt, Kants Erkenntnistheorie, S. 208 f .) Und
Otto Liebmann legt gegen das Ende seiner Schrift «Die
Klimax der Theorien» das Bekenntnis ab, daft, seiner An-
sidit nach, das ganze Gedankengebaude menschlicher Er-
kenntnis, vom Erdgeschofi der Beobachtungswissenschaft
bis in die luftigsten Regionen hochster Weltanschauungs-
hypothesen, durchzogen ist von Gedanken, die liber die
Wahrnehmung hinausweisen, und dafi die «Wahrneh-
mungsbruchstucke erst nach Ma£gabe bestimmter Verfah-
rungsarten des Verstandes durch aufierordentlich viel
Nichtbeobachtetes erganzt, verbunden, in fester Ordnung
aneinandergereiht werden miissen.» Wie kann man aber
dem menschlichen Denken die Fahigkeit absprechen, aus
sich heraus, durch eigene Tatigkeit etwas zu erkennen,
wenn es schon zur Ordnung der beobachteten Wahrneh-
mungstatsachen diese seine eigene Tatigkeit zu Hilfe rufen
mufi? Der Neukantianismus ist in einer sonderbaren Lage.
Er mochte innerhalb des Bewufitseins, innerhalb des Vor-
stellungslebens bleiben, mufi sich aber gestehen, dafi er in
diesem «Innerhalb» keinen Schritt machen kann, der ihn
nicht links und rechts hinausfiihrte. Otto Liebmann schlieftt
das zweite seiner Hefte «Gedanken und Tatsachen» so:
«Wenn einerseits, aus dem Gesichtspunkt der Naturwis-
senschaft betrachtet, der Mensch nichts weiter ware als
belebter Staub, so ist andererseits, aus dem allein uns un-
mittelbar zuganglichen, unmittelbar gegebenen Gesichts-
punkt betrachtet, die ganze im Raum und in der Zeit er-
scheinende Natur ein anthropozentrisches Phanomen.»
Trotzdem die Anschauung, dafi die Beobachtungswelt
nur menschliche Vorstellung ist, sich selbst ausloschen mufi,
wenn sie richtig verstanden wird, sind ihre Bekenner zahl-
reich. Sie wird in den verschiedensten Schattierungen im
Laufe der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts immer
wiederholt. Ernst Laas (1837 — 1885) vertritt energisch den
Standpunkt, daft nur positive Wahrnehmungstatsachen
innerhalb der Erkenntnis verarbeitet werden diirfen.
Aloys Riehl (1844 — 1924) erklart, weil er von derselben
Grundanschauung ausgeht, daft es iiberhaupt keine allge-
meine Weltanschauung geben konne, sondern daft alles,
was iiber die einzelnen Wissenschaften hinausgeht, nichts
anderes sein diirf e, als eine Kritik der Erkenntnis. Erkannt
wird nur in den einzelnen Wissenschaften; die Philosophic
hat die Aufgabe, zu zeigen, wie erkannt wird, und dar-
iiber zu wachen, daft das Denken nur ja nichts in das
Erkennen einmische, was sich durch die Tatsachen nicht
rechtfertigen lasse. Am radikalsten ist Richard Wahle in
seinem Buche «Das Ganze der Philosophic und ihr Ende»
vorgegangen (1894). Er sondert in der denkbar scharf-
sinnigsten Weise aus der Erkenntnis alles aus, was durch
den menschlichen Geist zu den « Vorkommnissen» der Welt
hinzugebracht ist. Zuletzt steht dieser Geist da in dem
Meere der voriiberflutenden Vorkommnisse, sich selbst in
diesem Meere als ein solches Vorkommnis schauend und
nirgends einen Anhaltspunkt fmdend, sich iiber die Vor-
kommnisse sinnvoll aufzuklaren. Dieser Geist miiftte ja
seine eigene Kraft anspannen, um von sich aus die Vor-
kommnisse zu ordnen. Aber dann ist es ja er selbst, der
diese Ordnung in die Natur bringt. Wenn er etwas iiber
das Wesen der Vorkommnisse sagt, dann hat er es nicht
aus den Dingen, sondern aus sich genommen. Er konnte
das nur, wenn er sich zugestiinde, daft in seinem eigenen
Tun etwas Wesenhaftes sich abspielte, wenn er annebmen
diirfte, dafi es audi fiir die Dinge etwas bedeutet, wenn
er etwas sagt. Dieses Vertrauen darf im Sinne der Welt-
anschauung Wahles der Geist nicht haben. Er mufi die
Hande in den Schofi legen und zusehen, was urn ihn und
in ihm abflutet; und er prellte sich selbst, wenn er auf
eine Anschauung etwas gabe, die er sich iiber die Vor-
kommnisse bildet. «Was konnte der Geist, der, ins Welt-
gehause spahend und in sich die Fragen nach dem Wesen
und dem Ziele des Geschehens herumwalzte, endlich als
Antwort finden? Es ist ihm widerfahren, dafi er, wie er
so scheinbar im Gegensatze zur umgebenden Welt dastand,
sich aufloste und in einer Flucht von Vorkommnissen mit
alien Vorkommnissen zusammenflofi. Er ,wufite* nicht
mehr die Welt; er sagte, ich bin nicht sicher, dafi Wissende
da sind, sondern Vorkommnisse sind da schlechthin. Sie
kommen freilich in solcher Weise, dafi der Begriff eines
Wissens vorschnell, ungerechtfertigt entstehen konnte
Und ,Begriffe* huschten empor, urn Licht in die Vorkomm-
nisse zu bringen, aber es waren Irrlichter, Seelen der Wiin-
sche nach Wissen, erbarmliche, in ihrer Evidenz nichts-
sagende Postulate einer unausgefullten Wissensform. Un-
bekannte Faktoren miissen im Wechsel walten. Uber ihre
Natur war Dunkel gebreitet, Vorkommnisse sind der
Schleier des Wahrhaften. ...» Wahle schlielk sein Buch,
das die «Vermachtnisse» der Philosophic an die einzelnen
Wissenschaften darstellen soli, an Theologie, Physiologie,
Asthetik und Staatspadagogik, mit den Worten: «Moge
die 2eit anbrechen, in der man sagen wird, einst war Phi-
losophic »
Wahles genanntes Buch (wie seine anderen: «Geschicht-
licher Oberblick iiber die Entwickelung der Philosophie»,
1894, «Uber den Mechanismus des geistigen Lebens», 1906)
ist eines der bedeutsamsten Symptome der Weltanschau-
ungsentwickelung im neunzehnten Jahrhundert. Die Ver-
trauenslosigkeit gegeniiber dem Erkennen, die von Kant
ihren Ausgangspunkt nimmt, endet fur eine Gedanken-
welt, wie sie bei Wahle auftritt, mit dem vollstandigen
Unglauben an alle "Weltanschauung.
WELT ANSCHAUUN GEN
DER WISSENSCHAFTLICHEN TATSACHLICHKEIT
Ein Versuch, von der blofien Grundlage der strengen Wis-
senschaft aus eine Gesamtansidit iiber die Welt und das
Leben zu gewinnen, wurde im Verlaufe des neunzehnten
Jahrhunderts in Frankreidi durdi Auguste Comte (1798
bis 1857) unternommen. Dieses Unternehmen, das in Com-
tes «Cours de philosophic positive* (6Bande, 1830 — 1842)
ein umfassendes Weltbild gezeigt hat, steht in schrofFem
Gegensatze zu den idealistischen Ansichten Fichtes, Schel-
lings, Hegels in der ersten Jahrhunderthalfte, wie audi in
einem, zwar minder starken, aber doch deutlichen zu alien
Gedankengebauden, die aus den Lamarck-Darwinschen
Entwickelungsideen ihre Ergebnisse nehmen. Was bei He-
gel im Mittelpunkt aller Weltanschauung steht, die Be-
trachtung und Erfassung des eigenen Geistes im Menschen:
sie lehnt Comte vollstandig ab. Er sagt sich: Wollte der
menschliche Geist sich selbst betrachten, so mufite er sich ja
geradezu in zwei Personlichkeiten teilen; er mufke aus
sich herausschlupfen, und sich sich selbst gegenuberstellen.
Schon die Psychologie, die sich nicht in der physiologi-
schen Betrachtung erschopft, sondern die geistigen Vor-
gange fiir sich betrachten will, lafit Comte nicht gelten.
Alles, was Gegenstand der Erkenntnis werden will, muS
sich auf objektive Zusammenhange der Tatsachen bezie-
hen, mufi sich so objektiv darstellen wie die Gesetze der
mathematischen Wissenschaften. Und hieraus ergibt sich
auch der Gegensatz Comtes zu dem, was Spencer und die
auf Lamarck und Darwin bauenden naturwissenschaft-
lichen Denker mit ihren Weltbildern versucht haben. Fiir
Comte ist die menschliche Art als feststehend und unver-
anderlich gegeben; er will von der-Theorie Lamarcks nichts
wissen. Einfache, durchsichtige Naturgesetze, wie sie die
Physik bei ihren Erscheinungen anwendet, sind ihm Ideale
der Erkenntnis. Solange eine Wissenschaft nodi nicht mit
solchen einfachen Gesetzen arbeitet, ist sie fiir Comte als
Erkenntnis unbefriedigend. Er ist ein mathematischer
Kopf . Und was sich nicht durchsichtig und einfach wie ein
mathematisches Problem behandeln laik, ist ihm nodi un-
reif fiir die Wissenschaft. Comte hat keine Empfmdung
dafiir, daft man urn so lebensvollere Ideen braucht, je
mehr man von den rein mechanischen und physikalischen
Vorgangen zu den hoheren Naturgebilden und zum Men-
schen heraufsteigt. Seine Weltanschauung gewinnt dadurch
etwas Totes, Starres. Die ganze Welt stellt sich wie das
Raderwerk einer Maschine dar. Comte sieht iiberall am
Lebendigen vorbei; er treibt das Leben und den Geist aus
den Dingen heraus und erklart dann lediglich, was an
ihnen mechanisch, maschinenmafSig ist. Das inhaltvolle
geschichtliche Leben des Menschen nimmt sich in seiner
Darstellung aus wie das BegrifTsbild, das der Astronom
von den Bewegungen der Himmelskorper entwirf t. Comte
hat eine Stufenleiter der Wissenschaften aufgebaut. Ma-
thematik ist die unterste Stufe; dann folgen Physik, Che-
mie, dann die Wissenschaft der Lebewesen; den Abschlufi
bildet die Soziologie, die Erkenntnis der menschlichen Ge-
sellschaft. Sein Bestreben geht dahin, alle diese Wissen-
schaften so einfach zu machen, wie die Mathematik ist.
Die Erscheinungen, mit denen sich die einzelnen Wissen-
schaften beschaftigen, seien immer andere; die Gesetze
seien im Grunde immer dieselben.
Die Wellen, die Holbachs 3 Condillacs und anderer Ge-
danken geschlagen, sind nodi deutlich vernehmbar in den
Vorlesungen iiber das «Verhaltnis der Seele zum K6rper»,
die Pierre Jean Georges Cabanis (1757 — 1808) 1797 bis
1798 an der vom Konvent erriditeten Hochschule zu Paris
hielt, Dennoch durften diese Vortrage als der Anfang der
Weltanschauungsentwickelung Frankreichs im neunzehn-
ten Jahrhundert bezeichnet werden. Es spricht sich in ihnen
ein deutliches Bewufitsein davon aus, dafi die Betrachtungs-
weise Condillacs fur die Erscheinungen des Seelenlebens
doch zu stark den Anschauungen nachgebiidet sei, die man
von dem Zustandekommen rein mechanischer Vorgange
der unorganischen Natur hat. Cabanis untersucht den Ein-
flufi des Lebensalters, des Geschlechts, der Lebensweise, des
Temperamentes auf die Denk- und Empfindungsweise des
Menschen. Er bildet die Vorstellung aus, da<S sich Geistiges
und Korperliches nicht wie zwei Wesenheiten gegenuber-
stehen, die nichts miteinander gemein haben, sondern dafi
sie ein untrennbares Ganzes ausmachen. "Was ihn von sei-
nen Vorgangern unterscheidet, ist nicht die Grundanschau-
ung, sondern die Art, wie er diese ausbaut. Jene tragen
die Anschauungen, die in der unorganischen Welt gewon-
nen sind, einfach in die geistige hinein; Cabanis sagt sich:
Betrachten wir zunachst so unbefangen, wie wir das Un-
organische ansehen, auch die Geisteswelt; dann wird sie
uns sagen, wie sie sich zu den iibrigen Naturerscheinungen
stellt. - In ahnlicher Weise verfuhr Destutt de Tracy (1754
bis 1836). Auch er wollte die geistigen Vorgange zunachst
unbefangen betrachten, wie sie sich darstellen, wenn man
ohne philosophisches, aber auch ohne naturwissenschaft-
liches Vorurteil an sie herantritt. Man gibt sich, nach der
Meinung dieses Denkers, einem Irrtum hin, wenn man die
Seele sich so automatisch vorstellt, wie das Condillac und
seine Anhanger getan haben. Man kann diese Automaten-
haftigkeit nicht mehr aufrecht erhalten, wenn man sidi
auf richtig selbst betraditet. Wir finden in uns keinen Auto-
maten, nidit ein Wesen, das blofi von aufien her am Gan-
gelbande gefiihrt wird. Wir finden in uns stets Selbst-
tatigkeit und Eigenwesen. Ja, wir wiilken von Wirkun-
gen der Aufienwelt gar nichts, wenn wir nidit in unserem
Eigenleben eine Stoning durch Zusammenstofie mit der
Aufienwelt empfanden. Wir erleben uns selbst; wir ent-
wickeln aus uns unsere Tatigkeit; aber indem wir dieses
tun, stofien wir auf Widerstand; wir merken, daft nidit
nur wir da sind, sondern audi nodi etwas, das sidi uns
widersetzt, eine Aufienwelt.
Obgleich ausgehend von Destutt de Tracy fuhrte die
Selbstbeobachtung der Seele auf ganz andere Wege zwei
Denker: Maine de Biran (1766 — 1824) und Andre-Marie
Ampere (1775 — 1836). Biran ist ein feinsinniger Beobach-
ter des menschlichen Geistes. Was bei Rousseau wie eine
tumultuarisch auftretende, nur von einer willkurlichen
Laune hervorgerufene Betrachtungsweise ersdieint, das tritt
uns bei ihm als klares, inhaltsvolles Denken entgegen.
Was in dem Menschen durch die Natur seiner Wesenheit,
durch sein Temperament ist, und was er durch sein tatiges
Eingreifen aus sich macht, seinen Charakter: diese beiden
Faktoren seines Innenlebens macht Biran als tief denken-
der Psychologe zum Gegenstand seiner Betrachtungen. Er
sudit die Verzweigungen und Wandlungen des Innen-
lebens auf; im Innern des Menschen findet er den Quell
der Erkenntnis. Die Krafte, die wir in unserm Innern
kennenlernen, sind die intimen Bekannten unseres Lebens;
und eine Aufienwelt kennen wir doch nur insofern, als sie
sich mehr oder weniger ahnlich und verwandt mit unserer
Innenwelt darstellt. Was wufiten wir von Kraften in der
Natur draufien, wenn wir nicht in der selbsttatigen Seele
eine Kraft wirklidi als Erlebnis kennenlernten und mit
dieser daher vergleichen konnten, was uns in der Aufien-
welt Kraft-Ahnliches entgegentritt. Unermiidlich ist Bi-
ran daher in dem Aufsuchen der Vorgange in der eigenen
Stele des Menschen. Auf das Unwillkiirliche, Unbewufite
im Innenleben richtet er sein Augenmerk, auf die geisti-
gen Vorgange, die in der Seele schon da sind, wenn in ihr
das Licht des Bewufitseins auftritt. - Birans Suchen nach
Weisheit im Innern der Seele fiihrte ihn in spateren Jah-
ren zu einer eigenartigen Mystik. "Wenn wir die tiefste
Weisheit aus der Seele schopfen, so miissen wir audi den
Urgriinden des Daseins dann am nachsten kommen, wenn
wir uns in uns selbst vertiefen. Das Erleben der tiefsten
Seelenvorgange ist also ein Hineinleben in den Urquell
des Daseins, in den Gott in uns.
Das Anziehende der Biransciien Weisheit liegt in der
intimen Art, mit der er sie vortragt. Er fand audi keine
geeignetere Darstellungsform als die eines «Journal in-
time», eine tagebuchartige. Die Schriften Birans, die am
tiefsten in seine Gedankenwelt fiihren, sind erst nadi sei-
nem Tode durdi £. Naville herausgegeben worden. (Vgl.
dessen «Maine de Biran. Sa vie et ses pensees», 1857, und
die von Naville herausgegebenen «Oeuvres inedites de M.
de Biran ».) Cabanis, Destutt de Tracy gehorten als altere
Manner einem engeren Kreise von Philosophen an, Biran
lebte als jiingerer unter ihnen. - Zu denen, die schon bei
Birans Lebzeiten vollstandig in dessen Anschauungen ein-
geweiht waren, gehorte Ampere, der als Naturforscher
durch seine Erweiterung der Oerstedschen Beobachtungen
uber das Verhaltnis von Elektrizitat und Magnetismus be-
deutend ist (vgl. obenS. 358). Birans Betrachtungsweise ist
intimer, diejenige Amperes wissenschaftlich-methodischer.
Dieser verfolgt einerseits, wie sich Empfindungen und
Vorstellungen in der Seele verketten, und anderseits, wie
der Geist mit Hilfe seines Denkens zu einer Wissenschaft
von den Welterscheinungen geiangt.
Das Bedeutungsvolle dieser "Weltanschauungsstromung,
die sich zeitlich als eine Fortsetzung der Condillacschen
Lehren darstellt, ist darin zu suchen, dafi das Eigenleben
der Seele entschieden betont wird, dafi die Selbsttatigkeit
der menschlichen Innenpersonlichkeit in den Vordergrund
der Betrachtung riickt, und da£ dabei dennoch alle die hier
in Betracht kommenden Geister auf Erkenntnisse im streng
naturwissenschaftlichen Sinne losarbeiten. Sie untersuchen
den Geist naturwissenschaftlich; aber sie wollen seine Er-
scheinungen nicht von vornherein gleichstellen den ande-
ren Vorgangen in der Natur. Und aus ihren mehr mate-
rialistischen Anfangen wird zuletzt ein Streben nach einer
ausgesprodben zum Geiste neigenden Weltanschauung.
Victor Cousin (1792 — 1867) unternahm mehrere Rei-
sen durch Deutschland und lernte durch dieselben die fiih-
renden Geister der idealistischenEpochepersonlichkennen.
Den tiefsten Eindruck haben auf ihn Hegel und Goethe
gemacht. Ihren Idealismus brachte er nach Frankreich. Er
konnte fur ihn wirken durch seine hinreiftende Redner-
gabe, mit der er tiefen Eindruck machte, erst als Professor
an der Ecole Normale (von 18 14 ab), dann an der Sor-
bonne. Dafi nicht durch die Betrachtung der Auftenwelt,
sondern durch diejenige des Menschengeistes ein befriedi-
gender Weltanschauungsstandpunkt zu gewinnen ist, das
hatte Cousin aus dem idealistischen Geistesleben heriiber-
genommen. Auf die Selbstbeobachtung der Seele griindete
er, was er sagen wollte. Und von Hegel hat er sich ange-
eignet, dafi Geist, Idee, Gedanke nicht nur im Innern des
Menschen, sondern audi drauften in der Natur und im
Fortgange des geschichtlichen Lebens walten, dafi Ver-
nunft in der Wirklichkeit vorhanden ist. Er lehrte, dafi in
dem Charakter eines Volkes, eines Zeitalters nicht das
blinde Ohngefahr, die Willkiir einzelner Menschen herr-
schen, sondern dafi sich ein notwendiger Gedanke, eine
wirkliche Idee darinnen aussprechen, ja, dafi ein grower
Mann in der Welt nur als der Sendbote einer grofien Idee
erscheint, um sie innerhalb des Werdeganges der Geschich-
te zu verwirklichen. Es mufite auf seine franzosischen Zu-
horer, die weltgeschichtliche Stiirme ohnegleichen in den
jiingsten Entwickelungsphasen ihres Volkes zu begreifen
hatten, einen tiefen Eindruck machen, von einem glanz-
vollen Redner die Verniinftigkeit des geschichtlichen Wer-
dens auf Grund grower Weltanschauungsgedanken dar-
gelegt zu horen.
Energisch, zielbewufit stellt sich Comte in diesen Gang
der franzosischen "Weltanschauungsentwickelung hinein
mit seinem Grundsatze: Nur in der Wissenschaftlichkeit,
die von so strengen mathematischen und beobachteten
Wahrheiten ausgeht wie die Physik oder die Chemie kann
der Ausgangspunkt fur eine Weltanschauung gesucht
werden. Er kann nur ein solches menschliches Denken fur
reif gelten lassen, das sich zu dieser Anschauung durch-
gerungen hat. Um dahin zu kommen, muftte die Mensch-
heit zwei Epochen der Unreife durchmachen, eine solche,
in der sie an Gotter glaubte, und eine folgende, in der sie
sich abstrakten Ideen hingegeben hat. In dem Aufsteigen
von der theologischen durch die idealistische zu der wis-
senschaftliclien Weltanschauung sieht Comte den notwen-
digen Entwickelungsgang der Menschheit. Im ersten Sta-
dium dachte sich der Mensch in die Naturvorgange men-
schenahnliche Gotter hinein, welche diese Vorgange so
willkiirlich zustandebringen wie der Mensch seine Verrich-
tungen. Spater setzte er an die Stelle der Gotter abstrakte
Ideen, wie Lebenskraft, allgemeine Weltvernunft, Welt-
zweck und so weiter. Audi diese Entwickelungsphase mufi
einer hoheren Platz machen. Es mufi eingesehen werden,
dafi nur in der Beobaditung und in der streng mathemati-
schen und logischen Betrachtung der Tatsachen eine Erkla-
rung der Welterscheinungen gefunden werden kann. Nur
was auf diesem "Wege die Physik, die Chemie und die
Wissenschaft von den Lebewesen (die Biologie) erforschen,
hat das Denken zum Zwecke einer Weltanschauung zu
verbinden. Es hat zu dem, was die einzelnen Wissenschaf-
ten erforscht haben, nichts hinzuzufugen, wie es die Theo-
logie mit ihren gottlichen Wesenheiten, die idealistische
Philosophic mit ihren abstrakten Gedanken tun. Audi die
Anschauungen iiber den Gang der Menschheitsentwicke-
lung, iiber das Zusammenleben der Menschen im Staate,
in der Gesellschaft usw. werden erst dann vollstandig
klar werden, wenn sie solche Gesetze suchen wie die
strengen Naturwissenschaften. Die Ursachen, warum Fa-
milien, Verbande, Rechtsanschauungen, Staatseinrichtun-
gen entstehen, miissen ebenso gesucht werden wie diejeni-
gen, warum Korper zur Erde fallen, oder warum die Ver-
dauungswerkzeuge des Tieres ihre Arbeit tun. Die "Wis-
senschaft vom menschlichen Zusammenleben, von der
menschlichen Entwickelung, die Soziologie, liegt daher
Comte besonders auf der Seele. Ihr sucht er den strengen
Charakter zu geben, den andere Wissenschaften allmah-
lich angenommen haben. In dieser Richtung hat er an
Claude- Henri de Saint-Simon (1760 — 1825) einen Vor-
ganger. Dieser schon stellte die Ansidit hin, dafi der Mensch
nur dann ein vollkommener Lenker seiner eigenen Ge-
schicke sein werde, wenn er sein eigenes Leben im Staate,
in der Gesellsdiaft, im Verlaufe der Gesdiichte im streng
wissenschaftlidien Sinne aufTasse und im Sinne eines na-
turgesetzlichen Werdens einrichte. Comte stand eineZeit-
lang in vertraulichem Umgang mit Saint-Simon. Er trenn-
te sich von ihm, als dieser sidi mit seinen Ansiditen in
allerlei bodenlose Traumereien und Utopien zu verlieren
schien. In der einmal eingeschlagenen Richtung arbeitete
Comte mit seltenem Eifer weiter. Sein «Cours de philo-
sophic positive» ist ein Versuch, im geistfremden Stil die
wissenschaftlidien Errungenschaften seiner Zeit durch
blofie orientierende Zusammenstellung und durch Ausbau
der Soziologie in ihrem Geiste, ohne Zuhilfenahme theo-
logischer oder idealistischer Gedanken zu einer Welt-
anschauung auszubauen. Dem Philosophen stellte Comte
keine andere Aufgabe als die einer solchen orientierenden
Zusammenstellung. Zu dem, was die Wissensdiaften iiber
den Zusammenhang der Tatsachen festgestellt haben, hat
er aus Eigenem nichts hinzuzutun. Damit war in scharf ster
Art die Meinung zum Ausdruck gekommen, dafi allein die
Wissensdiaften mit ihrer Beobachtung der Wirklidikeit,
mit ihren Methoden mitzusprechen haben, wenn es sich
um den Ausbau der Weltanschauung handelt.
Innerhalb des deutschen Geisteslebens trat als tatkraf-
tiger Verf echter dieses Gedankens von einer Alleinberechti-
gung des wissenschaftlichenDenkensE»genD^r£wg(i833
bis 1921) im Jahre 1865 mit seiner «Natiirlichen Dialek-
tik» auf. In weiterer Ausfiihrung legte er dann 1875 der
Welt seine Ansichten in seinem Buche: «Kursus der Phi-
losophic als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und
Lebensgestaltung», und in zahlreichen anderen mathema-
tischen, naturwissenschaftlichen, philosophischen, wissen-
schaftsgeschichtlichen und national-okonomischen Schriften
dar. Diihrings ganzes SchafFen geht aus einer im streng-
sten Sinne mathematrschen und mechanistischen Denkweise
hervor. In dem Durchdenken alles dessen, was sich in den
Welterscheinungen mit mathematischer Gesetzmafiigkeit
erreidien lafit, ist Diihring bewundernswert. Wo aber ein
solches Denken nicht hinreicht, da verliert er jede Mog-
lichkeit, sich im Leben zurechtzufinden. Aus diesem sei-
nem geistigen Charakter heraus ist die Willkiir, die Vor-
eingenommenheit zu erklaren, mit der Diihring so vieles
beurteilt. Wo man nach hoheren Ideen urteilen muE, wie
in den komplizierten Verhaltnissen des menschlichen Zu-
sammenlebens, da hat er deshalb keinen anderen Anhalts-
punkt als seine durch zufallige personliche Verhaltnisse in
ihn gepfianzten Sympathien und Antipathien. Er, der
mathematisch-objektive Kopf , verfallt in die vollige Will-
kiir, wenn er menschliche Leistungen der geschichtlichen
Vergangenheit oder der Gegenwart zu bewerten unter-
nimmt. Seine niichterne mathematische Vorstellungsart hat
ihn dazu gebracht, eine Personlichkeit, wie Goethe eine
ist, als den unwissenschaftlichsten Kopf der neueren Zeit
zu verketzern, dessen ganze Bedeutung sich, seiner Mei-
nung nach, in einigen lyrischen Leistungen erschopft. Man
kann in der Unterschatzung alles dessen, was die niich-
terne Wirklichkeit uberschreitet, nicht weiter gehen, als
dies Diihring in seinem Buche «Die Groften der modernen
Literatur» getan hat. Trotz dieser Einseitigkeit ist Diih-
ring eine der anregendsten Gestalten der modernen Welt-
anschauungsentwickelung. Keiner, der sidi in seine gedan-
kenvollen Biicher vertieft hat, kann sich etwas anderes als
dieses gestehen, daft er von ihnen tiefe Wirkungen emp-
fangen hat.
Mit den derbsten Ausdriicken belegt Diihring alle Welt-
anschauungen, die von anderen als streng wissenschaft-
lichen Gesichtspunkten ausgehen. Alle solche unwissen-
schaftlichen Denkungsarten «begreifen sich im Stadium der
kindischen Unreife oder in fieberhaften Anwandlungen,
oder in den Ruckbildungen der Greisenhaftigkeit, sie mo-
gen unter diesen Voraussetzungen ganze Epochen und
Teile der Menschheit oder gelegentlich einzelne Elemente
oder verkommene Schichten der Gesellschaft heimsuchen,
aber sie gehoren stets in die Gebiete des Unreifen, des Pa-
thologischen oder der bereits von der Faulnis zersetzten
Uberreife» (Kursus der Philosophic S. 44). Was Kant,
was Fichte, Schelling, Hegel geleistet haben, verurteilt er
als AusfluE charlatanhafter Professorenweisheit; der Idea-
lismus als Weltanschauung ist ihm eine Theorie des Wahn-
sinns. Er will eine Wirklichkeitsphilosophie schaffen, die
allein naturgemaft ist, weil sie «die kunstlichen und natur-
widrigen Erdichtungen beseitigt und zum erstenmal den
Begriff der Wirklichkeit zum Maft aller ideellen Konzep-
tionen macht»; die Wirklichkeit wird von ihr «in einer
Weise gedacht, die jede Anwandlung zu einer traumhaf-
ten und subjektivistisch beschriinkten Weltvorstellung
ausschlie{k». (Kursus der Philosophic S. 13.)
Man denke wie der richtige Mechaniker, der richtige
Physiker denkt, der sich an das halt, was die Sinne wahr-
nehmen, der Verstand logisch kombinieren und die Rech-
nung feststellen konnen. Alles, was dariiber hinausgeht,
ist miifiige Spielerei mit Begriffen. So sagt sich Diihring.
Aber diesem Denken will er auch zu seinem vollkommenen
Rechte verhelfen. Wer sich ausschliefilich an dieses Den-
ken halt, der kann sicher sein, dafi es ihm Aufschliisse iiber
die Wirklichkeit gibt. Alles Nadisinnen dariiber, ob wir
mit unserem Denken audi tatsachlidi in die Geheimnisse
des Weltgeschehens dringen konnen, alle Forschungen, die
wie die Kantsdien das Erkenntnisvermogen begrenzen
wollen, entspringen einer logisdien Verkehrtheit. Man soli
nicht in die aufopfernde Selbstverleugnung des Verstan-
des verfallen, die sich nicht wagt, etwas Positives iiber die
Welt auszumachen. Was wir wissen konnen, ist eine wirk-
liche ungetriibte Darstellung des "Wirklichen. «Das Ganze
der Dinge hat eine systematische Gliederung und innere
logische Konsequenz. Natur und Geschichte haben eine
Verfassung und Entwickelung, deren Wesen zu einem
grofien Teil den allgemeinen logischen Beziehungen aller
Begriffe entspricht. Die allgemeinen Eigenschaften und
Verhaltnisse der DenkbegrifFe, mit denen sich die Logik
beschaftigt, miissen auch fiir den besonders auszuzeichnen-
den Fall gelten, dafi ihr Gegenstand die Gesamtheit des
Seins nebst dessen Hauptgestalten ist. Da das allgemeinste
Denken in einem weiten Umfange iiber das entscheidet,
was sein und wie es sein kann, so miissen die obersten
Grundsatze und Hauptformen der Logik auch fiir alle
Wirklichkeit und deren Formen die mafigebende Bedeu-
tung erhalten» (Kursus der Philosophic S. 1 1). Die Wirk-
lichkeit hat sich in dem menschlichen Denken ein Organ
geschaffen, durch das sie sich gedankenmaftig in einem
ideellen Bilde wiedererzeugen, geistig nachschaffen kann.
Die Natur ist iiberall von einer durchgangigen Gesetz-
maftigkeit beherrscht, die durcii sich selbst im Rechte ist,
an der keine Kritik geiibt werden kann. *Wie sollte es
einen Sinn haben, an der Tragweite des Denkens, des Or-
ganes der Natur, Kritik zu iiben. Es ist eine Torheit, der
Natur zuzumuten, dafi sie sich ein Organ schafft, durch
das sie sich nur unvollkommen oder liickenhaft spiegelte.
Die Ordnung und Gesetzmafiigkeit draufien in der Wirk-
lichkeit miissen daher der logischen Ordnung und Gesetz-
mafiigkeit im menschlichen Denken entsprechen. «Das
ideelle System unserer Gedanken ist das Bild des realen
Systems der objektiven Wirklichkeit; das vollendete Wis-
sen hat in Form von Gedanken dieselbe Gestalt, welche
die Dinge in der Form des wirklichen Daseins haben. » -
Trotz dieser allgemeinen Ubereinstimmung zwischen Den-
ken und Wirklichkeit gibt es fiir das erstere doch die Mog-
lichkeit, iiber die letztere hinauszugehen. Das Denken
setzt in der Idee die Verrichtungen fort, die ihm von der
Wirklichkeit aufgedrangt werden. In der Wirklichkeit ist
jeder Korper teilbar, aber nur bis zu einer gewissen Gren-
ze. Das Denken bleibt bei dieser Grenze nicht stehen, son-
dern teilt in der Idee nodi weiter. Der Gedanke schweift
iiber die V/irklichkeit hinaus; er lafit den Korper ins Un-
endliche teilbar sein, aus unendlich kleinen Teilen beste-
hen. In Wirklichkeit besteht dieser Korper nur aus einer
ganz bestimmten endlichen Anzahl kleiner, aber nicht un-
endlich kleiner Teile. - Auf solche Art entstehen alle die
Wirklichkeit uberschreitendenUnendlichkeitsbegrirTe. Man
schreitet von jedem Ereignisse fort zu einem anderen, das
dessen Ursache ist; von dieser Ursache wieder zu deren
Ursache und so fort. Sogleich, wenn das Denken den Bo-
den der Wirklichkeit verlafit, schweift es in eine Unend-
lichkeit. Es stellt sich vor, daft zu jeder Ursache wieder
eine Ursache gesucht werden miisse, daft also die Welt
ohne einen Anfang in der Zeit sei. Auch mit der Raum-
erfullung verfahrt das Denken auf ahnliche Weise. Es
findet, wenn es den Himmelsraum durchmiftt, aufierhalb
der fernsten Sterne immer noch andere; es geht iiber diese
wirkliche Tatsadie hinaus und stellt sich den Raum un-
endlich und erfiillt mit einer endlosen Zahl von Weltkor-
pern vor. Man miisse sich, meint Duhring, klar dariiber
sein, daft alle solche Unendlichkeitsvorstellungen mit der
Wirklichkeit nichts zu tun haben. Sie entstehen nur da-
durch, daft das Denken mit den Methoden, die innerhalb
der Wirklichkeit dieser vollig entsprechen, diese iiberfliegt
und dadurch ins Uferlose kommt.
Wenn das Denken sich dieses seines Auseinandergehens
mit der Wirklichkeit bewuftt bleibt, dann braucht es im
iibrigen, nach Diihrings Ansicht, nicht zuriickhaltend zu
sein in der Obertragung von Begriffen, die dem mensch-
lichen Tun entlehnt sind, auf die Natur. Duhring schreckt,
von solchen Gesichtspunkten ausgehend, nicht einmal da-
vor zuriick, der Natur ebenso bei ihrem SchafFen Phan-
tasie zuzuerkennen wie dem Menschen bei dem seinigen.
«Die Phantasie» reicht in die Natur selbst hinab, sie «wur-
zelt, wie uberhaupt alles Denken, in Regungen, die dem
fertigen Bewufttsein vorausgehen und selbst gar keine
Elemente des subjektiv Empfundenen bilden» (Kursus der
Philosophic S. 50). Der von Comte verteidigte Gedanke,
daft alle Weltanschauung nichts weiter sein durfe, als eine
Zurechtlegung des rein Tatsachlichen, beherrscht Duhring
so vollstandig, daft er die Phantasie in die Tatsachenwelt
verlegt, weil er glaubt, sie einfach ablehnen zu miissen,
wenn sie nur im Gebiete des menschlichen Geistes auftrete.
Von diesen Vorstellungen ausgehend, gelangt er auch noch
zu anderen Obertragungen soldier Begriffe, die dem
menschlichen Wirken entnommen sind, auf die Natur. Er
denkt zum Beispiel nicht nur, der Mensch konne bei sei-
nem Tun erfolglose Versuche madien, von denen er ab-
la£t, weil sie nicht zum Ziel fuhren, sondern audi in den
Verriditungen der Natur sahe man Versuche nach dieser
oder jener Richtung. «Der Charakter des Versuchsartigen
in den Gestaltungen ist der Wirklichkeit nichts weniger als
fremd, und man sieht nicht ein, warum man aus Gefallig-
keit fiir eine oberflachliche Philosophic die Parallele der
Natur aufier dem Menschen und der Natur im Menschen
nur zur Half te gelten lassen soil. . ..Wenndersubjektivelrr-
turn des Denkens und Imaginierens aus der relativen Ge-
trenntheit und Selbstandigkeit dieser Sphare hervorgeht,
warum soli nicht audi ein praktischer Irrtum oder Fehl-
griff der objektiven und nidit denkenden Natur die Folge
einer verhaltnismafiigen Absonderung und gegenseitigen
Entfremdung ihrer verschiedenen Telle und Triebkrafte
sein konnen? Eine wahre und nicht vor den gemeinen Vor-
urteilen zuriickschreckende Philosophic wird schliefilidi
den vollstandigen Parallelismus und die durdigangige
Einheit der Konstitution nach beiden Seiten hin anerken-
nen» (Kursus der Philosophic S. 51).
Diihring ist also nicht sprode, wenn es sich darum han-
delt, die BegrifFe, die das Denken in sich erzeugt, auf die
Wirklichkeit zu iibertragen. Weil er aber, seiner ganzen
Veranlagung nach, nur Sinn fiir mathematische Vorstel-
lungen hat, so gewinnt audi das Bild, das er von der Welt
entwirft, ein mathematisch-schematisches Geprage. Der
Betrachtungsweise, die sich durch Darwin und Haeckel
ausgebildet hat, steht er ablehnend gegeniiber. Fiir die
Aufsuchung der Griinde, warum sich ein Wesen aus dem
anderen entwickelt, hat er kein Verstandnis. Der Mathe-
matiker stellt doch audi die Gebilde: Dreieck, Viereck,
Kreis, Ellipse nebeneinander; warum sollte man sich nidit
bei einem ahnlichen schematischen Nebeneinander in der
Natur beruhigen? Nicht auf das Werden in der Natur,
sondern auf die festen Gestaltungen, welche die Natur
herausarbeitet durch Kombination ihrer Kraf te, geht Diih-
ring los, wie der Mathematiker die bestimmten, streng
umrissenen Raumgebilde betrachtet. Und Duhring findet
es nicht unangemessen, der Natur auch ein zweckvolles
Hinarbeiten auf solche feste Gebilde zuzuschreiben. Nicht
als bewufkes Wirken, wie es sich beim Menschen ausbil-
det, stellt sich Duhring dieses zweckvolle Naturstreben
vor; aber doch ist es ebenso deutlich in dem Tun der Na-
tur ausgepragt, wie die iibrige Naturgesetzmafiigkeit. -
Diihrings Ansicht ist also in dieser Beziehung der ent-
gegengesetzte Pol der von Friedrich Albert Lange vertre-
tenen. Dieser erklart die hoheren Begriffe, namentlich alle,
an denen die Phantasie einen Anteil hat, fiir berechtigte
Dichtung; Duhring lehnt alle Dichtung in Begriffen ab,
schreibt aber dafiir gewissen, ihm unentbehrlichen hoheren
Ideen tatsachliche Wirklichkeit zu. Ganz folgerichtig er-
scheint es daher, wenn Lange die Grundlage der Moral
alien in der Wirklichkeit wurzelnden Ideen entziehen will
(vgl. oben S. 434), und auch, wenn Duhring Ideen, die er
im Gebiete der Sittlichkeit fiir geltend halt, auch auf die
Natur ausdehnt. Er ist eben vollkommen davon iiber-
zeugt, dafi sich das, was im Menschen und durch den Men-
schen geschieht, ebenso natiirlich abspielt wie die leblosen
Vorgange. "Was also im Menschenleben richtig ist, kann in
der Natur nicht falsch sein. Solche Erwagungen wirkten
mit, um Duhring zum energischen Gegner der Darwin-
sdien Lehre vom «Kampf urns Dasem» zu madien. Wenn
in der Natur der Kampf aller gegen alle die Bedingung
der Vervollkommnung ware, so miifite er es audi im Men-
schenleben sein. «Eine soldie Vorstellung, die sidi obenein
den Anstridi der Wissenschaftlichkeit gibt, ist das erdenk-
lidi Moralwidrigste von allem. Der Charakter der Natur
wird auf diese Weise im antimoralisdien Sinne gefafit. Er
gilt nidit blofi als gleichgiiltig gegen die bessere Menschen-
moral, sondern geradezu als ubereinstimmend und im Bun-
de mit derjenigen schlechten Moral, der auch die Gauner
huldigen.» - Was der Mensch als moralische Antriebe emp-
f indet, mufi, im Sinne der Diihringschen Lebensanschauung,
schon in der Natur veranlagt sein. In der Natur mufi ein
Hinzielen auf das Moralische beobachtet werden.Wie die
Natur andere Kraf te schaf f t, die sich zweckmafiig zu f esten
Gebilden kombinieren, so legt sie in den Menschen sympa-
thische Instinkte. Durch sie lafit er sich in seinem Zusam-
menleben mit den Nebenmenschen bestimmen. Im Menschen
setzt sich also auf hoher Stufe die Tatigkeit der Natur fort.
Den leblosen mechanischen Kraften schreibt Duhring das
Vermogen zu, aus sich selbst, maschinenartig, die Empfin-
dung zu erzeugen. «Die mechanische Kausalitat der Natur-
kraftewird in derFundamentalempfindung sozusagen sub-
jektiviert. DieTatsache dieses elementaren Subjektivierungs-
vorgangs kann ofFenbar nicht weiter erklart werden; denn
irgendwo und unter irgendwelchen Bedingungen mufi die
bewufitlose Medianik der Welt zum Gefuhl ihrer selbst
gelangen» (Kursus der Philosophic S. 147). Wenn sie aber
dazu gelangt, dann beginnt nicht eine neue Gesetzmafiig-
keit, ein Reich des Geistes, sondern es setzt sich nur fort,
was schon in der bewufitlosen Mechanik vorhanden war.
Diese Mechanik ist somit zwar bewufitlos, aber doch weise,
denn «die Erde mit allem, was sie hervorbringt, nebst den
aufterhalb, namentlich in der Sonne liegenden Ursachen
der Lebenserhaltung, sowie iiberhaupt einschliefilich aller
Einfliisse, die aus der umgebenden Gesamtwelt stammen,
diese ganze Anlage und Einrichtung mufi als wesentlidi
fiir den Menschen hergestellt, das heifit, als mit seinem
Wohl in Obereinstimmung gedacht werden».
*
Diihring sdireibt der Natur Gedanken zu, ja sogar Ziel
und moralische Tendenzen, ohne zuzugeben, daft er sie
damit idealisiert. Zur Naturerklarung gehdren hohere,
iiber das Wirkliche hinausgehende Ideen; solche darf es
aber nach Diihring nicht geben; folglidi deutet er sie zu
Tatsachen um. Etwas Ahnliches lebte sich in der Welt-
anschauung Julius Heinrich v. Kirchmanns aus, der mit
seiner «Philosophie des Wissens» um dieselbe Zeit auftrat
(1864) wie Diihring mit seiner «Naturlichen Dialektik».
Nur das ist wirklich, was wahrgenommen wird: davon
geht Kirchmann aus. Durch seine Wahrnehmung stent der
Mensch mit dem Dasein in Verbindung. Alles, was der
Mensch nicht aus der Wahrnehmung gewinnt, mufi er aus
seiner Erkenntnis des Wirklichen ausscheiden. Dies erreicht
er, wenn er alles Widerspruchsvolle ablehnt. «Der Wider-
spruch ist nicht»; dies ist Kirchmanns zweiter Grundsatz
neben dem ersten: «Das Wahrgenommene ist.»
Kirchmann lalk nur die Gefiihie und die Begierden als
solche Seelenzustande des Menschen gelten, die ein Dasein
fur sich haben. Das Wissen setzt er in Gegensatz zu diesen
seienden Zustanden der Seele. «Das Wissen bildet zu den
zwei andern Zustanden, zu dem Fiihlen und Begehren,
einen Gegensatz . . . Es mag dem Wissen irgendein gei-
stiger Vorgang, ja vielleidit ein Ahnliches, wie Druck,
Spannung, zugrunde liegen; aber so aufgefafit 1st das Wis-
sen nicht in seinem Wesen gefafit. Als Wissen, und nur
als soldies ist es hier zu untersudien, verbirgt es sein eige-
nes Sein und macht sich nur zu dem Spiegel eines fremden
Seins. Es gibt kein besseres Gleichnis dafiir, wie den Spie-
gel. So wie dieser urn so vollkommener ist, je mehr er nicht
sich selbst sehen lafk, sondern nur fremdes Sein abspie-
gelt, so audi das Wissen. Sein Wesen ist dieses reine Spie-
geln eines fremden Seins, ohne Beimischung des eigenen
seienden 2ustandes.» Man kann sich allerdings keinen
starkeren Gegensatz gegen die Vorstellungsweise Hegels
denken, als diese Anschauung vom Wissen. Wahrend bei
Hegel in dem Gedanken, also in dem, was die Seele durch
ihre eigene Tatigkeit zu der Wahrnehmung hinzubringt,
das Wesen einer Sache zum Vorschein kommt, stellt Kirch-
mann ein Ideal vom Wissen hin, in dem dieses ein von
alien eigenen Zutaten der Seele befreites Spiegelbild der
Wahrnehmungen ist.
Will man Kirchmanns Stellung im Geistesleben richtig
beurteilen, so mufi man die grofien Schwierigkeiten in Be-
tracht ziehen, die zur Zeit seines Auftretens jemand fand,
der den Trieb in sich hatte, ein selbstandiges Weltanschau-
ungsgebaude aufzurichten. Die naturwissenschaftlichen Er-
gebnisse, die einen tiefgehenden Einfluft auf die Welt-
anschauungsentwickelung haben mufiten, waren noch jung.
Ihr Zustand reichte gerade hin, um den Glauben an die
klassische, idealistische Weltanschauung zu erschiittern,
die ihr stolzes Gebaude ohne die Hilfe der neueren Natur-
wissenschaft hatte aufTiihren miissen. Nicht leicht aber war
es, der Fulle der Einzelergebnisse gegeniiber in neuer Form
zu orientierenden Grundgedanken zu kommen. Man ver-
lor in weiten Kreisen den Faden, der von der wissen-
schaftlichen Tatsadienkenntnis zu einer befriedigenden
Gesamtanschauung der Welt fiihrte. Eine gewisse Rat-
losigkeit in Weltanschauungsfragen bemachtigte sich vie-
ler. Das Verstandnis fiir einen Gedankensdhiwung, wie
sidi ein soldier in der Anschauung Hegels ausgelebt hatte,
war kaum mehr zu finden.
MODERNE
IDEALISTISCHE WELTANSCHAUUNGEN
Durch drei Denkerkopf e ist in der zweiten Half te des Jahr-
hunderts die naturwissenschaftliche Vorstellungsart mit den
idealistischen Traditionen aus der ersten Jahrhunderthalfte
dreimal zu Weltanschauungen verschmolzen worden, die
eine scharfe individuelle Physiognomie tragen, durch Her-
mann Lotze (1817- 1 881), Gustav Theodor Fechner ( 1801-
1887) un d Fduard von Hartmann (1842- 1906).
Lotze trat in seiner 1843 veroffentlichten Arbeit iiber
«Leben und Lebenskraft» (in R. Wagners Handworter-
buch der Physiologie) mit Entschiedenheit gegen den Glau-
ben auf, dafi in den Lebewesen eine besondere Kraft, die
Lebenskraft, vorhanden sei, und verteidigte den Gedan-
ken, dafi die Lebenserscheinungen nur durch komplizierte
Vorgange von der Art zu erklaren sind, wie sie sich audi
in der leblosen Natur abspielen. Er stellte sich in dieser
Beziehung also durchaus auf die Seite der neueren natur-
wissenschaftlichen Vorstellungsart, die den alten Gegen-
satz zwischen dem Leblosen und dem Lebendigen zu iiber-
briicken suchte. Im Sinne eines solchen Gesichtspunktes
sind seine Werke gehalten, die naturwissenschaftliche
Dinge behandeln: seine «Allgemeine Pathologie und The-
rapie als mechanische Naturwissenschaften» (1842) und
«Allgemeine Physiologie des korperlichen Lebens» (185 1).
Fechner lieferte in seinen «Elementen der Psychophysik»
(18^0) und in seiner «Vorschule der Xsthetik» (1876)
Werke, die den Geist streng naturwissenschaftlicher Vor-
stellungsart in sich tragen, und zwar auf Gebieten, die
vor ihm fast ausnahmslos im Sinne einer idealistischen
Denkweise bearbeitet worden waren. Lotze und Fechner
hatten aber das entsdiiedene Bediirfnis, iiber die natur-
wissenschaftliche Betrachtungsart hinaus sich eine ideali-
stische Gedankenwelt zu erbauen. Lotze wurde zu einer
solchen durch die BeschafFenheit seines Gemtites gedrangt,
das von ihm nicht nur ein denkendes Verfolgen der natiir-
lichen Gesetzmafiigkeit in der Welt forderte, sondern das
ihn in alien Dingen und Vorgangen Leben und Innerlich-
keit von der Art sudien liefi, wie sie der Mensch selbst in
seiner Brust empfindet. Er will «bestandig gegen die Vor-
stellungen streiten, die von der Welt nur die eine und ge-
ringere Halfte kennen wollen, nur das Entfalten von Tat-
sadien zu neuen Tatsachen, von Formen zu neuen For-
men, aber nidit die bestandige Wiederverinnerlichung all
dieses Aufierlichen zu dem, was in der Welt allein Wert
hat und Wahrheit, zu der Seligkeit und Verzweiflung,
der Bewunderung und dem Abscheu, der Liebe und dem
Hafi, zu der frohlichen Gewi£heit und der zweifelnden
Sehnsucht, zu all dem namenlosen Hangen und Bangen,
in weldiem das Leben verlauft, das allein Leben zu heijSen
verdient». Lotze hat wie so viele das Gefuhl, daft das
menschliche Bild der Natur kalt und nuchtern wird, wenn
wir in dasselbe nicht Vorstellungen hineintragen, die der
menschlichen Seele entnommen sind. (Vgl. oben S. 375.)
Was bei Lotze eine Folge seiner Gemiitsanlage 1st, das er-
scheint bei Fechner als Ergebnis einer reich entwickelten
Phantasie, die so wirkt, daiS sie von einer logischen Erf as-
sung der Dinge stets zu einer poesievollen Auslegung der-
selben fiihrt. Er kann nicht als naturwissenschaftlicher
Denker bloft die Entstehungsbedingungen des Menschen
suchen, und die Gesetze, die diesen nach einer gewissen
Zeit wieder sterben lassen. Ihm werden Geburt und Tod
zu Ereignissen, die seine Phantasie zu einem Leben vor
der Geburt, und zu einem solchen nach dem Tode leiten.
«Der Mensdi» - so fuhrt Fechner in dem «Biichlein vom
Leben nach dem Tode» aus - «lebt auf der Erde nicht
einmal, sondern dreimal. Seine erste Lebensstufe ist ein
steter Schlaf, die zweite eine Abwechslung zwischen Schlaf
und Wadien, die dritte ein ewiges Wachen. - Auf der
ersten Stufe lebt der Mensch einsam im Dunkel; auf der
zweiten lebt er gesellig, aber gesondert neben und zwi-
schen andern in einem Lichte, das ihm die Oberflache ab-
spiegelt; auf der dritten verflicht sich sein Leben mit dem
von andern Geistern zu einem hohern Leben in dem hoch-
sten Geiste und schaut er in das Wesen der endlichen Din-
ge. - Auf der ersten Stufe entwickelt sich der Korper aus
dem Keime und erschafft sich seine Werkzeuge fur die
zweite; auf der zweiten entwickelt sich der Geist aus dem
Keime und erschafft sich seine Werkzeuge fur die dritte;
auf der dritten entwickelt sich der gottliche Keim, der in
jedes Menschen Geiste liegt und schon hier in ein fiir uns
dunkles, fiir den Geist der dritten Stufe tageshelles, Jen-
seits durch Ahnung, Glaube, Gefiihl und Instinkt des Ge-
nius iiber den Menschen hinausweist. - Der t)bergang von
der ersten zur zweiten Lebensstufe heifk Geburt; der Ober-
gang von der zweiten zur dritten heifk Tod.»
Lotze hat eine Ausiegung der Welterscheinungen, wie
sie den Bedurfnissen seines Gemutes entspricht, in seinem
Werke «Mikrokosmos» (1856 — 1 864) und in seinenSchrif-
ten «Drei Bucher der Logik» (1874) und «Drei Biicher
Metaphysik» (1879) gegeben, Auch sind die Nachschriften
der Vortrage erschienen, die er iiber die verschiedenen Ge-
biete der Philosophic gehalten hat. Sein Verfahren stellt
sich dar als ein Verfolgen der streng naturlichen Gesetz-
mafiigkeit in der Welt, und ein nachheriges Zurechtlegen
dieser Gesetzmafiigkeit im Sinne einer idealen, harmoni-
sdien, seelenvollen Ordnung und "Wirksamkeit des Welt-
grundes. Wir sehen ein Ding auf das andere wirken; aber
das ersrere konnte das zweite gar nicht zu einer Wirkung
vermogen, wenn nicht eine urspriingliche Verwandtschaft
und Einheit zwisdien den beiden bestiinde. Dem zweiten
Dinge miifite es gleichgultig bleiben, was das erste voll-
bringt, wenn es nidit die Fahigkeit hatte, im Sinne dessen,
was das erste will, sein eigenes Tun einzurichten. Eine Ku-
gel kann durch eine andere, von der sie gestoSen wird,
nur dann zu einer Bewegung veranlalk werden, wenn sie
gewissermafien der anderen mit Verstandnis entgegen-
kommt, wenn in ihr dasselbe Verstandnis von Bewegung
ist wie in der ersten. Die Bewegungsfahigkeit ist etwas,
was sowohl in der einen wie in der andern Kugel als ihr
Gemeinsames enthalten ist. Alle Dinge und Vorgange
miissen ein solches Gemeinsames haben. Daft wir sie als
Dinge und Vorkommnisse wahrnehmen, die voneinander
getrennt sind, riihrt daher, daft wir bei unserer Beobach-
tung nur ihre Aufienseite kennenlernen; konnten wir in
ihr Inneres sehen, so erschiene uns das, was sie nidit trennt,
sondern zu einem grofien Weltganzen verbindet. Nur ein
Wesen gibt es fur uns, das wir nidit bloft von aufien, son-
dern von innen kennen, das wir nidit nur anschauen, son-
dern in das wir hineinsdiauen konnen. Das ist unsere
eigene Seele, das Ganze unserer geistigen Personlidikeit.
"Weil aber alle Dinge in ihrem Innern ein Gemeinsames
aufweisen miissen, so muft ihnen alien audi mit unserer
Seele das gemeinsam sein, was deren innersten Kern aus-
macht. Wir durfen daher uns das Innere der Dinge ahn-
lidi der BesdiafFenheit unserer eigenen Seele vorstellen.
Und der Weltgrund, der als das Gemeinsame aller Dinge
waltet, kann von uns nidit anders gedacht werden, denn
als eine umfassende Personlichkeit nach dem Bilde unserer
eigenen Personlichkeit. «Der Sehnsucht des Gemiites, das
Hochste, was ihm zu ahnen gestattet ist, als Wirklichkeit
zu fassen, kann keine andere Gestalt seines Daseins als
die der Personlichkeit genugen oder nur in Frage kommen.
So sehr ist sie davon iiberzeugt, daft lebendige, sich
selbst besitzende und genieftende Ichheit die unabweisliche
Vorbedingung und die einzige mogliche Heimat alles Gu-
ten und aller Guter ist, so sehr von stiller Geringsdiat-
zung gegen alles anscheinend leblose Dasein erfiillt, dafi
wir stets die beginnende Religion in ihren mythenbilden-
den Anfangen beschaftigt finden, die natiirliche Wirklich-
keit zur geistigen zu verklaren, nie hat sie dagegen ein
Bediirfnis empfunden, geistige Lebendigkeit auf blinde
Realitat als festeren Grund zuriickzudeuten.» Und seine
eigene Empfindung gegenuber den Dingen der Natur klei-
det Lotze in die Worte: «Idi kenne sie nicht, die toten
Massen, von denen ihr redet; mir ist alles Leben und Reg-
samkeit und auch die Ruhe und der Tod nur dumpfer
vorubergehender Schein rastlosen inneren Webens.» Und
wenn die Naturvorgange, wie sie in der Beobaditung er-
scheinen, nur soldht ein dumpfer vorubergehender Schein
sind, so kann auch ihr tiefstes Wesen nicht in dieser der
Beobachtung vorliegenden GesetzmalSigkeit, sondern in
dem « rastlosen Weben» der sie alle beseligenden Gesamt-
personlichkeit, in deren Zielen und Zwecken gesucht wer-
den. Lotze stellt sich daher vor, dafi sich in allem natiir-
lichen "Wirken ein von einer Personlichkeit gesetzter mora-
lischer Zweck zum Ausdrucke bringt, dem die Welt zu-
strebt. Die Naturgesetze sind der aufiere Ausdruck einer
allwaltenden ethischen Gesetzmafiigkeit der Welt. Es steht
mit dieser ethischen Auslegung der Welt vollkommen im
Einklang, was Lotze iiber das Fortleben der menschlichen
Seele nach dem Tode vorbringt: «Kein anderer Grundsatz
steht uns aufter der allgemeinen idealistischen Oberzeu-
gung zu Gebote: fortdauern werde jedes GeschafTene, des-
sen Fortdauer zu dem Sinne der Welt gehort; ...vergehen
werde alles, dessen Wirklichkeit nur in einer voriiber-
gehenden Phase des Weltlaufs seine berechtigte Stelle
hatte. Da£ dieser Grundsatz keine weitere Anwendung in
menschlichen Handen gestatte, bedarf kaum der Erwah-
nung; wir kennen sicher die Verdienste nicht, die dem
einen Wesen Anspruch auf ewiges Bestehen erwerben
konnen, noch die Mangel, die ihn anderen versagen.»
(Drei Bucher Metaphysik, § 245.) Wo Lotze seine Betrach-
tungen einmiinden lafk in das Gebiet der grofSen philo-
sophischen Ratselfragen, erhalten seine Gedanken einen
unsidieren Charakter. Es 1st ihnen anzumerken, daft ihr
Trager aus seinen beiden Erkenntnisquellen, der Natur-
wissenschaft und der seelisdien Selbstbeobachtung, keine
sichere Vorstellung gewinnen kann iiber das Verhaltnis
des Menschen zum Weltverlauf. Die innere Kraft der
Selbstbeobachtung dringt nicht durch zu einem Gedanken,
welcher dem Ich ein Recht geben konnte, sich als eine be-
stimmte Wesenheit innerhalb des Weltganzen zu erfiih-
len. In seinen Vorlesungen iiber «Religionsphilosophie»
steht zu lesen: «Der ,Glaube an Unsterblichkeit' hat kein
anderes sicheres Fundament als das y religidse Bedurjnis\
Es lafk sich daher auch philosophisch iiber die Art der Fort-
dauer nichts weiter bestimmen, als was aus einem einf achen
metaphysischen Satze fliefien konnte. Namlich: da wir
jedes Wesen nur als Geschopf Gottes betrachten, so gibt es
durchaus kein urspriinglich giiltiges Recht, auf welches die
einzelne Seele,etwa als «Substanz» sich berufen konnte,um
ewige individuelle Fortdauer zu fordern. Vielmehr konnen
wir bloft behaupten: jedes Wesen werde so lange von Gott
erhalten werden, als sein Dasein eine wertvolle Bedeutung
fur das Ganze seines Wei tplanes hat ...» In der Unbestimmt-
heit solcher Satze driickt sich aus, welche Tragweite die
Lotzeschen Ideen in das Gebiet der groften philosophischen
Ratselfragen hinein entwickeln konnen.
*
In dem Schriftchen «VomLeben nach demTode» spricht
sich Fechner iiber das Verhaltnis des Menschen zur Welt
aus. «Was sieht der Anatom, wenn er in das Gehirn des
Menschen blickt? Ein Gewirr von weiften Fasern, dessen
Sinn er nicht entratseln kann. Und was sieht es in sich
selbst? Eine Welt von Licht, Tonen, Gedanken, Erinne-
rungen, Phantasien, Empfindungen von Liebe und von
Haft. So denke dir das Verhaltnis dessen, was du, aufter-
lich der Welt gegeniiberstehend, in ihr siehst, und was sie
in sich seibst sieht, und verlange nicht, daft beides, das
Aufiere und Innere, sich im Ganzen der Welt mehr ahnlich
sehe als in dir, der nur ihr Teil. Und nur, daft du ein Teil
von dieser Welt bist, laftt dich audi einen Teil von dem,
was sie in sich sieht, in dir sehen.» Fechner stellt sich vor,
daft der Weltgeist zu der Weltmaterie dasselbe Verhalt-
nis habe wie der Menschengeist zum Menschenkdrper. Er
sagt sich nun: der Mensch spricht von sich, wenn er von
seinem Korper spricht; und er spricht audi von sich, wenn
er von seinem Geiste redet. Der Anatom, der das Gewirr
der Gehirnfasern untersucht, hat das Organ vor sich, dem
einst Gedanken und Phantasien entsprungen sind. Als der
Mensch noch lebte, dessen Gehirn der Anatom betrachtet,
standen vor seiner Seele nicht die Gehirnfasern und ihre
korperliche Tatigkeit, sondern eine Welt von Vorstellun-
gen. Was andert sich nun, wenn statt des Menschen, der
in seine Seele blickt, der Anatom in das Gehirn, das kor-
perliche Organ dieser Seele, schaut? 1st es nicht dasselbe
Wesen, derselbe Mensdi, der in dem einen und in dem an-
dern Falle betrachtet wird? Das Wesen, meint Fechner, sei
dasselbe, nur der Standpunkt des Beobachters habe sich
geandert. Der Anatom sieht sich von aufien an, was der
Mensch friiher von innen angesehen hat. Es ist, wie wenn
man einen Kreis einmal von aufien, einmal von innen an-
sieht. Im ersten Fall erscheint er erhaben, im zweiten hohl.
Beide Male ist es derselbe Kreis. So ist es auch mit dem
Menschen: sieht er sich selbst von innen an, so ist er Geist;
sieht ihn der Naturforscher von aufien an, so ist er Kor-
per, Materie. Im Sinne der Fechnerschen Vorstellungsart
ist es nicht angebracht, daruber nachzudenken, wie Korper
und Geist aufeinander wirken. Denn beides sind gar nicht
zwei verschiedene Wesen; sie sind eines und dasselbe. Sie
stellen sich nur als verschieden dar, wenn man sie von ver-
schiedenen Standorten aus beobachtet. Im Menschen sieht
Fechner einen Korper, der Geist zugleich ist. - Von diesem
Gesichtspunkte aus ergibt sich fiir Fechner die Moglich-
keit, sich die ganze Natur geistig, beseelt vorzustellen. Bei
sich selbst ist der Mensch in der Lage, das Korperliche von
innen anzuschauen, also die Innenseite unmittelbar als
Geistiges zu erkennen. Liegt nun nicht der Gedanke nahe,
dafi alles Korperliche, wenn es von innen angeschaut wer-
den konnte, als Geistiges erschiene? Die Pflanze konnen
wir nur von aufien sehen. Ist es nicht aber moglich, daS
auch sie, von innen angeschaut, sich als Seele erwiese?
Diese Vorstellung wuchs sich in Fechners Phantasie zur
Oberzeugung aus: Ailes Korperliche ist zugleich ein Gei-
stiges. Das kleinste Materielle ist beseelt. Und wenn sich
die materiellen Teile zu vollkommeneren materiellen Kor-
pern aufbauen, so ist dieser Vorgang nur ein von aufien
angesehener; ihm entspricht ein innerer, der sich als Zu-
sammensetzung von Einzelseelen zu vollkommeneren Ge~
samtseelen darstellen wiirde, wenn man ihn betrachten
konnte. Ware jemand imstande, das korperliche Getriebe
auf unserer Erde mit den auf ihr lebenden Pflanzen, mit
den sich darauf tummelnden Tieren und Menschen von
innen anzusehen, so stellte sich ihm dieses Ganze als Erd-
seele dar. Und ebenso ware es beim ganzen Sonnensystem,
ja bei der ganzen Welt. Das Universum ist, von aufien
gesehen, der korperliche Kosmos; von innen angeschaut,
Allgeist, vollkommenste Personlichkeit, Gott.
Wer zu einer "Weltanschauung gelangen will, mufi liber
die Tatsachen, die ohne sein Zutun sich ihm darbieten,
hinausgehen. Was durch ein solches Hinausgehen iiber die
Welt der unmittelbaren Wahrnehmung erreicht wird, dar-
iiber herrschen die verschiedensten Ansichten. Kirchhoff
hat 1874 die seinige (vgl. oben S. 433 f.) dahin ausgespro-
chen, dafi man auch durch die strengste Wissenschaft zu
nichts anderem komme als zu einer vollstandigen und ein-
fachen Beschreibung der tatsachlichen Vorgange. Fechner
geht von einem anderen Gesichtspunkt aus. Er ist der
Meinung, es sei «das die grofie Kunst des Schlusses vom
Diesseits auf das Jenseits, nicht von Griinden, die wir
nicht kennen, noch von Voraussetzungen, die wir machen,
sondern von Tatsachen, die wir kennen, auf die grofieren
und hoheren Tatsachen des Jenseits zu schlieften, und da-
durch den praktisch geforderten, an hoheren Gesichts-
punkten hangenden Glauben von unten her zu festigen,
zu stiitzen, und mit dem Leben in lebendigen Bezug zu
setzen». (Das Biichlein vom Leben nach dem Tode, 4. Aufl.
S. 69). Im Sinne dieser Meinung sucht Fechner nicht nur
den Zusammenhang der korperlichen Erscheinungen, die
der Beobachtung gegeben smd, mit den geistigen Ersdiei-
nungen der Beobachtung; sondern er fiigt zu den beobadi-
teten Seelenerscheinungen andere hinzu, den Erdgeist, den
Planetengeist, den Weltgeist.
Fechner laftt sich durch sein auf sicherer Gmndlage
ruhendes naturwissenschaftliches Wissen nicht abhalten,
die Gedanken von der Sinnenwelt aus zu erheben in Re-
gionen, wo ihnen Weltenwesen und Weltenvorgange vor-
schweben, die Her Sinnenbeobachtung entriickt sein miis-
sen, wenn sie existieren. Er fuhlt sich zu solcher Erhebung
angeregt durch sein sinniges Betrachten der Sinnenwelt,
die seinem Denken mehr sagt, als ihm die blofie Sinnes-
wahrnehmung sagen kann. Dieses «Mehr» fuhlt er sich
veranlaftt zur Ersinnung aufiersinnlicher Wesen zu ge-
brauchen. Auf diese seine Art strebt er danach, sich eine
Welt auszumalen, in welche der lebendig gewordene Ge-
danke hineinzufiihren verspricht. Solche Oberschreitung
der Sinnesgrenzen hat Fechner nicht abgehalten, sogar in
einem Gebiete, das an das Seelische grenzt, nach strengster
naturwissenschaftlicher Methode zu verfahren. Er ist es
gewesen, der fiir dieses Gebiet die wissenschaftlichen Me-
thoden geschaffen hat. Seine «Elemente der Psychophysik»
(i860) sind auf diesem Felde das grundlegende Werk. Das
Grundgesetz, auf das er die Psychophysik stellte, ist, daft
die Empfmdungszunahme, die im Menschen durch einen
wachsenden Eindruck von aufien bewirkt wird, in einem
bestimmten Verhaltnisse langsamer erfolgt als der Starke-
zuwachs des Eindruckes. Die Empfmdung wachst um so
weniger, je grofter die bereits vorhandene Starke des Rei-
zes war. Von diesem Gedanken ausgehend, ist es moglich,
ein Maftverhaltnis zwischen dem aufieren Reiz (zum Bei-
spiel der physischen Lichtstarke) und derEmpfindung (zum
Beispiel der Liditempfindung) zu gewinnen. Das Beschrei-
ten des von Fechner eingeschlagenen Weges hat zum Ausbau
der Psychophysik als einer ganz neuen "Wissenschaft von
dem Verhaltnis der Reize zu den Empfindungen, also des
Korperlichen zu dem Seelischen gefuhrt. Wilhelm Wundt,
der auf diesem Gebiete in Fechners Geist weitergearbeitet
hat, charakterisiert den Begriinder der « Psychophysik » in
ausgezeichneter Weise: «Vielleicht in keiner seiner sonsti-
gen wissenschaftlichen Leistungen tritt die seltene Ver-
einigung von Gaben, iiber die Fechner verfiigte, so glan-
zend hervor, wie in seinen psychophysischen Arbeiten. Zu
einem Werke, wie den Elementen der Psychophysik, be-
durfte es einer Vertrautheit mit den Prinzipien exakter
physikalisch-mathematischer Methodik und zugleich einer
Neigung, in die tiefsten Probleme des Seins sich zu ver-
tiefen, wie in dieser Vereinigung nur er sie besaft. Und
dazu brauchte er jene Urspriinglichkeit des Denkens, wel-
che die iiberkommenen Hilfsmittel frei nach eigenen Be-
diirfnissen umzugestalten wufite und kein Bedenken trug,
neue und ungewohnte Wege einzuschlagen. Die urn ihrer
genialen Einfachheit halber bewundernswerten, aber doch
nur beschrankten Beobachtungen E. H. Webers, die ver-
einzelten, oft mehr zufallig als planmafiig gefundenen
Versuchsweisen und Ergebnisse anderer Physiologen - sie
hildeten das bescheidene Material, aus dem er eine neue
Wissenschaft aufbaute.» Wichtige Aufschliisse iiber die
*Wechselwirkungen von Leib und Seele ergaben sich durch
die von Fechner angeregte experimentelle Methode auf
diesem Gebiete. Wundt diarakterisiert die neue Wissen-
schaft in seinen «Vorlesungen iiber die Menschen- und
Tierseele» (1863): «Ich werde in den nachfolgenden Un-
tersucliungen zeigen, dafi das Experiment in der Psycho-
logic das Haupthilfsmittel ist, das uns von den Tatsachen
des Bewufitseins auf jeneVorgange hinleitet, die imdunklen
Hintergrunde der Seele das bewufke Leben vorbereiten.
Die Selbstbeobachtung liefert uns, wie die Beobaditung
iiberhaupt, nur die zusammengesetzte Erscheinung. In dem
Experiment erst entkleiden wir die Erscheinung aller der
zufalligen Umstande, an die sie in der Natur gebunden
ist. Durch das Experiment erzeugen wir die Erscheinung
kiinstlich aus den Bedingungen heraus, die wir in der Hand
halten. Wir verandern diese Bedingungen und verandern
dadurch in mefibarer Weise auch die Erscheinung. So lei-
tet uns immer und iiberall erst das Experiment zu den Na-
turgesetzen, weil wir nur im Experiment gleichzeitig die
Ursachen und die Erfolge zu iiberschauen vermogen.»
Zweifellos ist es nur ein Grenzgebiet der Psychologie, auf
dem das Experiment fruchtbar ist, eben das Gebiet, auf
dem die bewufiten Vorgange hiniiberfuhren in die nicht
mehr bewufken, ins Materielle leitenden Hintergrunde
des Seelenlebens. Die jeigentlichen Seelenerscheinungen sind
ja doch nur durch die rein geistige Beobaditung zu gewin-
nen. Dennoch hat der Satz E. Kraepelins, eines Psycho-
physikers, voile Berechtigung, dafi «die junge Wissen-
schaft . . . dauernd ihren selbstandigen Platz neben den
iibrigen Zweigen der Naturwissenschaft und insonderheit
der Physiologie zu behaupten imstande sein wird». (Psy-
chologische Arbeiten, herausgegeben von E. Kraepelin.)
Eduard von Hartmann hatte, als er 1869 mit seiner
«Philosophie des Unbewufiten» auftrat, wenlger eine Welt-
anschauung im Auge, die mit den Ergebnissen der moder-
nen Naturwissenschaft redinet, als vielmehr eine solche,
welche die ihm in vielen Punkten ungeniigend erscheinen-
den Ideen der idealistischen Systeme aus der ersten Jahr-
hunderthalfte auf eine hohere Stufe hebt, sie von Wider-
spriichen reinigt und allseitig ausgestaltet. Ihm schienen
sowohl in Hegels wie in Schellings und audi in Schopen-
hauers Gedanken richtige Keime zu stecken, die nur zur
Reife gebracht werden mufken. Der Mensch kann sich nicht
mit der Beobachtung der Tatsachen begniigen, wenn er die
Dinge und Vorgange der Welt erkennen will. Er muft von
den Tatsachen zu Ideen fortschreken. Diese Ideen konnen
nicht etwas sein, das durch das Denken willkurlich zu den
Tatsachen hinzugefiigt wird. Es mufi ihnen in den Dingen
und Vorkommnissen etwas entsprechen. Dieses Entspre-
chende konnen nicht bewufke Ideen sein, denn solche kom-
men nur durch die materiellen Vorgange des menschlichen
Gehirns zustande. Ohne Gehirn gibt es kein Bewulksein.
Man mufi sich also vorstellen, dafi den bewufiten Ideen
des menschlichen Geistes ein unbewufites Ideelles in der
Wirklichkeit entspricht. Wie Hegel, betrachtet auch Hart-
mann die Idee als das Wirkliche in den Dingen, das in
ihnen vorhanden ist iiber das blofi Wahrnehmbare, der
sinnlichen Beobachtung zugangliche, hinaus. - Der blofie
Ideengehalt der Dinge konnte aber niemals ein wirkliches
Geschehen in ihnen hervorbringen. Die Idee einer Kugel
kann nicht die Idee einer anderen Kugel stofien. Die Idee
eines Tisches kann auch auf das menschliche Auge keinen
Eindruck hervorrufen. Ein wirkliches Geschehen setzt eine
wirkliche Kraft voraus. Um iiber eine solche eine Vorstel-
lung zu gewinnen, lehnt sich Hartmann an Schopenhauer
an. Der Mensch findet in der eigenen Seele eine Kraft,
durch die er seinen eigenen Gedanken, seinen Entschlussen
Wirklichkeit verleiht, den Willen. So wie der Wille in
der menschlichen Seele sich aufiert, hat er das Vorhanden-
sein des menschlichen Organismus zur Voraussetzung.
Durch den Organismus ist der Wille ein bewufSter. Woilen
wir uns in den Dingen eine Kraft denken, so konnen wir
sie uns nur ahnlich dem Willen, der einzigen uns unmittel-
bar bekannten Kraft, vorstellen. Nur mu£ man wieder
vom Bewulksein absehen. Aufier uns herrscht also in den
Dingen ein unbewufiter Wille, welcher den Ideen dieMog-
lichkeit gibt, sich zu verwirklichen. Der Ideen- und der
Willensgehalt der Welt machen in ihrer Vereinigung die
unbewuike Grundlage der Welt aus. - Wenn auch die Welt
wegen ihres Ideengehaltes eine durchaus logische Struktur
aufweist, so verdankt sie ihr wirkliches Dasein doch dem
unlogischen, vernunftlosen Willen. Ihr Inhalt ist ver-
niinftig; dalS dieser Inhalt eine Wirklichkeit ist, hat sei-
nen Grund in der Unvernunft. Das Walten des Unver-
nunftigen driickt sich in dem Vorhandensein der Schmer-
zen aus, die alle Wesen qualen. Der Schmerz iiberwiegt in
der Welt gegeniiber der Lust. Diese Tatsache, die philo-
sophisch aus dem unlogischen Wilienselemente des Daseins
zu erklaren ist, sucht Eduard von Hartmann durch sorg-
faltige Betrachtungen uber das Verhaltnis von Lust und
Unlust in der Welt zu erharten. Wer sich keiner Illusion
hingibt, sondern objektiv die T3bel der Welt betrachtet,
kann zu keinem anderen Ergebnis gelangen, als dafi die
Unlust in weit grolterem MafSe vorhanden ist als die Lust.
Daraus aber folgt, dafi das Nichtsein dem Dasein vorzu-
ziehen ist. Das Nichtsein kann aber nur erreicht werden,
wenn die logisch-verniinftige Idee den Willen, das Dasein
verniditet. Als eine ailmahliche Vernichtung des unver-
niinftigen Willens durch die verniinftige Ideenwelt sieht
daher Hartmann den Weltprozefi an. Es mufi die hochste
sittliche Aufgabe des Menschen die sein, an der Uberwin-
dung des Willens mitzuwirken. Aller Kulturfortschritt
muft zuletzt darauf hinauslaufen, diese "Oberwindung end-
lidi herbeizufiihren. Der Mensch ist mi thin sittlich gut,
wenn er an dem Kulturfortsdiritt teilnimmt, wenn er
nichts fiir sich verlangt, sondern sidi selbstlos dem grofien
Werke der Befreiung vom Dasein widmet. Er wird das
zweifellos tun, wenn er einsieht, dafi die Unlust immer
grofier sein mufi als die Lust, ein Gliick demnach unmog-
Hch ist. Nur der kann in egoistisdier Weise nach dem Gliick
Verlangen tragen, der es fiir moglidi halt. Die pessimisti-
sdie Ansicht von dem Oberwiegen des Schmerzes iiber
die Lust ist das beste Heilmittel gegen den Egoismus. Nur
in dem Aufgehen im Weltprozesse kann der einzelne sein
Heil finden. Der wahre Pessimist wird zu einem unegoisti-
schen Handeln gefiihrt. - Was der Mensch bewufk voll-
bringt, ist aber nur das ins Bewufitsein heraufgehobene
Unbewufite. Dem bewufiten mensdilichen Mitarbeiten an
dem Kulturfortschritt entspridit ein unbewufiter Gesamt-
prozefi, der in der fortschreitenden Befreiung des Ur-
wesens der Welt von dem Willen besteht. Diesem Ziel
mull auch schon der Weltanfang dienstbar gewesen sein.
Das Urwesen mufite die Welt schaffen, um sich allmahlich
mit Hilfe der Idee vom Willen zu befreien. «Das reale
Dasein ist die Inkarnation der Gottheit, der Weltprozeft
die Passionsgeschichte des fleischgewordenen Gottes, und
zugleich der Weg zur Erlosung des im Fleische Gekreu-
zigten; die Sittlichkeit aber ist die Mitarbeit an der Ab-
kiirzung dieses Leidens- und Erl6sungsweges.» (Hart-
mann, Phanomenologie des sittlidien Bewufitseins, 1879,
S. S71.) Hartmann hat in einer Reihe umfassender Werke
und in einer grofien Zahl von Monographien und Auf-
satzen seine Weltanschauung allseitig ausgebaut. Diese
Schriften bergen geistige Schatze von hervorragender Be-
deutung in sich. Dies ist namentlich deswegen der Fall,
weil Hartmann es versteht, bei der Behandlung einzelner
Fragen der Wissenschaft und des Lebens sich von seinen
Grundgedanken nicht tyrannisieren zu lassen, sondern sich
einer unbef angenen Betrachtung der Dinge hinzugeben. In
besonders hohem Grade gilt dies von -seiner «Phanomeno-
logie des sittlichen Bewu$tseins», in der er die verschie-
denen Arten menschlicher Sittenlehren in logischer Glie-
derung vorfiihrt. Er hat damit eine Art «Naturgeschichte»
der verschiedenen sittlichen Standpunkte gegeben, von der
egoistischen Jagd nach Gliick durch viele Zwischenstufen
hindurch bis zu der selbstlosen Hingabe an den allgemei-
nen Weltprozeft, durch den das gottliche Urwesen sich
von der Unseligkeit des Daseins befreit.
Da Hartmann den Zweckgedanken in sein Weltbild
aufnimmt, so ist es begreiflich, daft ihm die auf dem Dar-
winismus ruhende naturwissenschaftliche Denkweise als
eine einseitige Ideenstromung erscheint. Wie die Idee im
Ganzen der Welt nach dem Ziele des Nichtseins hinarbei-
tet, so ist auch im einzelnen der ideelle Gehalt ein zweck-
voller. In der Entwickelung des Organismus sieht Hart-
mann einen sich verwirklichenden Zweck; und derKampf
urns Dasein mit der natiirlichen Zuchtwahl sind nur Hand-
langer der zweckvoll waltenden Ideen. (Philosophic des
Unbewufken, 10. Aufl., Band III, S. 403.)
Von versdiiedenen Seiten her miindet das Gedanken-
ieben des neunzehnten Jahrhunderts in eine Weltanschau-
ung der Denkunsicherheit und der Trostlosigkeit. Richard
Wahle erklart dem Denken mit aller Bestimmheit, dafi es
unfahig sei, fiir die Losung «iiberschwanglicher>> hochster
Fragen etwas zu tun; und Eduard von Hartmann sieht in
der ganzen Kulturarbeit nur einen Umweg, um endlidi
die vollige Erlosung vom Dasein, als letzten Endzweck,
herbeizufuhren. Gegen solche Ideenstromungen darf ein
schemes "Wort gehalten werden, das ein deutsdier Spradi-
forscher, Wilhelm Wackernagel, 1843 (in seinem Buche
«Ober den Unterricht in der Mutterspradie») niederge-
sdirieben hat. Er meint, der Zweifel konne keine Grund-
lage zu einer Weltanschauung abgeben; er sei vielmehr
eine «Injurie» gegen die Personlichkeit, die etwas erken-
nen will, und ebenso gegen die Dinge, die erkannt werden
sollen. «Erkenntnis fangt mit Vertrauen an.»
Solches Vertrauen hat die neuere Zeit allerdings fiir die
Ideen gezeitigt, welche auf den Methoden der naturwis-
senschaftlichen Forschung ruhen; nicht aber fiir ein Erken-
nen, das sidi die Kraft der Wahrheit aus dem selbstbe-
wufiten Ich holt. Die Impulse, welche in den Tiefen der
Entwickelung des geistigen Lebens liegen, fordern eine
solche Kraft der Wahrheit. Die forschende Menschenseele
fiihlt instinktiv, da£ sie nur durch eine solche Kraft sich
befriedigt finden kann. Es ringt die philosophische For-
schung nach einer solchen Kraft. Sie kann sie aber nicht
in dem finden, was sie an Gedanken fiir eine Weltanschau-
ung aus sich herauszutreiben vermag. Die Leistungen des
Gedankenlebens bleiben hinter dem zuruck, was die Seele
fordert. Die naturwissenschaftlichen Vorstellungen emp-
fangen ihre Gewifiheit von der Beobachtung der Aufien-
welt. Im Innern der Seele fiihlt man nidit eine Kraft,
welche die gleidie Gewifiheit verbiirgt. Man mochte Wahr-
heiten iiber die geistige Welt, iiber das Schicksal der Seele
und deren Zusammenhang mit der Welt, die so gewonnen
sind wie die naturwissenschaftlichen Vorstellungen. Der
Denker, der ebenso griindlich aus dem philosophischen
Denken der Vergangenheit schopfte, wie er sich in die
Art der naturwissensdiaftlidien Forschung eingelebt hat,
Franz Brentano, hat fur die Philosophic die Forderung
aufgestellt, sie miisse zu ihren Ergebnissen auf die gleidie
Art gelangen wie die Naturwissenschaft. Er hoffte, dafi
zum Beispiel die Seelenwissenschaft (Psydiologie) wegen
dieser Nachbildung der naturwissensdiaftlichen Methoden
nicht darauf zu verziditen braudite, Aufschlufi iiber die
wertvollsten Fragen des Seelenlebens zu gewinnen. «Fiir
dieHoffnungen eines Platon und Aristoteles, iiber das Fort-
leben unseres besseren Teiles nach der Auflosung des Lei-
bes Sicherheit zu gewinnen, wiirden dagegen die Gesetze
der Assoziation von Vorstellungen, der Entwickelung von
Oberzeugungen und Meinungen und des Keimens undTrei-
bens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht eine wahre
Entschadigung sein . . . Und wenn wirklich» - die neue
naturwissenschaftliche Denkungsart - «den Ausschlufl der
Frage nach der Unsterblichkeit besagte, so ware er fur die
Psychologie ein iiberaus bedeutender zu nennen.» Solches
spricht Brentano in seiner «Psychologie vom empirischen
Standpunkt» 1874 (§• 20) aus. Bedeutungsvoll fiir die ge-
ringe Tragfahigkeit der Seelenforschung, die sich vollig
der Naturwissenschaft nachbilden will, ist, dafi ein solch
ernster Wahrheitssucher wie Franz Brentano dem ersten
Bande seiner Psychologie, der sich nur mit Fragen be-
schaftigt, die «alles andere, nur nicht eine wahre Entscha-
digung» fur die hochsten Seelenfragen sein konnen, keinen
weiteren hat nachfolgen lassen, der an die hochsten Fragen
wirklich herantrete. Es fehlt den Denkern die Spannkraft,
welche den Forderungen der neueren Zeit wirklich ent-
sprechen konnte. Der griechische Gedanke bewaltigte das
Naturbild und das Bild des Seelenlebens so, daft die bei-
den sich zu einem Gesamtgemalde vereinigten. In der
Folgezeit entfaltete sich in den Tiefen des Seelenlebens
das Gedankenleben selbstandig, in Absonderung von der
Natur; die neuere Naturwissenschaft lieferte ein Bild der
Natur. Diesem gegenuber entstand die Notwendigkeit, ein
Bild des Seelenlebens - im selbstbewuftten Ich - zu finden,
das sich stark genug erweist, um mit dem Bilde der Natur
zusammen in einem allgemeinen Weltbilde bestehen zu
konnen. Dazu ist notwendig, in der Seele selbst einen
Stutzpunkt der Gewifiheit zu finden, der so sicher tragt
wie die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung.
Spinoza glaubte ihn gefunden zu haben dadurch, dafi er
sein Weltbild der mathematischen Art nachbildete; Kant
gibt die Erkenntnisse ehier an sich bestehenden Welt preis
und sucht Ideen zu gewinnen, welche durch ihre morali-
sche Schwerkraft zwar kein Wissen, wohl aber einen si-
cheren Glauben ergeben sollen. Man sieht das Streben
nach einer Verankerung des Seelenlebens in dem Gesamt-
gebaude der Welt bei den forschenden Philosophen. Doch
die Spannkraft will sich nicht einstellen, welche die Vor-
stellungen iiber das Seelenleben so gestaltet, dafi daraus
sich Aussichten fiir eine Losung der Seelenfragen ergeben.
Unsicherheit entsteht iiber die wahre Bedeutung dessen,
was man als Mensch in der Seele erlebt. Die Naturwissen-
schaft im Sinne Haeckels verfolgt die durch die Sinne
wahrnehmbaren Naturvorgange und sieht in dem Seelen-
leben eine hohere Stufe soldier Naturvorgange. Andere
Denker finden, daft in allem, was die Seele so wahrnimmt,
nur die Wirkungen unbekannter, nie zu erkennender
aultermenschlicher Vorgange gegeben sind. Die Welt wird
fiir diese Denker zur « Illusion », wenn audi zu einer durch
die menschliche Organisation naturnotwendig hervorgeru-
fenen Illusion. «Solange das Kunststiick, um die Ecke zu
schauen, das heifit ohne Vorstellung vorzustellen, nicht
erfunden ist, wird es bei der stolzen Selbstbescheidung
Kants sein Bewenden haben, dafi vom Seienden dessen
Dafl, niemals aber dessen Was erkennbar ist.» So spricht
ein Philosoph aus der zweiten Halfte des neunzehnten
Jahrhunderts: Robert Zimmermann. - Fiir eine solche
Weltanschauung segelt die Menschenseele, welche von ihrer
Wesenheit - ihrem «Was» - nichts wissen kann, in dem
Meer der Vorstellungen, ohne sich ihrer Fahigkeit bewufit
zu werden, in dem weiten Vorstellungsmeere etwas zu
finden, was Ausblicke in das Wesen des Daseins geben
konnte. Hegel hatte vermeint, in dem Denken selbst die
innere Lebekraft zu vernehmen, welche das Menschen-Ich
in das Sein fiihrt. Der folgenden Zeit wurde das «blofie
Denken » zu einem leichten Vorstellungsgebilde, das nichts
in sich schlielk von dem Wesen des wahren Seins. - Wo
eine Meinung iiber einen im Denken liegenden Schwer-
punkt des Wahrheitsuchens auftaucht, da klingt Unsicher-
heit durch die vorgebrachten Gedanken. So, wenn Gideon
Spicker sagt: «Dafi das Denken an sich richtig sei, konnen
wir nie erfahren, weder empirisdi noch logisch mit Sicher-
heit feststellen . . .» (Lessings Weltanschauung, 1883, S. 5.)
In hinreiftender Form hat Philipp Mainldnder (1841
bis 1876) in seiner «Philosophie der Erlosung» (1876) die
Vertrauenslosigkeit gegemiber dem Dasein zum Ausdruck
gebradit. Mainlander sieht sidi dem Weltbilde gegeniiber,
zu dem die moderne Naturwissensdiaft drangt. Aber er
sucht vergebens nach einer Moglichkeit, das selbstbewufite
Ich in einer geistigen Welt zu verankern. Er kann nicht
dazu kommen, aus diesem selbstbewulken Ich heraus das
zu gewinnen, wozu bei Goethe die Ansatze vorhanden
waren: namlich in der Seele innere lebendige Wesenheit
auferstehen zu fiihlen, welche sich als geistig-lebendig in
einem Geistig-Lebendigen hinter der blofien aufieren Na-
tur empfindet. So erscheint ihm die Welt ohne Geist. Da
er sie aber doch nur so denken kann, als ob sie aus dem
Geiste stamme, so wird sie ihm zu dem Oberbleibsel eines
vergangenen Geisteslebens. Ergreifend wirken Satze wie
der folgende Mainlanders: «Jetzt haben wir das Recht,
diesem Wesen den bekannten Namen zu geben, der von
jeher das bezeichnete, was keine Vorstellungskraft, kein
Flug der kiihnsten Phantasie, kein abstraktes, noch so tie-
fes Denken, kein gesammeltes, andachtsvolles Gemiit, kein
entziickter, erdentriickter Geist je erreidit hat: Gott. Aber
diese einfache Einheit ist gewesen; sie 1st nicht mehr. Sie
hat sich, ihr Wesen verandernd, voll und ganz zu einer
Welt der Vielheit zersplittert.» (Hingewiesen sei auf Max
Seilings Schrift «Mainlander, ein neuer Messias».) Bietet
der Anblick des Daseins nur Wertloses, nur den Rest von
Wertvollem, so kann nur dessen Vernichtung das Ziel der
Welt sein. Der Mensch kann seine Aufgabe nur darin se-
hen, an der Vernichtung mitzuwirken. (Mainlander endete
durch Selbstmord.) Gott hat, nach der Meinung Mainlan-
ders, die Welt nur geschaffen, um sich durch sie von der
Qual des eigenen Daseins zu befreien. «Die Welt ist das
Mittel zum Zwecke des Nichtseins, und zwar ist die Welt
das einzig mogliche Mittel zum Zwecke. Gott erkannte,
daft er nur durch das Werden einer realen Welt der Viel-
heit...aus dem Ubersein in das Nichtsein treten konne».
(Philosophic der Erlosung, S. 325).
In kraftvoller Weise ist der Dichter Robert Hamerling
(1830 — 1889) in seinem Weltanschauungswerk «Atomi-
stik des Willens» (das nach seinem Tode erschienen ist)
der Ansidit entgegengetreten, die aus dem Mifttrauen in
die Welt entspringt. Er lehnt Iogische Untersuchungen
liber den Wert oder Unwert des Daseins ab und nimmt
seinen Ausgangspunkt von einem urspriinglichen Erlebnis.
«DieHauptsache ist nicht, ob dieMenschen recht haben, daft
sie alle, alle mit verschwindend kleinen Ausnahmen, leben
wollen, leben um jeden Preis, - gleichviel, ob es ihnen gut
ergeht, ob schlecht. Die Hauptsache ist, daft sie es wollen:
und dies ist schlechterdings nicht zu leugnen. Und doch
rechnen mit dieser entscheidenden Tatsache die doktri-
naren Pessimisten nicht. Sie wagen immer nur in gelehrten
Erorterungen Lust und Unlust, wie es das Leben im be-
sonderen bringt, verstandig gegeneinander ab; aber da
Lust und Unlust Gefuhlssache sind, so ist es das Gefuhl,
und nicht der Verstand, welcher die Bilanz zwischen Lust
und Unlust endgiiltig und entscheidend zieht. Und diese
Bilanz fallt tatsachlich bei der gesamten Menschheit, ja
man kann sagen bei allem, was Leben hat, zugunsten der
Lust des Daseins aus. Daft alles, was da lebt, leben will,
leben unter alien Umstanden, leben um jeden Preis, das
ist die grofte Tatsache, und dieser Tatsache gegenuber ist
alles doktrinare Gerede machtlos.» Vor Hamerlings Seele
steht somit der Gedanke: In den Tiefen der Seele gibt es
etwas, das an einem Dasein hangt und welches wahrer das
Wesen der Seele ausspricht als die Urteile, die unter der
Last neuerer naturwissenschaftlicher Vorstellungsart iiber
den Wert des Lebens sprechen. Man mochte sagen, Hamer-
ling abnt in den Tiefen der Seele einen geistigen Schwer-
punkt, welcher das selbstbewufke Ich im Weltenleben be-
festigt. Er mochte deswegen in diesem Ich etwas sehen,
was dessen Dasein mehr verburgt als die Gedanken-
gebaude der Philosophen der neueren Zeit. Er sieht .einen
Hauptfehler der neueren Weltanschauungen in der Mei-
nung: «dafi in der neuesten Philosophic so viel am Ich
herumgenorgelt wird», und er mochte dies erklaren «aus
der Angst vor einer Seele, einem Seelensein oder gar einem
Seelending». Hamerling deutet bedeutungsvoll auf das,
worauf es ankommt: «In den Ichgedanken spielen Ge-
fuhlsmomente hinein . . . Was der Geist nicht erlebt hat,
das ist er audi zu denken nicht fahig ...» Es hangt fur
Hamerling alle hohere Weltanschauung davon ab, das
Denken selbst zu fiihlen, es zu erleben. Vor die Moglich-
keit eines Eindringens in diejenigen Seelentiefen, in denen
die lebendigen Vorstellungen zu gewinnen sind, welche
zum Erkennen des Seelenwesens - durch die innere Trag-
kraft des selbstbewufiten Ich - fiihren, lagern sich fiir Ha-
merling die aus der neueren Weltanschauungsentwickelung
stammenden Begriffe, welche das Weltbild doch zu einem
blofien Meere von Vorstellungen machen. So leitet er denn
seine Weltbetrachtungen mit Worten ein wie diese: «Ge-
wisse Reizungen erzeugen den Geruch in unserem Riech-
organ. . . . Die Rose duftet also nicht, wenn sie niemand
riecht. - Gewisse Luftschwingungen erzeugen in unserem
Ohr den Klang. Der Klang existiert also nicht ohne ein
Ohr. Der Flintenschuft wiirde also nicht knallen, wenn ihn
niemand horte.» Solche Vorstellungen sind durch die Macht
der neueren Weltanschauungsentwickelung zu einem so
f esten Bestandteil des Denkens geworden, dafi Hamerling
an die angefiihrte Auseinandersetzung die Worte fiigt:
«Leuchtetdir, lieber Leser, das nicht einundbaumtdein Ver-
stand sich vor dieser Tatsache wie ein scheues Pferd, so lies
keineZeile weiter;lal$ dies und alle anderen Biicher, die von
philosophischen und naturwissenschaftlichen Dingen han-
deln,ungelesen;denn es fehltdirdie hierzunotigeFahigkeit,
eine Tatsache unbefangen aufzufassenundinGedankenfest-
zuhalten.»- Hamerling rang sich von derSeele als sein letz-
tes poetisches Werk seinen «Homunculus». Er wollteindem-
selben eine Kritik der modernen Gesittung geben. In radika-
lerWeise entwickelt er in poetischer Bilderreihe, wohin eine
seelenlos werdende, nur an die Macht der aufierlich-natiir-
lichen Gesetze glaubende Menschheit treibe. Er macht als
Dichter des «Homunculus» vor nichts halt, was ihm an
der modernen Gesittung diesem falschen Glauben ent-
sprungen scheint; als Denker streicht aber Hamerling im
vollsten Sinne des Wortes doch die Segel ein vor der Vor-
stellungsart, die in dieser Schrift im Kapitel «Die Welt
als Illusion» dargestellt ist. Er schreckt nicht zuriick vor
Worten wie diesen: «Die ausgedehnte, raumliche Korper-
welt existiert also als solche nur, insofern wir sie wahrneh-
men. - Wer dies festhalt, wird begreifen, welch ein naiver
Irrtum es ist, zu glauben, daft neben der von uns ,Pferd'
genannten . . . Vorstellung noch ein anderes, und zwar erst
das rechte, wirkliche Pferd existiere, von welchem unsere
Anschauung eine Art von Abbild ist. Aufier mir ist - wie-
derholt sei es gesagt - nur die Summe jener Bedingungen,
welche bewirken, daft sich in meinen Sinnen eine Anschau-
ung erzeugt, die ich Pferd nenne.» - Hamerling fuhlt sich
dem Seelenleben so gegeniiber, als ob in dessen Vorstel-
lungsmeer nichts hinemspielen konnte von dem Eigen-
wesen der Welt. Er hat aber eine Empfindung von dem,
was in den Tiefen der neueren Seelenentwickelung sich
abspielt. Er fuhlt: Die Erkenntnis der neuzeitlichen Men-
schen mufi mit ihrer eigenen Wahrheitskraft lebendig in
dem selbstbewufiten Ich aufieuchten, wie sie sich in dem
wahrgenommenen Gedanken dem griechischen Menschen
dargestellt hat. Er tastet immer wieder an den Punkt, wo
das selbstbewufke Ich sich innerlich mit der Kraft seines
wahren Seins begabt fuhlt, das zugleich sich in dem Gei-
stesleben der Welt stehend fiihlt. Da sich ihm anderes
nicht offenbart, indem er so tastet, halt er sich an das in
der Seele lebende Seinsgeftihl, das ihm wesenhafter, da-
seinsvoller zu sein scheint als die bio fie Vorstellung vom
Ich, als der Ich-Gedanke. «Aus dem Bewufitsein oder Ge-
fiihl des eigenen Seins gewinnen wir den Begriff eines
Seins, welches iiber das blofie Gedachtwerden hinausgeht.
Wir gewinnen den Begriff eines Seins, das nicht bloft ge-
dacht wird, sondern denkt.» Von diesem in seinem Exi-
stenzgefuhl sich ergreifenden Ich aus sucht nun Hamerling
ein Weltbild zu gewinnen. Was das Ich in seinem Existenz-
gefiihl erlebt, ist - so spricht sich Hamerling aus - «das
Atomgefuhl in uns». Das Ich weifi, sich fiihlend, von sich;
und es weifi sich dadurch der Welt gegeniiber als «Atom».
Es mufi sich andere Wesen so vorstellen, wie es sich selbst
in sich erfindet; als sich erlebende, sich erfiihlende Atome;
was gleichbedeutend erscheint fiir Hamerling mit Willens-
atomen, wollenden Monaden. Die Welt wird in Hamer-
lings «Atomistik des Willens» zu einer Vielheit von Wil-
lensmonaden; und die menschliche Seele ist eine dieser
Willensmonaden. Der Denker ernes solchen Weltbildes
blickt um sich und schaut die Welt zwar als Geist, doch
alles, was er in diesem Geiste erblicken kann, ist Willens-
offenbarung. Mehr lafit sich dariiber nicht sagen. Aus die-
sem Weltbilde spricht nichts, was auf die Fragen antwor-
tet: Wie steht die Menschenseele in dem Werden der Welt
darinnen? Denn ob man diese Seele als das ansieht, als
was sie vor allem philosophischen Denken erscheint, oder
ob man sie, nadi diesem Denken, als Willensmonade cha-
rakterisiert: man hat beiden Seelenvorstellungen gegen-
iiber die gleichen Ratselfragen aufzuwerfen. Und ein mit
Brentano Denkender konnte sagen: Fur die Hoffmmgen
eines Platon und Aristoteles, iiber das Fortleben unseres
besseren Teiles nach der Auflosung des Leibes Sicherheit
zu gewinnen, wiirde das Wissen, daft die Seele Willens-
monade unter anderen Willensmonaden ist, alles andere,
nur nicht eine wahre Entschadigung sein.
In vielen Stromungen des neueren Weltanschauungs-
lebens bemerkt man den instinktiven (im Unterbewufk-
sein der Denker lebenden) Drang, im selbstbewulken Ich
eine Kraft zu finden, welche nicht diejenige des Spinoza,
Kant, Leibniz und anderer ist, und durch welche dieses Ich
- der Kern der menschlichen Seele - so vorgestellt werden
kann, dafi sich die Stellung des Menschen im Weltgange
und im Werden der Welt offenbare. Zugleich zeigt sich an
diesen Weltanschauungsstromungen, daiS die Mittel, die
angewendet werden, eine solche Kraft zu finden, nicht
Spannkraft genug haben, um die «Hoffnung des Platon
und Aristoteles» (im Sinne Brentanos) so zu erfullen, wie
es den neueren Seelenerfordernissen entspricht. Man bringt
es dazu, Meinungen zu entwickeln, wie sich die Wahrneh-
mung etwa zu den Dingen aufierhaib der Seele verhaiten
konnte, wie sich Vorstellungen entwickeln und verketten,
wie Erinnerung entsteht, wie sich das Gefuhl und der
Wille zum Vorstellen verhaiten; man schliefit sich aber
die Ture durch die eigene Vorstellungsart zu, wenn es sich
urn die «HofTnungen des Platon und Aristoteles» handelt.
Man glaubt durch alles, was tiber diese «HofFnungen» er~
dacht werden konnte, sogleich die Forderungen einer
strengen Wissenschaftlichkeit zu verletzen, welche durch
die naturwissenschaftliche Denkungsart gestellt sind.
Ein philosophisches Gedankenbild, welches sich mit sei-
nen Ideen nirgends hoher erheben will, als es der natur-
wissenschaftliche Boden gestattet, ist dasjenige Wilhelm
Wundts (1832 — 1920). Fur Wundt ist Philosophic «die
allgemeine Wi-ssenschaft, welche die durch die Einzelwis-
senschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu
einem widerspruchslosen System zu vereinigen hat».
(Wundt, System der Philosophie, S. 21.) Auf dem Wege,
der mit einer derartigen Philosophie gesucht wird, ist nur
moglich, die durch die Einzelwis-senschaften geschafTenen
Gedankengange weiterzufiihren, sie zu verbinden und zu
einem ubersichtlichen Ganzen zu ordnen. Das vollbringt
Wundt, und er verfahrt dabei so, dafi das Geprage, wel-
ches er seinen Ideen gibt, ganz abhangig ist von den Vor-
stellungsgewohnheiten, die sich bei einem Denker ausbil-
den, der - wie Wundt - ein Kenner der einzelnen Wissen-
schaften ist und eine Personlichkeit, welche praktisch in
einzelnen Wissensgebieten (zum Beispiel dem psychophy-
sischen Teil der Seelenkunde) gearbeitet hat. Wundts Blick
ist auf das Weltbild gerichtet, welches durch die Sinnes-
erfahrung von der menschlichen Seele aufgebaut wird,
und auf die Vorstellungen, welche in der Seele unter dem
Eindrucke dieses Weltbildes erlebt werden. Die natur-
wissenschaftliche Vorstellungsart betrachtet die Sinnes-
empfindungen so, daiK sie dieselben als Wirkungen aufTafit
von aulSer dem Menschen befindlichen Vorgangen. Fiir
Wundt ist diese Vorstellungsart in gewissem Sinne etwas
Selbstverstandliches. Deshalb betrachtet er als aufiere
Wirklichkeit diejenige, welche auf Grund der Sinneswahr-
nehmungen begrifflich erschlossen wird. Diese aufiere
Wirklichkeit wird also nicht erlebt; sie wird auf soldie
Art von der Seele vorausgesetzt, wie vorausgesetzt wird,
es sei ein Vorgang aufier dem Mensdien vorhanden, der
auf das Auge wirkt und im Auge durdi dessen Tatigkeit
die Lichtempfindung hervorruft. Im Gegensatze hierzu
werden die Vorgange in der Seele unmittelbar erlebt. Bei
diesen Vorgangen hat die Erkenntnis nichts zu erschliefien,
sondern nur zu beobacbten, wie die Vorstellungen sich bil-
den, verkniipfen, wie sie mit Gefiihlen und Willensimpul-
sen in Verbindung stehen. Innerhalb dieser Beobachtung
hat man es nur mit seelisdien Tatigkeiten zu tun, die im
Strom des inneren Erlebens sich darbieten; aufier diesem
Strome des dahinflutenden Seelenlebens nodi von einer in
diesem Leben sich offenbarenden Seele zu sprechen, hat
man keine Berechtigung. Den Naturerscheinungen die Ma-
terie zugrunde zu legen, ist berechtigt, denn man mufi auf
die Vorgange in dem materiellen Sein von den Sinnes-
wahrnehmungen aus begrifflich schliefien; nicht in glei-
chem Sinne kann man auf eine Seele aus den seelischen
Vorgangen schliefien. «Der Hilfsbegriff der Materie ist . . .
an die mittelbare oder begriffliche Beschaff enheit aller Na-
turerkenntnis gebunden. Es ist schlechterdings nicht abzu-
sehen, wie die unmittelbare und anschauliche innere Er-
fahrung ebenfalls einen solchen Hilfsbegriff fordern soll-
te . . .» (System der Philosophic, S. 369 f.). So ist die Frage
nach dem Wesen der Seele fur Wundt ein Problem, zu
dem im Grunde weder die Beobachtung der inneren Er-
lebnisse fiihrt, noch irgend etwas, das aus diesen inneren
Erlebnissen zu erschliefien ware. Wundt nimmt keine Seele
wahr; nur seelische Tatigkeit. Und diese seelische Tatig-
keit stellt sich so dar, da£ iiberall da, wo Seelisches vor-
liegt, ein mit diesem parallel laufender korperlicher Vor-
gang stattfindet. Beides, seelische Tatigkeit und korper-
licher Vorgang, bilden eine Einheit: sie sind im Grunde
eines und dasselbe; nur der beobachtende Mensch trennt
sie in seiner Anschauung. Wundt meint, dafi die wissen-
schaftliche Erfahrung nur solche geistige Vorgange aner-
kennen kann, welche an korperliche Vorgange gebunden
sind. Fur Wundt zerfliefit das selbstbewufite Ich in den
seelischen Organismus der geistigen Vorgange, die ihm das
gleiche sind wie die korperlichen Vorgange; nur dafi diese,
von innen angesehen, eben als geistig-seelisch erscheinen.,
Wenn das Ich nun aber versucht, das in sich zu erfmden,
was es als ein ihm Charakteristisches ansehen kann, so ent-
deckt es seine Willenstatigkeit. Nur im Wollen unterschei-
det es sich als selbstandige Wesenheit von der iibrigen
"Welt. Dadurch sieht es sich veranlafit, in dem Willen den
Grundcharakter des Seins anzuerkennen. Es gesteht sich,
dafi es im Hinblick auf seine eigene Wesenheit den Quell
der Welt in Willenstatigkeit annehmen darf. Das eigene
Sein der Dinge, die der Mensch in der aufieren Welt be-
obachtet, bleibt ihm hinter der Beobachtung verborgen;
in seinem inneren Sein erkennt er den Willen als das We-
sentliche; er darf schliefien, da&, was von der Aufienwelt
her auf seinen Willen stofk, mit diesem gleichartig ist. In-
dem die Willenstatigkeiten der Welt in Wechselwirkung
treten, bringen sie ineinander die Vorstellungen, das innere
Leben der Willenseinheiten hervor. - Aus all dem ergibt
sich, wie Wundt getrieben wird von dem Grundimpuls
des selbstbewufiten Ich. Er steigt bis zu dem sich als Wil-
len betatigenden Ich in die eigene menschliche Wesenheit
hinunter; und in dem Willenswesen des Ich stehend, fiihlt
er sich berechtigt, der gesamten Welt das gleiche Wesen
zuzuschreiben, das die Seele in sich erlebt. - Auch aus dieser
Willenswelt antwortet nichts auf die «Hofifnungen des
Platon und Aristoteles».
Hamerling stellt sich den Welt- und Seelenratseln ge-
geniiber als ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts mit
einer Gesinnung, welche die in seiner Zeit wirksamen Gei-
stesimpulse in der Seele beleben. Er empfindet diese Gei-
stesimpulse aus einem vollen freien Menschentum heraus,
dem es selbstverstandlich ist, die Daseinsratselfragen zu
stellen, wie es dem natiirlichen Menschen selbstverstand-
lich ist, Hunger und Durst zu fiihlen. Er sagt iiber sein
Verhaltnis zur Philosophic: «Ich habe mich vor allem als
Mensch gefuhlt, als ganzer voller Mensch, und da lagen
mir von alien geistigen Interessen die grofien Probleme
desDaseins undLebens am nachsten.» «Ich habe mich nicht
plotzlich auf die Philosophic geworfen, ... etwa weil ich
zufallig Lust dazu bekam oder weil ich mich einmal auf
einem anderen Gebiete versuchen wollte. Ich habe mich
mit den grofien Problemen der menschlichen Erkenntnis
beschaftigt von meiner friihen Jugend an, infolge des na-
tiirlichen unabweisbaren Dranges, welcher den Menschen
iiberhaupt zur Erforschung der Wahrheit und zur Losung
der Ratsel des Daseins treibt. Ich habe in der Philoso-
phic niemals eine spezielle Fachwissenschaft erblicken kon-
nen, deren Studium man betreiben oder beiseite lassen
kann, wie das der Statistik oder der Forstwissenschaft,
sondern sie stets als die Erforschung desjenigen betrachtet,
was jedem das Nachste, Wichtigste und Interessanteste ist.»
Auf den Wegen, welche Hamerling zu dieser Erforschung
nahm, drangten sich in seine Betrachtung ein die Richt-
krafte des Denkens, welche bei Kant dem Wissen die
Madit entzogen haben, in den Daseinsquell zu dringen,
und welche dann im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts
die "Welt als eine Vorstellungsillusion ersdieinen lieften.
Hamerling ergab sich diesen Richtkraften nidit unbedingt;
doch lasteten sie auf seiner Betraditung. Diese suchte im
selbstbewufiten Ich nach einem Schwerpunkt, in dem das
Sein zu erleben ist, und glaubte diesen in dem Willen zu
finden. Das Denken wollte auf Hamerling nicht so wir-
ken, wie es auf Hegel wirkte. Es ergab sidi ihm nur als
«blofies Denken», welches das Sein nicht in sich ergreifen
kann, um, in sich erkraftet, in das Meer des Weltendaseins
hineinzusegeln; so ergab sich Hamerling dem Willen, in
dem er die Kraft des Seins zu fuhlen vermeinte; und er-
kraftet durch den im Ich erfafiten Willen dachte Hamer-
ling in eine Welt von Willensmonaden seinskraftig unter-
zutauchen.
Hamerling nimmt seinen Ausgangspunkt von dem, was
im Menschen ganz unmittelbar die Weltenratself ragen wie
ein seelisches Hungergefuhl belebt, Wundt laftt sich zur
Stellung dieser Fragen drangen durch alles das, was auf
dem breiten Boden der einzelnen Wissenschaften die
neuere Zeit gereift hat. In der Art, wie er aus diesen Wis-
senschaften heraus die Fragen stellt, waltet die eigene
Kraft und Gesinnung dieser Wissenschaften; in dem, was
er zur Antwort fur dieses Fragen aufzubringen hat, leben
wie bei Hamerling die Richtkrafte des neueren Denkens,
welche aus diesem Denken die Macht entfernen, sich im
Quellpunkte des Daseins zu erleben. Im Grunde wird da-
her Wundts Weltbild eine «blofi ideelle Oberschau» fiber
das Naturbild der neueren Vorstellungsart. Und audi bei
Wundt erweist sich nur der Wille in der Menschenseele
als ein Element, welches sich von der Ohnmacht des Den-
kens nicht um das Sein bringen lafit. Der Wille drangt sich
der Weltbetrachtung so auf, dafi er allwaltend im Um-
kreis des Daseins sich zu verraten scheint.
Mit Hamerling und Wundt stehen zwei Personlichkei-
ten in der neuzeitlichen Weltanschauungsentwickelung, in
deren Seelen die Krafte wirken, welche diese Entwicke-
lung innerhalb gewisser Stromungen hervorgebracht hat,
um denkend die Weltratsel zu bewaltigen, welche Erleben
und Wissenschaft der Menschenseele stellen. In beiden Per-
sonlichkeiten wirken diese Krafte so, dafi sie in ihrer Ent-
faltung in sich selber nichts finden, durch das sich das
selbstbewufite Ich in dem Quell seines Daseins erfuhlt. Es
kommen diese Krafte vielmehr an einem Punkte an, in
dem sie sich nur noch etwas bewahren konnen, was mit
den grofien Weltratseln nicht mehr sich beschaftigen kann.
Es klammern sich diese Krafte an den Willen; doch audi
aus der errungenen Willenswelt heraus tont nichts, was
«iiber das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auf-
losung des Leibes» Sicherheit gewinnen lafit, oder was der-
gleichen Seelen- und Weltenratsel beriihrt. Solche "Welt-
anschauungen entspringen dem naturlichen, unabweis-
baren Drange, «welcher den Menschen uberhaupt zur Er-
forschung der Wahrheit und zur Losung der Ratsel des
Daseins treibt»; aber, in dem sie sich der Mittel zu dieser
Losung bedienen, welche ihnen nach der Meinung gewis-
ser Zeitstromungen als die einzig berechtigten erscheinen,
dringen sie zu einer Betrachtung vor, innerhalb welcher
keine Erlebniselemente mehr vorhanden sind, um die Lo-
sung zu bewirken. Man sieht: dem Menschen werden in
einer gewissen Zeit die Weltenfragen auf ganz bestimmte
Art gestellt; er empfmdet instinktiv das, was ihm obliegt.
An ihm ist, die Mittel der Antwort zu finden. Er kann in
der Betatigung dieser Mittel zuriickbleiben hinter dem,
was in den Tiefen der Entwickelung als Forderung an ihn
herantritt. Philosophien, weldie sich in soldier Betatigung
bewegen, stellen das Ringen nach einem im Bewufitsein
noch nicht vollergriffenen Ziele dar. Das Ziel der neueren
Weltanschauungsentwkkelung ist, im selbs tbewufi ten Ich
etwas zu erleben, was den Ideen des Weltbildes Sein und
"Wesen gibt; die charakterisierten philosophischen Stro-
mungen erweisen sich ohnmachtig, es zu solchem Leben,
zu solchem Sein zu bringen. Der wahrgenommene Ge-
danke gibt dem Ich - der selbstbewulken Seele - nicht mehr,
was Dasein verbiirgt; dieses Ich hat sich, um an solche
Biirgschaft so glauben zu konnen, wie daran in Griechen-
land geglaubt worden ist, zu weit von dem Naturboden
entfernt; und es hat in sich selbst noch nicht belebt, was
dieser Naturboden, ohne seelische Eigenschopfungen zu
fordern, ihm einst gewahrt hat.
DER MODERNE MENSCH
UND SEINE WELTANSCHAUUNG
Weite Perspektiven der Weltanschauung und Lebens-
gestaltung sudite aus dem Darwinismus heraus der oster-
reichische Denker Bartholomdus Carneri (1821 — 1909) zu
eroffnen. Er trat elf Jahre nach dem Erscheinen von Dar-
wins «Entstehung der Arten» mit seinem Buche «Sittlich-
keit und Darwinismus» (Wien 1871) hervor, in dem er
in umfassender Weise die neue Ideenwelt zur Grundlage
einer ethischen Weltanschauung machte. Seitdem war er
unablassig bemiiht, die Darwinistische Ethik auszubauen.
(Vgl. seine Schriften «Grundlegung der Ethik», 188 1; «Der
Mensch als Selbstzweck», 1 877, und «Der moderne Mensch.
Versuche iiber Lebensfiihrung», 1890.) Carneri versucht,
in dem Bild der Natur die Elemente zu finden, durch wel-
che sich das selbstbewufke Ich innerhalb dieses Bildes vor-
stellen lafk. Er mochte dieses Naturbild so weit und grofi
denken, dafi es die menschliche Seele mit umfassen kann.
So ist es ihm um Wiedervereinigung des Ich, das sich von
dem Naturmutterboden abgetrennt hat, mit diesem Mut-
terboden zu tun. Er stellt in seiner Weltauflfassung den
Gegensatz zu derjenigen dar, welcher die Welt zur Vor-
stellungsillusion wird, und die dadurch auf alien Zusam-
menhang mit dem Weltendasein fiir das Wissen verzich-
tet. Carneri lehnt alle Moralanschauung ab, die dem Men-
schen andere Sittengebote geben will als diejenigen sind,
die sich aus der eigenen menschlichen Natur ergeben. Man
mu6 an dem Gedanken festhalten, dafi der Mensch nicht
als ein besonderes Wesen neben alien anderen Naturdin-
gen aufgefafit werde, sondern als ein solches, das sich aus
niederen Wesenheiten allmahlich nach rein natiirlichen
Gesetzen entwickelt hat. Carneri ist davon uberzeugt, dafi
alles Leben wie ein chemischer Prozefl ist: «Die Verdauung
beim Mensdien ist ein soldier wie die Ernahrung der
Pflanze.» Er betont aber zugleich, dafi sich der diemisdie
Prozefi zu einer hoheren Entwickelungsform erheben mufi,
wenn er Pflanze oder Tier werden soil. «Das Leben ist ein
chemischer Prozefi eigener Art, es ist der individuell . . . ge-
wordene diemisdie Prozefi. Der diemisdie Prozefi kann
namlich einen Punkt erreidien, auf weldiem er gewisser
Bedingungen, deren er bis dahin bedurfte, . . . entraten
kann.» Man sieht, Carneri verfolgt, wie sich niedere na-
tiirliche Vorgange steigern zu hoheren, wie der Stoff durch
Vervollkommnung seiner Wirkungsweisen zu hoheren Da-
seinsformen kommt. «Als Materie fassen wir den Stoff,
insofern die aus seiner Teilbarkeit und Bewegung sich er-
gebenden Erscheinungen korperlidi, das ist als Masse, auf
unsere Sinne wirken. Geht die Teilung oder Differenzie-
rung so weit, dafi die daraus sich ergebenden Erscheinun-
gen nicht mehr sinnlidi, sondern nur mehr dem Denken
wahrnehmbar sind, so ist die Wirkung des Stoff es eine
geistige.» Auch das Sittliche ist nicht als eine besondere
Form des Daseins vorhanden; es ist ein Naturprozefi auf
einer hoheren Stufe. Es kann demnadi nicht die Frage
entstehen: Was soli der Mensch im Sinne irgendwelcher
besonders fur ihn geltenden Sittengebote tun? - sondern
nur die: Was erscheint als Sittlichkeit, wenn die niederen
Vorgange sich zu den hodisten geistigen steigern? «Wah-
rend die Moralphilosophie bestimmte Sittengesetze auf-
stellt und zu halten befiehlt, damit der Mensch sei, was
er soil, entwickelt die Ethik den Menschen, wie er ist, dar-
auf sich beschrankend, ihm zu zeigen, was noch aus ihm
werden kann: dort gibt es Pflichten, deren Befolgung Stra-
fen zu erzwingen sudien, hier gibt es ein Ideal, von dem
aller Zwang ablenken wurde, weil die Annaherung nur
auf dem Wege der Erkenntnis und Freiheit vor sich geht.»
So wie der chemische Prozefi sidi auf hoherer Stufe zum
Lebewesen individualisiert, so erhebt sich auf noch hoherer
das Leben zum Selbstbewufitsein. Das seiner selbst be-
wufite Wesen sieht nicht mehr blofi hinaus in die Natur;
es schaut in sidb hinein. «Das erwachende Selbstbewulk-
sein war, dualistisdi aufgefafit, ein Brudi mit der Natur,
und der Mensch fiihlte sich von ihr abgetrennt. Der Rifi
war nur fur ihn da, aber fiir ihn war er vollstandig. So
plotzlich, wie es die Genesis lehrt, war er nicht entstan-
den, wie auch die Schopfungstage nicht wortlich zu neh-
men sind; aber mit der Vollendung des Selbstbewufitseins
war der Rifi eine Tatsache, und mit dem Gefiihl grenzen-
loser Vereinsamung, das damit den Menschen iiberkam,
hat seine ethische Entwickelung begonnen.» Bis zu einem
gewissen Punkte fiihrt die Natur das Leben. Auf diesem
Punkte entsteht das Selbstbewufitsein, es entsteht der
Mensch. « Seine weitere Entwickelung ist sein eigenes "Werk,
und, was auf der Bahn des Fortschritts ihn erhalten hat,
war die Macht und allmahliche Klarung seiner Wunsche.»
Fiir alle ubrigen Wesen sorgt die Natur: den Menschen
begabt sie mit Begierden, fiir deren Befriedigung sie ihn
selbst sorgen lafit. Er hat den Trieb in sich, sich sein Da-
sein seinen Wiinschen entsprechend zu gestalten. Dieser
Trieb ist der Gluckseligkeitstrieb. «Dem Tiere ist dieser
Trieb fremd: es kennt nur den Selbsterhaltungstrieb, und
ihn zum Gluckseligkeitstrieb zu erheben, hat das mensch-
liche Selbstbewulksein zur Grundbedingung.» Das Stre-
ben nach Gliick liegt allem Handeln zugrunde. «Der Mar-
tyrer, der hier fiir seine wissenschaftliche Oberzeugung,
dort fur seinen Gottesglauben das Leben hingibt, hat audi
nichts anderes im Sinn als sein Gliick; jener findet es in
seiner Oberzeugungstreue, dieser sucht es in einer besseren
Welt. Allen ist Gliickseligkeit das letzte Ziel und wie ver-
schieden audi das Bild sein mag, das sidh das Individuum
von ihr macht, von den rohesten Zeiten bis zu den gebil-
detsten, ist sie dem empfindenden Lebewesen Anfang und
Ende seines Denkens und Fuhlens.» Da die Natur dem
Menschen nur das Bediirfnis nadi dem Gliicke gibt, mu$
das Bild des Gliickes aus ihm selbst entspringen. Der
Mensdi sdiafft sidi die Bilder seines Gliickes. Sie entsprin-
gen aus seiner ethischen Phantasie. In dieser Phantasie
findet Carneri den neuen BegrifT, der unserem Denken die
Ideale unseres Handelns vorzeidinet. Das «Gute» ist fiir
Carneri «identisdi mit For tent wickelung. Und da die
Fortentwickelung Lust ist, so bildet . . . die Gliickseligkeit
nicht nur sein Ziel, sondern auch das bewegende Element,
das seinem Ziel ihn entgegentreibt.»
Carneri sudite den Weg zu finden von der Naturgesetz-
lidikeit zu den Quellen des Sittlidien. Er glaubt die ideale
Madit gefunden zu haben, die als treibendes Element der
sittlidien Weltordnung ebenso schopferisch von ethisdiem
Vorkommnis zu ethisdiem Vorkommnis wirkt, wie die
materiellen Krafte im Physischen Gebilde aus Gebilde,
Tatsache aus Tatsache entwickeln.
Die Vorstellungsart Carneris ist ganz im Sinne der Ent-
wickelungsidee, die nicht das Spatere im Friiheren sdion
vorgebildet sein laftt, sondern der das Spatere eine wirk-
liche Neubildung ist. (Vergleiche S. 286 ff.) Der chemi-
sche Prozefi enthalt nicht das tierische Leben schon ein-
gewickelt, die Gliickseligkeit bildet sich als vollkommen
neues Element auf Grund des Selbsterhaltungstriebes der
Tiere. Die Schwierigkeit, die in diesem Gedanken liegt,
gab einem scharfsinnigen Denker, W. H. Rolph, den An-
stoft zu den Ausfiihrungen, die er in dem Buche «Biologi-
sche Probleme, zugleich als Versuch zur Entwickelung einer
rationellen Ethik» niedergelegt hat. (Leipzig 1884.) Rolph
fragt sich: Welches ist der Grand, dafi eine Lebensform
nicht auf einer bestimmten Stufe stehen bleibt, sondern
sich weiterentwickelt, vervollkommnet? Wer das Spatere
in dem Friiheren schon eingewickelt sein lafit, findet in
dieser Frage keine Schwierigkeit. Denn es ist fur ihn ohne
weiteres klar, daft sich das Eingewickelte in einem be-
stimmten Zeitpunkt auswickelt. Rolph aber wollte sich
diese Antwort nicht geben. Anderseits geniigte ihm aber
auch der blofte «Kampf urns Dasein» der Lebewesen nicht.
Kampft ein Lebewesen nur um Erfiillung seiner notwen-
digen Bedurfnisse, so wird es zwar andere schwachere
Formen aus dem Felde schlagen; aber es wird selbst das
bleiben, was es ist. Will man in dasselbe nicht ein geheim-
nisvolles, mystisches Streben nach Vervollkommnung le-
gen, so mufi man die Griinde zu dieser Vervollkommnung
in aufteren, natiirlichen Verhaltnissen suchen. Rolph findet
sie darin, daft jedes Wesen seine Bedurfnisse in reichliche-
rem Mafte befriedigt, wenn dazu die Moglichkeit vorhan-
den ist, als die unmittelbare Notdurft verlangt. «Erst durch
die Einfiihrung der Unersattlichkeit wird das Darwini-
stische Prinzip der Vervollkommnung im Lebenskampfe
annehmbar. Denn nun erst haben wir eine Erklarung fiir
die Tatsache, dafi das Geschopf, wo immer es kann, mehr
erwirbt, als es zur Erhaltung seines Status quo bedarf, daft
es im Obermaft wachst, wo die Gelegenheit dazu gege-
ben ist. » Nach Rolphs Meinung spielt sich im Reich der
Lebewesen nicht ein Kampf um die Erwerbung der not-
wendigsten Lebensbediirfnisse ab, sondern ein «Kampf um
Mehrerwerb». «Wahrend es also fur den Darwinisten
iiberall da keinen Daseinskampf gibt, wo die Existenz des
Geschopfes nicht bedroht ist, ist fiir mich der Lebenskampf
ein allgegenwartiger. Er ist eben primar ein Lebenskampf,
ein Kampf um Lebensmehrung, aber kein Kampf urns Da-
sein.» Rolph zieht aus diesen naturwissenschaftlichen Vor-
aussetzungen die Folgerungen fiir die Ethik. «Lebensmeh-
rung, nicht Lebenserhaltung, Kampf um Bevorzugung,
nicht um die Existenz ist die Losung. Der blofie Erwerb
der Lebensnotdurft und Nahrung geniigt nicht, es mufi
auch Gemachlichkeit, wenn nicht gar Reichtum, Macht
und Einfluft erworben werden. Die Sucht, das Streben
nach stetiger Verbesserung der Lebenslage ist der charak-
teristische Trieb von Tier und Mensch.» (Biologische Pro-
bleme, S. 222 f.)
Von Rolphs Gedanken angeregt wurde Friedrich Nietz-
sche (1844 — 1900) zu seinen Entwickelungsideen, nachdem
er erst durch andere Gestaltungen seines Seelenlebens hin-
durchgegangen war. Er stand im Beginne seiner schriftstel-
ierischen Laufbahn dem Entwickelungsgedanken wie iiber-
haupt der Naturwissenschaft fern. Er empfing zunachst
einen gro£en Eindruck von der Weltanschauung Arthur
Schopenhauers. Der Schmerz auf dem Grunde alles Da-
seins ist eine Vorstellung, die er von Schopenhauer auf-
nahm. Er suchte die Erlosung von diesem Schmerz nicht
in der Erfullung moralischer Aufgaben wie Schopenhauer
und Eduard von Hartmann; er glaubte vielmehr, dafi die
Gestaltung des Lebens zum Kunstwerke iiber den Daseins-
schmerz hinwegfiihre. Die Griechen haben sich eine Welt
des Schonen, des Scheins erschafTen, um sich das schmerz-
erfullte Dasein ertraglich zu machen. Und in Richard
Wagners musikalischem Drama glaubte er eine Welt zu
flnden, die durch das Schone den Menschen iiber den
Schmerz erhebt. Es war in gewissem Sinne eine Welt der
Illusion, die Nietzsche ganz bewufit suchte, urn iiber das
Elend der Welt hinwegzukommen. Er war der Meinung,
daiS der altesten griechischen Kultur der Trieb des Men-
schen zugrunde liege, sich durch Versetzung in einen
Rauschzustand zum Vergessen der wirklichen Welt zu
bringen. «Singend und tanzend aufiert sich der Mensch
als Mitglied einer hoheren Gemeinschaft. Er hat das Ge-
hen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend
in die Liifte eraporzufliegen.» So schildert und erlautert
Nietzsche den Kultus der alten Dionysos-Diener, in dem
die Wurzel aller Kunst liegt. Sokrates habe diesen diony-
sischen Trieb dadurch gebandigt, dafi er den Verstand zum
Richter iiber die Impulse gesetzt habe. Der Satz «Die Tu-
gend ist lehrbar», bedeutet die Ablosung einer umfassen-
den impulsiven Kultur durch eine verwasserte, vom Den-
ken im Zaum gehaltene. Solche Ideen entstanden in Nietz-
sche unter Schopenhauers Einflufi, der den ungebandigten,
rastlosen Willen iiber die ordnende Vorstellung setzte,
und durch Richard Wagner, der sich als Mensch und
Kiinstler zu Schopenhauer bekannte. Aber Nietzsche war,
seinem Wesen nach, zugleich eine betrachtende Natur. Er
empfand, nachdem er sich der Anschauung von einer Welt-
erlosung durch den schonen Schein eine Zeitlang hingege-
ben hatte, diese Anschauung als ein fremdes Element in
seinem eigensten Wesen, das durch den personlichen Ein-
flufi des ihm befreundeten Richard Wagner in ihn ver-
pfianzt worden war. Er suchte sich von dieser Ideenrich-
tung loszumachen und einer ihm entsprechenderen Auf-
fassung der Wirklichkeit hinzugeben. Nietzsche war durch
den Grundcharakter seiner Persdnlichkeit dazu gedrangt,
in sich die Ideen und Impulse der neueren Weltanschau-
ungsentwickelung als unmittelbares individuelles Schicksal
zu erleben. Andere haben Weltanschauungsbilder geformt,
und in diesem Formen ging ihr Philosophieren auf . Nietz-
sdie stellt sich den Weltansdiauungen der zweiten Halfte
des neunzehnten Jahrhunderts gegeniiber. Und sein Schick-
sal wird es, alle Seligkeit, aber audi alles Leid personlidi
durchzuleben, das diese Weltansdiauungen erzeugen kon-
nen, wenn sie sich iiber das ganze Sein der Menschenseele
ergiefien. Nicht theoretisch, nein, mitEinsetzung seiner gan-
zen Individuality gestaltete sidi das Weltanschauungs-
leben in Nietzsche so, dafi diarakteristisdie Weltansdiau-
ungen der neueren Zeit ihn ganz ergriffen und er im aller-
personlichsten Dasein die Lebenslosungen durchdringen
mufite. Wie la fit sich leben, wenn man sich vorzuhalten
hat, die Welt sei so, wie sie von Schopenhauer und Richard
Wagner vorgestellt wird, das wurde fur ihn das Ratsel;
aber nicht ein Ratsel, auf das er durch Denken, durch Wis-
sen Antwort suchte, sondern dessen Losung er mit jeder
Faser seines Wesens erleben mufite. Andere denken Philo-
sophic; Nietzsche mufite Philosophic leben. Das neuere
Weltanschauungsleben wird in Nietzsche selbst Person-
lichkeit. Dem Betrachter treten die Weltansdiauungen an-
derer Denker so entgegen, dafi ihm die Vorstellungen auf-
stofien: das ist einseitig, das ist unrichtig usw.; bei Nietz-
sche sieht sich dieser Betrachter dem Leben der Welt-
anschauung in einem Menschenwesen gegeniibergestellt;
und er sieht, dieses Menschenwesen wird gesund durch die
eine, leidend durch die andere Idee. Dies ist der Grund,
warum Nietzsche immer mehr in seiner Weltanschauungs-
darstellung zum Dichter wird, und warum derjenige, der
sich. mit dieser Darstellung als Philosophic nicht befreun-
den will, noch immer sie durch ihre dichterische Kraft be-
wundern kann. Welch ein ganz anderer Ton kommt in
die neuere Weltanschauungsentwickelung durch Nietzsche
als durch Hamerling, Wundt, ja selbst durch Schopen-
hauer! Diese suchen durch Betrachtung nach dem Daseins-
grunde und kommen zu dem Willen, den sie in den Tie-
fen der Menschenseele finden. In Nietzsche lebt dieser
Wille; und er nimmt in sich auf die philosophischen Ideen,
durchgluht sie mit seiner Willensnatur und stellt dann ein
Neues hin: ein Leben, in dem willengetragene Idee, ideen-
durchleuchteter Wille pulsen. So geschieht es durch Nietz-
sche in seiner ersten Schaffensperiode, die mit der «Geburt
der Trag6die» 1870) begann, und die in den vier «Unzeit-
gemaften Betrachtungen» (David Straufi, der Bekenner und
der Schriftsteller; Vom Nutzen und Nachteil der Historie
fur das Leben; Schopenhauer als Erzieher; Richard Wagner
in Bayreuth) zur Offenbarung kam. - In einer zweiten Le-
bensperiode war es Nietzsdies Geschick, zu durchleben, was
der Menschenseele eine Weltanschauung sein kann, welche
nur auf die naturwissenschaftlichen Denkgewohnheiten
sich stutzt. Dieser Leben sabschnitt kommt in den Werken
«Menschliches } Allzumenschliches» (1878), «Morgenrote»,
«Die frohliche Wissenschaft» (1881) zum Ausdrucke. Die
Ideale, dieNietzsches Seele in seiner ersten Periode beleben,
erkalten in ihm nun; sie erweisen sich als leichteErkenntnis-
Schaumgebilde; die Seele will sich durchkraften, in ihrem
Erfiihlen verstarken durch den «realen» Inhalt dessen, was
die naturwissenschaftliche Vorstellungsart geben kann.
Doch Nietzsches Seele ist voll Leben; die Kraft dieses inne-
ren Lebens strebt hinaus iiber das, was sie der Natur-
betrachtung verdanken kann. Die Naturbetrachtung zeigt,
wie das Tier zum Menschen wird, im Erfuhlen der inneren
Lebekraft der Seele entsteht die Vorstellung: Das Tier
hat den Menschen in sich getragen; mufi nidit der Mensch
in sich ein Hoheres, den Vbermenschen tragen? Und nun
erlebt Nietzsches Seele in sich das Sich-Entringen des t)ber-
menschen aus dem Menschen; diese Seele schwelgt dar-
in, die neuere Entwickelungsidee, welche sich auf die Sin-
neswelt stiitzt, hinaufzuheben in das Gebiet, das die Sinne
nicht schauen, das erfuhlt wird, wenn die Seele den Sinn
der Entwickelung in sich erlebt. Was Rolph durch seine
Betrachtung sich errungen hat: «Der blofte Erwerb der Le-
bensnotdurft und Nahrung geniigt nicht, es mufi auch
Gemachlichkeit, wenn nicht gar Reichtum, Macht und Ein-
flufi erworben werden. Die Sucht, das Streben nach steti-
ger Verbesserung der Lebenslage ist der charakteristische
Trieb von Tier und Mensch», - bei Nietzsche wird dies
Betrachtungsergebnis zum inneren Erlebnis, zum gran-
diosen Erkenntnishymnus. Das Erkennen, das die Aufien-
welt wiedergibt, geniigt nicht: es mufi diese Erkenntnis in
sich fruchtbar sich steigern; Selbstbetrachtung ist innere
Armut. Erzeugnis eines neuen Innem, das alles iiber-
strahlt, was der Mensch in sich schon ist, ersteht in Nietz-
sches Seele: im Menschen wird das Noch-nicht-Daseiende,
der Ubermensch, als der Sinn des Daseins, geboren. Er-
kenntnis wachst iiber das hinaus, was sie war; sie wird zur
schaffenden Macht. Und indem der Mensch scbafft, stellt
er sich in den Sinn des Lebens hinein. In lyrischen Schwung
kleidet sich bei Nietzsche in seinem «2arathustra» (1884)
das, was seine Seele erfuhlt, erlebt in der Schaffens-
seligkeit des «t)bermenschen» aus dem Menschen heraus. -
Soldi sich schafFend fuhlende Erkenntnis empflndet im Ich
des Menschen mehr, als was sich im Einzel-Lebenslaufe
ausleben lafk; was da in diesem Einzelleben vorhanden
ist, kann sich in diesem nicht erschopfen. Es wird immer
wiederkehren zu neuem Leben. So drangte sich bei Nietz-
sche zur Idee des Obermenschen diejenige der «ewigen
Wiederkehr» der Menschenseele hinzu.
Rolphs Idee von der «Lebensmehrung» wachst sich bei
Nietzsche zu der Vorstellung des «Willens zur Macht»
aus, den er allem Sein und Leben in Tier- und Mensdien-
welt zuschreibt. Dieser sieht im Leben «Aneignung, Ver-
letzung, Oberwaltigung des Fremden und Schwacheren,
Unterdruckung, Harte, Aufzwangung eigener Formen,
Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung».
In «Also sprach 2arathustra» hat Nietzsche dem Glauben
an die Wirklichkeit, an die Entwickelung des Menschen
zum « Obermenschen » ein «Hohes Lied» gesungen; in dem
unvollendet gebliebenen Werke «Der Wille zur Macht
(Umwertung aller Werte)» wollte er die Umpragung aller
Vorstellungen von dem Gesichtspunkte aus vollziehen,
daft kein anderer Wille im Menschen die hochste Herr-
schaft habe als allein derjenige zur «Macht».
Das Erkenntnisstreben wird bei Nietzsche zu einem Da-
seinswesen, das sich in der Menschenseele belebt. Indem
Nietzsche diese Belebung in sich erfuhlt, stellt sich ihm
das Leben iiber die nicht zum Leben sich befeuernde Er-
kenntnis und Wahrheit. Das hat bei ihm zu einer Ab-
sage an alle Wahrheit gefuhrt und zum Ersatz des Wil-
lens zur Wahrheit durch den «Willen zur Macht», der
nicht mehr fragt: 1st eine Erkenntnis wahr, sondern: 1st
sie lebenerhaltend, lebenfordernd? «Bei allem Philoso-
phieren handelte es sich bisher gar nicht urn ,Wahrheit',
sondern um etwas anderes, sagen wir um Gesundheit, Zu-
kunft, Wachstum, Macht, Leben ...» Eigentlich strebte
der Mensch immer nadi Madit; nur gab er sich der Illusion
hin, dafi er «Wahrheit» wolle. Er verwechselte das Mittel
mit dem Zweck. Die Wahrheit ist nur Mittel zum Zweck
«Macht». «Die Falschheit eines Urteils ist noch kern Ein-
wand gegen das Urteil.» Es kommt nicht darauf an, ob
ein Urteil wahr ist, sondern «wie wek es lebenfordernd,
lebenerhaltend, arterhaltend, vielleicht gar artziich tend » ist.
«Das meiste bewulke Denken eines Philosophen ist durch
seine Instinkte heimlich gef iihrt und in bestimmte Bahnen ge-
zwungen.» Nietzsdies Weltanschauung ist personlicheEmp-
findungals individuelles Erlebnis und Schicksal. Bei Goethe
trat der tiefe Impuls des neueren Weltanschauungslebens
hervor; er fiihlte im selbstbewufken Ich die Idee sich so
beleben, dafi mit der belebten Idee dieses Ich sich im In-
nern des Weltendaseins wissen kann; bei Nietzsche ist der
Trieb vorhanden, den Menschen iiber sich hinausleben zu
lassen; er fuhlt, daft dann im innerlich Selbsterzeugten der
Sinn des Lebens sich enthiillen mufi. Doch er dringt nicht
wesenhaft vor zu dem, was sich im Menschen iiber den
Menschen hinaus als Sinn des Lebens erzeugt. Er besingt
in grandioser Weise den Ubermenschen, doch er gestaltet
ihn nicht; er fuhlt sein webendes Dasein, doch er scbaut
ihn nicht. Er spricht von einer «ewigen Wiederkehr», doch
er schildert nicht, was wiederkehrt. Er spricht von Lebens-
erhohung durch den Willen zur Macht, doch die Gestalt
des erhohten Lebens -: wo ist deren Schilderung? Nietz-
sche spricht von etwas, das im Unbekannten da sein mufi,
doch bleibt es bei der Hindeutung auf das Unbekannte.
Die im selbstbewufiten Ich entfalteten Krafte reichen
auch bei Nietzsche nicht aus, urn anschaulich zu schaffen,
wovon er weifi, dafi es webt und weht in der Menschen-
natur.
Ein Gegenbild hat Nietzsches Weltauffassung in der
materialistischen Geschichtsauffassung und Lebensanschau-
ung, die ihren pragnantesten Ausdruck durch Karl Marx
(1818 — 1883) gefunden hat. Marx hat der Idee jeden An-
teil an der geschichtlichen Entwickelung abgesprochen.
Was dieser Entwickelung wirklich zugrunde liegen soli,
sind die realen Faktoren des Lebens, aus denen die Mei-
nungen iiber die Welt entstanden sind, welche sich die
Menschen haben bilden konnen, je nachdem sie in ihre
besonderen Lebenslagen gebracht worden sind. Der phy~
sisch Arbeitende, von einem andern beherrscht, hat eine
andere WeltaufTassung als der geistig Arbeitende. Ein
Zeitalter, das eine alte Wirtschaftsform durch eine andere
ersetzt, bringt auch andere Lebensanschauungen an die
Oberflache der Geschichte. Will man irgendein Zeitalter
verstehen, so raufi man zur Erklarung seine sozialen Ver-
haltnisse, seine wirtschaftlichen Vorkommnisse heranzie-
hen. Alle politischen und geistigen Stromungen sind nur
ein an der Oberflache sich abspielendes Spiegelbild dieser
Vorkommnisse. Sie stellen sich ihrem Wesen nach als ideale
Folgen der realen Tatsachen dar; an diesen Tatsachen
selbst haben sie keinen Anteil. Es kann somit auch keine
durch ideale Faktoren zustande gekommene Weltanschau-
ung Anteil haben an der Fortentwickelung der gegenwar-
tigen Lebensfuhrung; sondern es ist die Aufgabe, die realen
Konflikte da aufzunehmen, wo sie heute angelangt sind
und sie in gleichem Sinne fortzufuhren. Diese Anschauung
ist durch eine materialistische Umdeutung des Hegelianis-
mus entstanden. Bei Hegel ist die Idee in ewiger Fortent-
wickelung, und die Folgen dieser Fortentwickelung sind
die tatsachlichen Vorkommnisse des Lebens. - Was August
Comte aus naturwissenschaftlichen Vorstellungen heraus
gestaltet, eine Gesellschaftsauffassung auf der Grundlage
der tatsachlichen Vorkommnisse des Lebens, dazu will
Karl Marx durch die unmittelbare Ansdiauung der wirt-
schaftlidien Entwickelung gelangen. Der Marxismus ist
die kuhnste Ausgestaltung einer Geistesstromung, die in
der Beobaditung der aufieren, der unmittelbaren Wahr-
nehmung zuganglichen geschichtlidien Erscheinungen den
Ausgangspunkt nimmt, um das geistige Leben, die ganze
Kulturentwickelung des Menschen zu verstehen. Es ist dies
die moderne «Soziologie». Sie nimmt den Menschen nach
keiner Richtung hin als Einzelwesen, sondern als ein Glied
der sozialen Entwickelung. Wie der Mensch vorstellt, er-
kennt, handelt, fiihlt: das alles wird als ein Ergebnis so-
zialer Machte aufgefafit, unter deren Einflufi der einzelne
steht. Hippolyte Taine (1828 — 1893) nennt die Gesamt-
heit der Machte, die jedes Kulturvorkommnis bestimmen,
das «Milieu». Jedes Kunstwerk, jede Einrichtung, jede
Handlung ist aus den vorhergehenden und gleichzeitigen
Umstanden zu erklaren. Kennt man Rasse, Milieu und
Moment, aus denen und in dem ein menschliches Werk
entsteht, so hat man es erklart. Ferdinand Lassalle (1825
bis 1864) hat in seinem «System der erworbenen Rechte»
gezeigt, wie Rechtseinrichtungen: Eigentum, Vertrag, Fa-
milie, Erbrecht usw. aus den Vorstellungskreisen eines
Volkes entstehen und sich entwickeln. Die Vorstellungsart
des Romers hat eine andere Art von Rechten geschaffen als
die des Deutschen. Es wird bei alien diesen Gedankenkrei-
sen nicht die Frage aufgeworfen: Was entsteht im einzel-
nen menschlichen Individuum, was vollbringt dieses aus
seiner ureigensten Natur heraus? sondern die: Welche Ur-
sachen liegen in den geselligen sozialen Verbanden fur den
Leb